Alle wissen: Der Genitiv ist vom Aussterben bedroht, falls er nicht schon längst tot ist. Stimmt aber nicht: Dieser Kasus, dessen Hauptfunktion in der Zurschaustellung einer elitären Sprachfertigkeit liegt, ist quicklebendig. Vom Akkusativ hingegen redet niemand. Der 4. Fall oder Wen-Fall, dessen vornehmste Funktion darin liegt, das direkte Objekt eines transitiven Verbs zu markieren, scheint in der deutschen Sprache gesund und munter zu sein; Aufrufe zu dessen Rettung sucht man vergeblich.
In Deutschland mag dieser Befund zutreffen, nicht aber in der Deutschschweiz. Hier sind wir geschlagen gesegnet mit dem sprachlichen Phänomen der Diglossie – wir sprechen Mundart und daneben, je nach Situation, Hochdeutsch. Letzteres mehr schlecht als recht. Und es ist der Dialekt, der einige von uns – ich nenne keine Namen – dazu bringt, den Akkusativ zu misshandeln. Immer und immer wieder.
In den Deutschschweizer Dialekten, mit Ausnahme des Walliserdeutschen, ist der Akkusativ nämlich so gut wie inexistent – er ist nur bei Personalpronomen vorhanden. Die sind generell resistenter gegen Kasusverlust:
In einem solchen Satz kommen wir am Akkusativ nicht einmal vorbei, wenn wir das wollten. Bei Artikeln, Adjektiven und Substantiven hingegen ist er im Dialekt vom Nominativ nicht zu unterscheiden.
Kein Wunder, dass eine gefühlte Mehrheit der Deutschschweizer auch im Hochdeutschen den Unterschied kaum erkennt und fröhlich mal den Akkusativ, mal den Nominativ nimmt. Meistens aber den Nominativ – obwohl es einige wenige gibt, die es sogar fertigbringen, dort einen Akkusativ hinzupflastern, wo ein Nominativ stehen müsste. Etwa so:
Am schlimmsten ergeht es dem armen Akkusativ in Satzkonstruktionen, in denen er am Anfang steht. Dort findet sich im Deutschen sehr oft das Subjekt, und das steht immer im Nominativ. Gnade Gott also jedem Akkusativ-Objekt, das sich dorthin verirrt hat: Es wird, da kann man in der Deutschschweiz Gift drauf nehmen, unweigerlich durch den Nominativ ersetzt. Das sieht dann so aus:
Dass ich angesichts eines solchen Verbrechens in Grammatikform eine Grimasse schneide, als hätte ich in eine rohe Zwiebel gebissen, liegt vielleicht daran, dass ich ein älteres Semester bin und daher Sprachwandel kaum anders als Sprachverfall wahrnehmen kann. Der Untergang des Abendlandes kündigt sich allenthalben an, besonders aber im Niedergang der Sprache!
Nun ist der «Niedergang der Sprache» nichts Neues. Vor Jahrtausenden, als unsere linguistischen Vorfahren, die Sprecher der indogermanischen Ursprache, nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres Pferde züchteten, war der Akkusativ nur einer von insgesamt acht Fällen. Seither hat eine fortlaufende Erosion des Kasussystems stattgefunden, die unter anderem im Englischen, Niederländischen oder den romanischen Sprachen am weitesten fortgeschritten ist, während die baltischen und slawischen Sprachen nach wie vor sechs oder gar sieben Fälle kennen. Deutsch nimmt in dieser Hinsicht eine Mittelstellung ein.
In der deutschen Standardsprache sind die vier Fälle noch stabil, doch in der Umgangssprache und in den Dialekten zeigt sich die über Jahrhunderte andauernde Tendenz zur Kasusreduktion bereits deutlich: Dort ist der Genitiv meist durch Dativ-Konstruktionen verdrängt worden. Im Alemannischen – zu dem das Schweizerdeutsche zählt – und in einigen fränkischen Dialekten sind Nominativ und Akkusativ bereits verschmolzen, im Niederdeutschen hingegen Dativ und Akkusativ, wie dieses kleine Gedicht aus Berlin illustriert:
Irgendwann wird diese Entwicklung wohl auch die hochdeutsche Standardsprache erfassen. Dann wird die verbindliche Grammatik sich an die Gegebenheiten anpassen – wie es etwa im Niederländischen geschehen ist, wo Kasusmarkierungen, die längst nicht mehr in der lebendigen Sprache vorkamen, auch in der offiziellen Rechtschreibung getilgt wurden («op den stoel» – «op de stoel»).
Bis es so weit ist, wird aber noch sehr viel Wasser den Rhein hinunterfliessen. Und bis dahin sollten auch wir Deutschschweizer den guten alten Akkusativ mit gebührendem Respekt behandeln – sogar dann, wenn er am Satzanfang steht. Vielen Dank!
Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!
»Der Werwolf«, – sprach der gute Mann,
»des Weswolfs« – Genitiv sodann,
»dem Wemwolf« – Dativ, wie man's nennt,
»den Wenwolf« – damit hat's ein End'.
Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!
Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb's in großer Schar,
doch „Wer“ gäb's nur im Singular.
Passt nicht alles in 600.
Ist halt schon so: geteiltes Leid ist halbes Leid.
Hilf doch den Jungen in eurem Team ein bisschen.