Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert war das Mittelmeer ein Gewässer voller Unwägbarkeiten. Neben Stürmen, Krankheiten oder Mangelernährung begleitete Schiffsreisende eine weitere Gefahr: Nordafrikanische Piraten machten im grossen Stil Jagd auf Menschen. Sie kaperten christliche Schiffe, versklavten ihre menschliche Beute und forderten aus deren Heimatländern horrende Lösegelder. Mit diesem Geschäftsmodell bestritten sie einen beträchtlichen Teil der Staatseinnahmen.
Auf der anderen Seite des Mittelmeers ging es nicht friedlicher zu. Auch für christliche Kaperfahrer war das Geschäft mit der Ware Mensch verlockend. Es bildeten sich spezialisierte katholische Orden wie jener der Malteser heraus, der muslimische Schiffe überfiel.
Wie die Bewohner Nordafrikas mit der latenten Bedrohung umgingen, ist aufgrund fehlender Quellen nicht überliefert. Im christlichen Europa jedenfalls war sie ein Dauerthema. Die Gefahr, von muslimischen Korsaren aus Tunis oder Algier aufgegriffen zu werden, trieb die Zeitgenossen stark um – lange Zeit viel stärker als die deutlich verheerenderen Folgen der gleichzeitig dominierenden transatlantischen Sklaverei, der 12 Millionen schwarze Menschen aus Afrika zum Opfer fielen. Im Schatten dieses sogenannten Dreieckshandels verschleppten nordafrikanische Piraten bis Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere hunderttausend europäische Christen. Darunter rund 60 Männer und Frauen aus der Eidgenossenschaft.
Ihre Schicksale blieben bisher weitgehend unbeachtet. Dies ist erstaunlich, haben doch einige dieser Sklaven spektakuläre autobiografische Schriften hinterlassen.
Einer davon war der Appenzell-Ausserrhoder Johannes Rohner (1777-1855). Im Frühjahr 1796 liess sich der zierliche blonde Mann – er war nur 1,57 Meter gross – als Söldner für den König von Neapel anwerben. Eine Entscheidung, die er bald darauf bereute. Auf dem Weg nach Neapel kaperten am 24. Dezember tunesische Piraten das Schiff. Da Kapitän und Matrosen das sich nähernde Unheil gesehen und sich vorzeitig abgesetzt hatten, waren die jungen Männer für die Piraten leichte Beute. Rohner erinnerte sich: «Nur so viel wurde uns gelassen, dass wir unsere Blösse einigermassen bedecken konnten. Alle Tage und Stunden erwarteten wir den Tod.» Fünf Tage später erreichten sie Tunis, wo der dortige Herrscher Johannes Rohner zu seinem Haussklaven machte und ihn zehn Jahre lang gefangen hielt.
Kurz nach seiner Rückkehr im Winter 1806 beschrieb Johannes Rohner im «Appenzeller Kalender», dem damals einflussreichsten Medium im Kanton, seine Lebensgeschichte. Es folgten zwei Auflagen eines Buches (1825 und 1838), in dem er noch ausführlicher über seine Verzweiflung, die angeblich erbärmlichen Lebensumstände sowie seinen Alltag im muslimischen Tunis berichtete.
Solche Texte waren beim Publikum äusserst gefragt. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts avancierten autobiografische Berichte christlicher Sklaven zu einem eigenen Genre, das den frühen Roman massgeblich beeinflusste. So verarbeitete beispielsweise Miguel de Cervantes in «Don Quijote» (1605) seine eigene Erfahrung als Sklave in Algier. Auch Daniel Defoe liess sich für seinen Erfolgsroman Robinson Crusoe (1719) von der Lebensgeschichte eines britischen Sklaven inspirieren.
Neben Johannes Rohner haben mindestens drei weitere Eidgenossen Sklavenberichte verfasst. Zwei davon sollen hier näher betrachtet werden.
Der Solothurner Johann Viktor Lorenz Arregger von Wildensteg (1699- 1770) stand als Offizier in spanischen Diensten und war unter französischer Flagge unterwegs nach Alicante, als er 1732 von einem Korsarenschiff bei Tarragona eskortiert und nach Algier verschleppt wurde. Er sandte unzählige Briefe in die Heimat und bat um Hilfe. Da eine Lösung auf diplomatischem Weg versperrt blieb, ging Arregger dazu über, das Lösegeld selbst aufzutreiben.
Aus der Heimat Solothurn erhielt er ein Darlehen von 400 Louis d'Or, das an das Handelshaus Zollikofer in Marseille übermittelt wurde – bloss ging der Betrag dort verloren, weil das Handelshaus kurz darauf Konkurs anmelden musste. Dennoch konnten französische Diplomaten, Arreggers Familie und die Frau eines Basler Bankiers den Sklaven im Januar 1738 loskaufen. Der Rat und der Schultheiss von Solothurn sorgten für die finanzielle Absicherung. Johann Viktor Lorenz Arregger verfasste drei Jahre nach seiner Rückkehr eine «rélation» über seine Erlebnisse, die 1874 durch den solothurnischen Historiker Joseph Amiet eine ausführliche Würdigung erfuhr, heute aber kaum bekannt ist.
Mit ihren Berichten verfolgten die zurückgekehrten Sklaven eine Mission in eigener Sache: Sie mussten in der Heimat erklären, dass sie dem Glauben treu geblieben waren und die Spenden sich gelohnt hatten. Selbstredend stellten sie sich selbst in das bestmögliche Licht. Die Sklavenhalter indes beschrieben sie als grausame muslimische Herren, die vor Folter und unmenschlicher Behandlung nicht zurückschreckten. Als ebenso rückständig schilderten sie die Kultur Nordafrikas. Ziel war es, den Glaubensfeind als unzivilisiert herabzusetzen.
Die Zweifel an der Glaubenstreue der Rückkehrer waren nicht unbegründet – denn oftmals war der Alltag der christlichen Sklaven nicht so hart, wie diese es in ihren Schriften darstellten. In Nordafrika verfügten sie nämlich über weitreichende Handlungsspielräume, oft auch ohne ihren Glauben abzulegen. Wer den zusätzlichen Schritt wagte und konvertierte, konnte gar einen glanzvollen Aufstieg hinlegen und von zusätzlichen Annehmlichkeiten wie Karriere, Reichtum oder Heirat profitieren. Ein eindrückliches Beispiel dafür war der Norddeutsche Hark Olufs, der in Algier nicht nur als Schatzmeister und Oberbefehlshaber der Kavallerie diente, sondern auch nach Mekka pilgerte. Hier zeigte sich ein grundsätzlicher Unterschied zur transatlantischen Sklaverei: Für schwarze Sklaven in Amerika waren solche Aufstiegschancen sowie ein Loskauf durch ihre Regierungen unerreichbar.
Die eigenen Erlebnisse niederzuschreiben, diente nicht nur dazu, in der Heimat wieder den Anschluss zu finden. Es ging auch um Profaneres, wie das Beispiel des gebürtigen Herisauers Johann Conrad Knellwolf zeigt. Er wolle nicht nur Gott und seinen Erlösern danken, sondern «zugleich eine kleine Summe Geldes erwerben, um in meinem Vaterlande etwas anfangen zu können», gab er in seinem 1774 erschienenen Lebensbericht mit dem Titel «Mein Schicksal» unumwunden zu.
Um seiner Schrift zu Reichweite zu verhelfen, legte er eine Erzählung vor, die maximal spektakulär ausfiel – und deshalb an vielen Stellen stark übertrieben ist. So behauptete Knellwolf, der 1764 nach Algier verschleppt worden war, er habe für seinen Herrn «rasende» Tiger und Löwen füttern müssen. Tiere, die bereits fünf Menschen gefressen hätten. «Ein Löwe zerschlug mir mit der Tatze das rechte Knie, dass ich ein Jahr lang an der Krücke gehen musste», erklärte der Söldner und Tuchhändler. Knellwolf kam nach acht Jahren frei, indem ihn der österreichische Trinitarierorden loskaufte. Danach gelangte er nach Wien, wo er laut eigenen Angaben vom «Kayser und von der Königin von Ungarn mit Musicanten aufs freundlichste und liebreichste» empfangen wurde und sogar an der kaiserlichen Tafel speisen durfte.
Wer wie Knellwolf von einem religiösen Orden, durch Spenden oder die Regierung in der Heimat gerettet wurde, hatte Glück. Der Historiker Michael Gabathuler kommt nach der Analyse von 52 Sklavenbiografien aus der Eidgenossenschaft zum Schluss, dass die Obrigkeit in nur 19 Fällen überhaupt konkrete Hilfe leistete. Entscheidend war, wie beim jungen Johannes Rohner, dass die horrenden Lösegelder bezahlt werden konnten.
Der Herrscher von Tunis forderte nämlich 2300 Gulden für den Appenzeller. Ein immenser Betrag, wenn man bedenkt, dass ein Haus damals 800 Gulden kostete. So blieben zwei Spendensammlungen im Kanton erfolglos. Eine Wende brachte erst ein Bruder Napoleons, Joseph Bonaparte. Als er im März 1806 den Thron Neapels bestieg, setzte er sich für die gefangenen Söldner ein und gab den Befehl, sie freizukaufen. Als Johannes Rohner nach über zehn Jahren in die Heimat zurückkehrte, liess er sich als Erstes konfirmieren. Damit legte er zusammen mit seinen späteren Schriften den Grundstein für den Neuanfang in der Heimat. Dass er dafür von den Behörden eine Starthilfe von 200 Gulden erhielt, erwähnte er in seinen Schriften nicht. Es hätte – wie vieles andere, das er aussparte – an seiner Version der Geschichte gekratzt.
An diesem Bemühen würde ich bei meinem Studium des Themas nicht mehr festhalten, wie ich es früher tat.
Aber immerhin wird auch dieses Thema mal zwischendurch beleuchtet, weil die aktuelle öffentliche Thematisierung zu Sklaverei völlig unausgewogen geschieht.