Am internationalen Philosophiekongress in Genf trat am 7. September 1904 zum ersten Mal eine wissenschaftlich adäquat ausgebildete Frau als Rednerin auf. Es war die 29-jährige Anna Tumarkin, Dozentin an der Universität Bern. Selbstbewusst hatte sie sich vorgängig beim Generalsekretär des Kongresses gemeldet und ihren Vortrag «Das Spiel der Kräfte in Kants Urtheilskraft» angekündigt.
Am hochkarätig besetzten Kongress sprachen namhafte Philosophen aus Europa, den USA und Russland. Die Kongressteilnehmenden beschworen in Genf eine confraternité intellectuelle. Beherrschendes Thema war die «überragende Grösse Kants». Die Zusammenkunft wurde mit Festen, Ausflügen und Gedenkveranstaltungen bereichert. Unter den Zuhörenden befanden sich auffällig viele Frauen, insbesondere Mitglieder der jungen Union des femmes de Genève, die das Rückgrat der frühen Genfer und Schweizer Frauenbewegung bildeten. Unter den Vortragenden war Tumarkin jedoch die einzige echte Philosophin, die eine Rede hielt. Neben ihr hielt nur noch eine Literarin einen Vortrag.
Henri Fazy, freisinniger Genfer National- und Regierungsrat, bedauerte dies im Namen des Magistrats in seiner Kongressrede. Er hätte, meinte Fazy galant, gerne «une section féminine» gesehen. Anna Tumarkins mutiger Auftritt war daher ein wichtiger Schritt, um Frauen den Weg in die akademische Öffentlichkeit zu ebnen.
Wer war diese mutige Rednerin, die den Frauen mit ihrem Auftritt in Genf einen symbolischen Weg in die akademische Öffentlichkeit ebnete?
Anna Tumarkin wurde 1875 im damaligen russischen Zarenreich geboren. Als Frau, Jüdin und Russin war ihr kein leichter Lebensweg vorbestimmt. Bereits früh entschlossen, ihr Leben der Philosophie und der Wissenschaft zu widmen, stiess sie auf hohe gesellschaftliche Hürden. Da europäische Hochschulen und amerikanische Eliteuniversitäten Frauen damals nicht oder nur selten aufnahmen, sah sich Tumarkin bereits im Alter von 17 Jahren gezwungen, ihre Heimatstadt Chisinau im heutigen Moldawien zu verlassen, um in der Schweiz studieren zu können. Das war dort ab den 1860er-Jahren unter bestimmten Bedingungen möglich, da die Schweiz im europäischen Vergleich eine progressive Haltung zur Frauenbildung hatte.
Die Universität Bern spielte dabei eine Vorreiterrolle: Bereits seit den 1870er-Jahren öffnete sie ihre Hörsäle für Studentinnen und ermöglichte Frauen eine reguläre Einschreibung. In Bern absolvierte Anna Tumarkin ihr Studium der Philosophie und erklomm die steile und mühsame akademische Karriereleiter. Schrittweise setzte sie sich als Wissenschaftlerin durch und wurde schliesslich 1909 zur ersten vollberechtigten Professorin Europas, die ihre Professur auf dem üblichen akademischen Weg erlangte. Tumarkin durfte nicht nur lehren, sondern auch Doktorierende und Habilitierende prüfen sowie in der Fakultät und im Senat über alle akademischen Angelegenheiten der Universität mitentscheiden – ein bis dahin unvorstellbarer Durchbruch.
Während ihrer 45-jährigen Tätigkeit an der Universität Bern von 1898 bis 1943 wirkte sie als geschätzte Dozentin und später ausserordentliche Professorin der Philosophie. Ihr Schwerpunkt lag besonders auf der Ästhetik und der Erkenntnistheorie. In ihrem akademischen Wirken führte sie acht Studenten und fünf Studentinnen zum Doktortitel und begleitete zahlreiche weitere philosophische Arbeiten.
Neben ihrer Passion für die Philosophie setzte sich Anna Tumarkin gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin Ida Hoff für das Frauenstimmrecht in der Schweiz ein. Sie, die 1921 eingebürgert worden war, beteiligte sich mit Vorträgen und Publikationen auch aktiv an der geistigen Landesverteidigung. Dabei vertrat sie stets eine Philosophie, die sich deutlich von totalitären Ideologien unterschied und die Eigenständigkeit sowie Sachlichkeit schweizerischen Denkens betonte.
Tumarkins akademische Bedeutung zeigte sich nicht nur in ihrer Tätigkeit an der Universität Bern, sondern auch darin, dass sie als Rednerin an weiteren internationalen Philosophiekongressen (unter anderem 1908 und 1937) teilnahm. Trotz aller Widrigkeiten, denen sie als Frau, Migrantin und Akademikerin begegnete, hinterliess sie ein philosophisches Werk, das insbesondere durch ihre Analyse einer spezifisch schweizerischen Philosophie bis heute nachwirkt.