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Das späte Recht auf einen fairen Prozess in der Schweiz

Im 20. Jahrhundert wird die Schweiz vom europäischen Menschenrechtsgerichthof am häufigsten verurteilt, weil sie kein faires Verfahren zugelassen hat. So auch im Falle von Marlène Belilos, hier mit ih ...
Im 20. Jahrhundert wird die Schweiz vom europäischen Menschenrechtsgerichthof am häufigsten verurteilt, weil sie kein faires Verfahren zugelassen hat. So auch im Falle von Marlène Belilos, hier mit ihrem Anwalt vor dem Bundesgericht in Lausanne am 27.4.1988Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Das späte Recht auf einen fairen Prozess in der Schweiz

Welche Rechte hat jemand bei einem Gerichtsverfahren? Eine einheitliche Regelung, wie Prozesse geführt werden, gibt es in der Schweiz erst seit 2011. Zuvor war es das Bundesgericht, das Verfahrensrechte aus der Verfassung ableitete und einklagbar machte.
23.04.2023, 14:37
Numa Graa / Schweizerisches Nationalmuseum
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Das heutige Grundgesetz der Schweiz enthält nebst den Grundrechten des Einzelnen zahlreiche Verfahrensgarantien, namentlich bei gerichtlichen Verfahren. Die meisten dieser Rechte waren vor 1999 nicht ausdrücklich in der Schweizer Verfassung verankert. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie von den Gerichten zuvor nicht bereits einbezogen worden wären.

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Die Bundesverfassung von 1848 erwähnte kaum Verfahrensgarantien und Grundrechte. So war beispielsweise vorgesehen, dass gewisse Strafsachen – zu denen insbesondere die politischen Vergehen gehörten – vom Bundesgericht mit Geschworenen zu beurteilen waren. Die inzwischen abgeschafften Geschworenengerichte wurden damals als Garantie einer guten Rechtspflege angesehen, da sie letztlich von den Bürgern kontrolliert wurden, wie dies seit Langem in England und seit der Revolution in Frankreich der Fall war.

Die Verfassung garantierte auch allen den Zugang zu den Gerichten ihres Wohnorts. Es ging vor allem darum, ausserordentliche Gerichte zu verbieten. Solche wurden nach den politischen Unruhen der 1840er-Jahre in gewissen Kantonen wie zum Beispiel im Wallis 1844 eingesetzt. Nach der Niederlage der liberalen «Jungen Schweiz» in der Schlacht am Trient schufen die siegreichen Konservativen ein Sondergericht – das Zentralgericht. Dieses urteilte über politische Vergehen und unterdrückte dabei die Opposition.

Als sich im Wallis im Zuge der Freischarenzüge die Liberalen bewaffnet gegen die katholisch-konservative Regierung erheben, kommt es am 25. Mai 1844 am Trientbach zum Massaker. Überlebenden wird vor e ...
Als sich im Wallis im Zuge der Freischarenzüge die Liberalen bewaffnet gegen die katholisch-konservative Regierung erheben, kommt es am 25. Mai 1844 am Trientbach zum Massaker. Überlebenden wird vor einem Sondergericht der Prozess gemacht. Solche von Behörden durchgeführten Gerichtsverfahren verbietet die Verfassung von 1848. Gefecht am Trient, Martin Disteli (zugeschrieben), 1844.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Artikel 4 der Bundesverfassung von 1848 spielte in der Folge eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der Verfahrensgarantien. Ursprünglich sollte dieser vor allem die politische Gleichstellung garantieren, indem er die Einhaltung der Bürgerrechte sicherstellte, die grundsätzlich allen männlichen Bürgern zustanden.

Die Bundesverfassung von 1874 erweiterte die Liste der Verfahrensrechte kaum. Sie machte jedoch das Bundesgericht zu einer ständigen Einrichtung, das die Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger beurteilt, was bis anhin dem Bundesrat und der Bundesversammlung vorbehalten war.

Ab 1877 anerkannte das Bundesgericht beispielsweise die Möglichkeit, Recht einzuklagen, als ein Grundrecht. Es verkündete, dass die Weigerung von Behörden, Bürgern Recht zu verschaffen, gegen das Gleichbehandlungsgebot verstosse. In den darauffolgenden Jahren leitete es aus Artikel 4 auch das Verbot willkürlicher Gerichtsurteile ab. Dementsprechend sollten Entscheide, die einer Verweigerung der Gesetzesanwendung gleichkommen, als Verstoss gegen das Verfassungsrecht aufgefasst werden.

Etwas später leitete das Bundesgericht vom Gleichbehandlungsgebot sogar ab, dass eine mittellose Partei Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat. Es dürfe ihr nicht der Zugang zu einem Gericht oder die Erhebung bestimmter Beweise verweigert werden, weil diese die Kosten nicht selbst tragen kann.

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Nach und nach gestand das Bundesgericht den Parteien – namentlich in einem Zivil- oder Strafverfahren – das Recht zu, vor einem sie betreffenden Entscheid angehört zu werden. Anspruch auf rechtliches Gehör setze voraus, dass Beschuldigte die Verfahrensunterlagen einsehen können, insbesondere diejenigen, aus denen die Identität der befragten Zeugen hervorgeht. Das oberste Gericht wies auch darauf hin, dass ein Beschuldigter nicht verurteilt werden kann, wenn eine beschuldigte Person nicht rechtsgültig zur Hauptverhandlung eingeladen wurde, um sich verteidigen zu können.

Von Entscheid zu Entscheid gestaltete das Bundesgericht so den Anspruch auf rechtliches Gehör aus, wie er nun in der Bundesverfassung von 1999 für jedes Gerichts- oder Verwaltungsverfahren vorgesehen ist. Dieses Recht ermöglicht es heute allen Beteiligten eines Gerichtsverfahrens, sich vor einem Urteil zu äussern, Einsicht in die Akten zu nehmen, relevante Beweise vorzulegen oder eine Begründung für das Urteil zu erhalten.

Das Bundesgericht berichtigt teilweise Mängel in den Urteilen der Kantonsgerichte. Es führt so eine gewisse Einheitlichkeit in den Flickenteppich der schweizerischen Rechtsprechung ein. Bis ins 21. Ja ...
Das Bundesgericht berichtigt teilweise Mängel in den Urteilen der Kantonsgerichte. Es führt so eine gewisse Einheitlichkeit in den Flickenteppich der schweizerischen Rechtsprechung ein. Bis ins 21. Jahrhundert gibt es in der Schweiz keine einheitliche Art, wie Prozesse geführt werden. Das «alte» Bundesgerichtshaus in Lausanne, August 1912.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Die Bundesverfassung von 1999 enthält Bestimmungen, die staatliches Handeln in Strafsachen einschränken. Dies ist der Fall in Artikel 31 über den Freiheitsentzug und Artikel 32 über das Strafverfahren, in denen namentlich die Unschuldsvermutung verankert ist. Dieser Grundsatz fand seit Ende des 18. Jahrhunderts Eingang ins moderne Verfassungsrecht, unter anderem in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789.

In der Schweiz liess sich der deutsche Liberale Ludwig Snell vom französischen Revolutionsrecht inspirieren. Er nahm die Unschuldsvermutung in seinen 1831 veröffentlichten Verfassungsentwurf auf. Einige Kantone, wie Bern und Basel-Stadt, hatten diese zu Beginn der 1830er-Jahre in ihrer Verfassung verankert. Der Grundsatz fand hingegen keinen Eingang in die Bundesverfassungen von 1848 und 1874.

Erst Ende des 20. Jahrhunderts wies das Bundesgericht darauf hin, dass Zweifel dem Angeklagten zugutekommen müssen – in dubio pro reo. Damals war dieser Grundsatz aber ohnehin bereits in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und im UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthalten, denen die Schweiz 1974 beziehungsweise 1992 beigetreten war.

Der deutsche Liberale Ludwig Snell kommt als politischer Flüchtling in die Schweiz. Er bringt damals den Grundsatz auf, dass eine angeklagte Person als unschuldig gilt, bis sie verurteilt ist. In der  ...
Der deutsche Liberale Ludwig Snell kommt als politischer Flüchtling in die Schweiz. Er bringt damals den Grundsatz auf, dass eine angeklagte Person als unschuldig gilt, bis sie verurteilt ist. In der Bundesverfassung von 1848 fehlt die Unschuldsvermutung.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

So brachte das Bundesgericht vor allem seit 1974 die Grundsätze der EMRK mit den Garantien in Einklang, die es von der Bundesverfassung abgeleitet hatte. Ab 1978 gab es dann zu verstehen, die Garantien der EMRK bezüglich des Rechts auf ein faires Verfahren würden beim Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht über seine eigene Rechtsprechung hinausgehen. So anerkannte das oberste Schweizer Gericht erstmals, dass Beschuldigte zumindest einmal während des Verfahrens die Möglichkeit haben müssten, sie belastende Zeugen befragen zu können.

Wie man sieht, gestanden die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 den Einzelnen nur sehr bescheidene Verfahrensgarantien zu. Ihre Ausweitung war das Ergebnis einer immer extensiveren Rechtsprechung des Bundesgerichts. Ab den 1970er-Jahren veranlasste das Völkervertragsrecht ausserdem das oberste Gericht der Schweiz zum Ausbau dieser Rechte. Schliesslich wurden sie zu einem grossen Teil in der Bundesverfassung von 1999 kodifiziert.

«Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwal­tungs­in­stan­zen Anspruch auf gleiche und gerechte Behand­lung sowie auf Beurtei­lung innert angemes­se­ner Frist.»
Bundesverfassung von 1999, Artikel 29, Absatz 1
Zum Geburts­tag viel Recht. 175 Jahre Bundesverfassung
17.03.2023 – 16.07.2023
Landesmuseum Zürich
Seit 175 Jahren hat die Schweiz ohne Unterbruch eine demokratische Verfassung. Das dem Bundesstaat zugrunde liegende Rechtsdokument beeinflusst das tägliche Leben direkt und indirekt. Und weil sich der Alltag seit 1848 laufend verändert, wird auch die Bundesverfassung der jeweiligen Zeit angepasst. Zum 175. Geburtstag blättert das Landesmuseum Zürich in der Geschichte der Schweizerischen Bundesverfassung und schaut dabei vor allem auf die Grundrechte. Die Besuchenden bewegen sich spielerisch im Spannungsfeld zwischen politischen Rechten, Pflichten und der persönlichen Freiheit.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Das späte Recht auf einen fairen Prozess in der Schweiz» erschien am 20. April.
blog.nationalmuseum.ch/2023/04/das-spaete-recht-auf-einen-fairen-prozess-in-der-schweiz

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Fünf Pannen und Fehlentscheide in Justiz und Vollzug der letzten fünf Jahre
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Fünf Pannen und Fehlentscheide in Justiz und Vollzug der letzten fünf Jahre
1. Am 25. August 2008 wird Daniel H. aus einer Massnahme für junge Erwachsene im Baselbieter Arxhof entlassen. H. musste sich lediglich einer ambulanten Therapie unterziehen und sich regelmässig bei seiner Bewährungshelferin melden. Den Hauptrisikofaktor für einen Rückfall orteten Vollzugsbehörde und Bewährungshilfe in H.s Suchtverhalten. Anderer Risikofaktoren, wie Sexualpräferenzen und psychischer Störung, war sich niemand bewusst. Am 4. März 2009 tötete Daniel H. das Au-Pair Lucie Trezzigni in seiner Wohnung in Rieden bei Baden. Der Untersuchungsbericht zeigte, dass die in einem Verein organisierte Bewährungshilfe nicht mit den nötigen Informationen versorgt worden war. (KEYSTONE/Illustration Linda Graedel) ... Mehr lesen
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4 Kommentare
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Neruda
23.04.2023 17:29registriert September 2016
Was viel zu wenig bekannt ist in der Schweiz ist, wie wichtig der EGMR für essentielle Rechte war, die wir heute geniessen. Ja, auch unsere direkte Demokratie musste dazu gezwungen werden, dass bei einer Festnahme innert 48h über deren Rechtmässigkeit bestimmt. Gegen polizeiliche Willkür konnte man sich vorher nicht wehren.
Oder die Polizei vergab Bussen wegen angeblicher Teilnahme einer Demo, gegen die man sich nicht wehren konnte, da es keine Rekursmöglichkeit gab (Belilos contre Suisse).

https://www.woz.ch/1734/huber-contre-suisse/die-wollten-mich-regelrecht-zu-einer-falschaussage-zwingen
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