Im Jahr 1904 engagiert der Herzog von Leuchtenberg, Cousin des Zaren Nikolaus II., einen gerade einmal 25 Jahre alten Waadtländer als Französischlehrer. Pierre Gilliard ist ein gutaussehender junger Mann, elegant, mit spitzem Schnurrbart und Kinnbärtchen im «Musketier-Stil». Da seine Unterrichtsmethoden Früchte tragen, wird er bald dem Zaren empfohlen und soll sich von nun an um dessen zwei ältere Töchter, die Grossfürstinnen Olga (*1895) und Tatjana (*1897), kümmern. Später wird er auch die anderen Zarenkinder unterrichten: Maria (*1899), Anastasia (*1901) und den Zarewitsch Alexei (*1904).
1912 wird er Alexeis Privatlehrer, was ihn in eine hohe Stellung bringt. Von da an gehört Gilliard zu den bestbezahlten Männern in ganz Russland. In einem Brief an seine Mutter schreibt er 1907 – nicht ohne Abscheu –, er sei zu «einer Maschine geworden, die Geld herstellt». Trotzdem war es ihm nicht leichtgefallen, sich in Russland einzuleben, denn Gilliard kommt mitten im Russisch-Japanischen Krieg dort an, erlebt die Niederlage des Russischen Kaiserreichs und die anschliessenden Unruhen mit.
Über das Umfeld, in dem er sich bewegt, und die Charakterzüge und Fähigkeiten seiner Schüler, deren Stärken und Schwächen er einzuschätzen weiss, macht er sich keine Illusionen – er ist kein Monarchist und bleibt ein freiheitlicher «Schweizer Republikaner», den jegliche Speichelleckerei anwidert. Den Zaren hält er für schwach. Mit der Kaiserin versteht er sich hingegen gut.
In Sankt Petersburg, wo er hauptsächlich lebt und arbeitet, geniesst er viele Freiheiten, ihm stehen ein Diener und eine Kutsche zur Verfügung. Ihm unterstellt sind die anderen Lehrer, die die Kinder in Russisch, Deutsch, Geschichte, Geografie, Englisch und Religion unterweisen. Er unterrichtet fünf Tage pro Woche, von 9 bis 19 Uhr, allerdings mit zahlreichen Pausen für Mahlzeiten, Spaziergänge und Spiele. Die Sommer verbringt er auf der Krim oder auf der kaiserlichen Jacht «Standart». Er bemüht sich erfolgreich, die intellektuelle und gesellschaftliche Zwangsjacke zu lösen, die seine Schüler einengt. Mit der Zeit entwickelt sich ein liebevolles Verhältnis, insbesondere zum Zarewitsch, der an der Bluterkrankheit leidet.
Als der Krieg ausbricht, wird Gilliard in der Schweiz eingezogen, setzt aber dank des Einwirkens von Aussenminister Sazonow beim Bundesrat durch, dass er in Russland bleiben darf. Ab 1917 fegt die Revolution über das Land. Der Zar dankt ab. Die Monarchie wird abgeschafft. Die Übergangsregierung ordnet die Verhaftung der Zarenfamilie an. Alle sich im Palast befindenden Personen müssen diesen vor 16 Uhr verlassen, sonst würde man sie ebenfalls als Gefangene betrachten. Gilliard zeigt menschliche Grösse und beschliesst zu bleiben. Seinem Vater schreibt er: «Ich fürchte mich nicht vor dem, was mich erwartet [...]. Ich werde wohl durchhalten müssen, bis zum bitteren Ende ... komme, was wolle. Ich durfte glückliche Tage geniessen, muss ich nun nicht auch die schweren Zeiten mit ihnen teilen?»
Mit der ehemaligen Zarenfamilie durchläuft er alle Stationen dieses Golgotha: die Verbannung in Tobolsk, ein immer strengerer Hausarrest nach der Machtübernahme der Bolschewiki. Im April 1918 wird die Familie getrennt. Gilliard bleibt bei Alexei und drei seiner Schwestern. Auf dem Flussdampfer «Rus» bringt man sie nach Tjumen. Dort teilt man Gilliard mit, er könne gehen, er sei frei.
Er versteckt sich und taucht erst wieder auf, als die promonarchistischen Truppen die Stadt besetzt haben. Da erfährt er, dass sich die Zarenfamilie in Jekaterinburg befindet. Weil die Stadt inzwischen befreit worden ist, begibt er sich dorthin und besucht das Haus, in dem am 17. Juli 1918 das Massaker stattfand. Hier muss er sich mit der brutalen Wirklichkeit abfinden, hatte er doch bis dahin noch glauben wollen, die Kinder seien noch am Leben.
Nach zahlreichen Zwischenfällen gelingt es ihm schliesslich, zusammen mit seiner russischen Freundin Alexandra Tegleva die Schweiz zu erreichen. Diese hat als Kindermädchen der Grossfürstinnen deren Gefangenschaft ebenfalls mitgemacht. Er schreibt: «Ich werde nie verstehen können, welchen Ruhm man den Bolschewiki zuteilwerden liess, dafür dass sie diese Kinder ermordeten, von denen das jüngste nicht einmal 14 Jahre alt war.»
Gilliard hinterlässt einen bedeutenden Erfahrungsbericht und bewegende Fotografien der Zarenfamilie in ihrer Blütezeit und bei ihrem Untergang.