Gegner toben wegen Röstis Tempo-30-Plänen – das sagt der Demokratieforscher
Das Bestreben von Städten oder Gemeinden, auf einer auf den Motorfahrzeugverkehr ausgerichteten Strasse Tempo 30 einzuführen, wird deutlich erschwert. Verkehrsminister Albert Rösti will, dass die entsprechenden Behörden zuerst in einem Gutachten nachweisen, dass es durch die Änderung nicht zu Ausweichverkehr auf Nebenstrassen kommt.
Möchten Städte oder Gemeinden aufgrund von Lärm Tempo 30 auf einer «verkehrsorientierten» Strasse einführen, müssen sie neu nachweisen, dass ein lärmarmer Strassenbelag das Problem nicht auch beheben könnte. Erst wenn dies belegt ist, darf Tempo 30 vorgeschrieben werden.
Die Wogen gehen hoch, nachdem Verkehrsminister Albert Rösti diese Woche mit seiner verschärften Tempo-30-Verordnung beim Bundesrat durchgekommen ist. Der Ärger beim Verkehrsclub der Schweiz (VCS) ist riesig, auch der Städte- und der Gemeindeverband sind wütend.
Daniel Kübler ist Professor für Demokratieforschung und Public Governance an der Universität Zürich und schätzt das Vorgehen von Albert Rösti ein.
Albert Rösti wählt wie schon bei der Wolfsregulierung und bei der Senkung der Serafe-Gebühren auch bei Tempo 30 das Instrument der Verordnung. Verstehen Sie den Ärger der Gegner?
Daniel Kübler: Nur bedingt. Verordnungen müssen sich auf Gesetzesgrundlagen stützen, sie sind Ausführungen von Verfassungs- oder Gesetzesnormen und müssen mit ihnen im Einklang stehen. Es ist so, dass eine Verordnung nicht dem Referendum unterstellt ist, man kann aber im Einzelfall gegen sie klagen. Dann überprüft ein Gericht die Verordnung auf ihre Gesetzmässigkeit und hebt sie gegebenenfalls auf (Anmerkung der Redaktion: mehr zur Rechtslage am Ende des Artikels).
Die Verordnung des Bundesrates basiert doch auf der Motion Schilliger. Reicht das nicht?
Nein. Eine Motion ist lediglich ein Auftrag des Parlamentes an den Bundesrat. Sie ist aber kein Gesetz. Auf kantonaler Ebene kommt es regelmässig vor, dass Gerichte Verordnungen der Regierung aufheben. Der Weg einer Klage ist manchmal sogar effizienter, als wenn ein Referendum gegen ein Gesetz ergriffen werden muss.
Sie sprechen bei der Handhabung von Tempolimiten auf Stadt- und Gemeindegebiet von einem Konflikt der Zuständigkeiten. Können Sie das ausführen?
Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass einzelne Schweizer Städte ihre Kompetenzen hinsichtlich Temporegulierung ziemlich umfangreich interpretierten, als sie auf Strassen von übergeordneter Bedeutung Tempo 30 einführten. Gleichzeitig möchte der Bundesrat den tieferen föderalen Ebenen nun bis zu einem gewissen Grad vorschreiben, wann sie Tempo 30 einführen dürfen und wann nicht. Es wäre nach der Vernehmlassung, die bis Anfang Dezember läuft, der naheliegendste Weg, juristisch abzuklären, ob eine der beiden Seiten hier ihre Kompetenzen überschreitet. Ist das der Fall, müsste auf politischem Weg ein Gesetz lanciert werden, das die Handhabung regelt.
Der Verkehrsclub der Schweiz (VCS) bezeichnet das Vorgehen von Albert Rösti als undemokratisch. Er wolle sein Anliegen mit einer Verordnung an der Stimmbevölkerung vorbeischleusen.
Wenn es ein Gesetz gibt und die Verordnung mit diesem Gesetz in Einklang steht, sehe ich nicht, was am Vorgehen von Bundesrat Rösti undemokratisch sein sollte.
Und trotzdem: Rösti hätte die Tempo-30-Regulierung auch auf Gesetzesstufe verankern können. Im Falle eines gewonnenen Referendums stünde sein Plan auf einem stabileren Fundament.
Das stimmt. Dagegen sprechen aber zwei Gründe. Erstens dauert ein Gesetz viel länger, im Durchschnitt rund viereinhalb Jahre – also länger als eine Legislaturperiode. Und zweitens ist das Referendumsrisiko natürlich gross. Wird ein fakultatives Referendum ergriffen, lehnt das Stimmvolk ein Gesetz in zwei Dritteln der Fälle ab. Ich glaube, der Bundesrat möchte hier Tempo vorlegen.
Sie sagen, dass einzelne Schweizer Städte ihre Tempo-30-Kompetenzen umfangreich interpretierten. Ist das nicht verständlich, liegen die Ortskenntnisse doch bei den Städten?
Die Ortskenntnisse sind das eine. Das andere ist das Interesse des übergeordneten Strassennetzes. Klar hat eine Stadt Ortskenntnisse, sie vertritt aber in erster Linie auch die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung. Die Stadt Zürich führte auf gewissen Strecken Tempo 30 ein, die Gegner argumentierten, es handle sich um Durchgangsstrassen, eine Verlangsamung auf 30 km/h mache keinen Sinn. Die Zürcher sehen sich oft als Nabel der Welt, sie müssen sich aber damit abfinden, dass sie Teil eines grösseren Ganzen sind. Durchgangsstrassen haben die Rolle, den Durchgangsverkehr zu bewältigen. Ich bin weder für die eine noch für die andere Seite. Man kann in der Tempo-30-Thematik beide Ansichten verstehen.
Interessant ist, dass der Bund den Städten und Gemeinden ein Schlupfloch lässt. Begründen sie eine 30er-Zone künftig nicht mit Lärm, sondern mit der Sicherheit, dem Verkehrsfluss oder der Luftqualität, lässt der Bundesrat eine Temporeduktion zu. CH Media spricht von einer möglichen Alibiübung.
Für mich ist es eher ein Zeichen dafür, dass der Bund den Städten und Gemeinden nicht verunmöglichen möchte, Tempo 30 einzuführen, er möchte aber präzisieren, unter welchen Bedingungen eine Temporeduktion geschieht. Aber insgesamt wird es für die Städte und Gemeinden sicher schwieriger.
Wieso ist die Tempo-30-Debatte ganz grundsätzlich derart aufgeladen? Wenig politische Inhalte sorgen für so starke Emotionen.
Sobald eine Regulierung die Bürgerinnen und Bürger sehr stark trifft, ruft dies eine Reaktion hervor. Die staatliche Regulierung im Bereich von Tempo 30 ist für Individuen rasch spürbar. Hier prallen zwei Lager aufeinander: die Autofahrer, die zügig vorwärtskommen wollen, und die Auto-Gegner, die sich schon immer über den Autoverkehr genervt haben und Temporeduktionen aus diversen Gründen begrüssen. In der Politikwissenschaft spricht man von Intrusion. Je intrusiver, also je eindringlicher eine politische Regulierung ist, desto intensiver die Debatte.
Ein Beispiel: Ein Stadtbewohner, der an einer «verkehrsorientierten» Strasse lebt, auf der wegen der bundesrätlichen Verordnung Tempo 30 nicht eingeführt werden darf, kann vor einer kantonalen Behörde dagegen klagen. Weist die kantonalen Behörde die Klage ab, kann er die Klage zunächst an das kantonale Verwaltungsgericht und in der Folge an das Bundesgericht weiterziehen. Dieses müsste dann feststellen, ob die Verordnung der gesetzlichen Bestimmung, auf der sie beruht, entspricht oder nicht.
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