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Captain Henry Wirz – abscheu­li­che Bestie oder Opfer der Siegerjustiz?

Captain Heinrich «Henry» Wirz: Magazin mit Wirz’ Porträt und dem Titel «The Demon of Andersonville» (Ausschnitt).
https://pplspcoll.wordpress.com/2009/11/19/the-demon-of-andersonville/
Magazin mit Wirz’ Porträt und dem Titel «The Demon of Andersonville» (Ausschnitt).Bild: Providence Public Library

Captain Henry Wirz – abscheu­li­che Bestie oder Opfer der Siegerjustiz?

Wie Heinrich «Henry» Wirz (1823–1865), ein in Ungnade gefallener Zürcher, im Amerikanischen Bürgerkrieg die zweifelhafte Rolle als Kommandant eines Gefangenenlagers der Südstaaten übernahm und dafür nach dem Krieg von den Siegern hingerichtet wurde.
11.04.2021, 19:1612.04.2021, 10:26
Jean-Jacques Langendorf / Schweizerisches Landesmuseum
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Es geschah an einem schönen sonnigen Morgen in Washington, D. C.: Am 10. November 1865 um 10:32 Uhr waltete der Henker im Old Capitol Prison, dem Gefängnis im Stadtzentrum, seines Amtes. Er betätigte den Hebel, die Klappe öffnete sich und zwei Meter darunter baumelte – nachdem er sich vier Minuten lang in alle Richtungen gewunden hatte – der Verurteilte Heinrich «Henry» Wirz an einem Strick. Vor den Toren jubelte die Menge.

10. November 1865: Henry Wirz wird in Washington, D. C. in unmittelbarer Nähe zum Kapitol hingerichtet.
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10. November 1865: Henry Wirz wird in Washington, D. C. in unmittelbarer Nähe zum Kapitol hingerichtet.Bild: Library of Congress
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Wer hätte ahnen können, dass dieser in Zürich geborene Mann eines Tages in einem fernen Land aufgeknüpft werden sollte? Der Vater war ein ehrenwerter Schneider und Gildemeister aus einer alteingesessenen Familie. Sohn Heinrich absolvierte eine Kaufmannslehre. Doch es stellte sich heraus, dass er im väterlichen Geschäft Gelder unterschlagen hatte. Man nahm ihn fest und verurteilte ihn zu vier Jahren Haft wegen Veruntreuung. Bald darauf wurde er jedoch wieder freigelassen und für zwölf Jahre aus dem Kanton verbannt.

Er zog in die Vereinigten Staaten und liess seine Ehefrau und zwei Kinder in der Schweiz zurück. Dort arbeitete er mal hier, mal da und liess sich schliesslich in einer Kleinstadt in Kentucky nieder, wo er sich als Arzt ausgab und eine Witwe heiratete, die ihm drei Töchter schenkte. Seine neue Ehefrau hielt bis zum bitteren Ende zu ihm. In der Stadt Natchez lernte er einen Plantagenbesitzer kennen, der ihn sympathisch fand und auf seiner Plantage als Aufseher und Arzt einstellte.

Porträt des Captain Henry Wirz in der Uniform der Konföderierten Armee.
https://en.wikipedia.org/wiki/File:Henry_Wirz_01_11.jpg
Porträt des Captain Henry Wirz in der Uniform der Konföderierten Armee.Bild: Wikimedia

Zu Beginn des Sezessionskrieges im Juni 1861 verpflichtete sich Wirz in einem Infanterieregiment in Louisiana, denn auch wenn er kein Befürworter der Sklaverei war, so sah er sich doch gegenüber den Südstaaten dazu verpflichtet, die ihn aufgenommen hatten. Nach langer Tätigkeit in einem Lager, wo er für die Gefangenen zuständig war, zog er Ende Mai 1862 in die Schlacht von Seven Pines. Dort wurde er schwer am rechten Arm verletzt, den er fortan nicht mehr benutzen konnte.

Diese Verletzung bescherte ihm die Beförderung zum Captain und mehrere Monate Urlaub, die er nutzte, um nach Europa zu reisen, vielleicht sogar betraut mit einer offiziellen Mission. Er soll auch nach Zürich gekommen sein, um seinen Vater wiederzusehen, der ihm vergab, und um seine ehemalige Frau und seine Kinder zu besuchen.

Bei seiner Rückkehr wurde ihm eine fragwürdige Ehre zuteil: Er wurde zum Kommandanten des Gefangenenlagers in Andersonville bei Fort Sumter in Georgia ernannt, das er ab Ende März 1864 bis Kriegsende leiten sollte. Als er seinen Dienst antrat, befanden sich in dem für 10’000 Gefangene ausgelegten Lager bereits über 12’000 Menschen. Am Ende waren es sogar 35’000. Die Sterblichkeit war hoch: Im Jahr, in dem Wirz das Lager führte, starben 12’000 Gefangene.

Wirz klagte, dass es ihm an allem mangelte, zumal die Blockade der Nordstaaten ihre Wirkung zeigte: Es fehlte an Nahrung, Medikamenten, Werkzeugen und Küchenutensilien. Die Hygienebedingungen waren unvorstellbar. Hunger und Krankheit forderten ihren Tribut. Die Gefangenen waren nur noch Haut und Knochen und viele hatten nichts mehr zum Anziehen.

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Das Gefangenenlager der Konföderierten in Andersonville
Fotografie des Lagers von Andersonville, 17. August 1864. (bild: library of congress)
quelle: library of congress
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Zum Ende des Krieges begann Wirz mit der Auflösung des Lagers. Bald erfuhr er vom Attentat auf Präsident Lincoln und wurde verhaftet. Ein Militärgericht wurde einberufen, dessen Vorsitz Generalmajor Wallace, der zukünftige Autor von «Ben Hur», innehaben sollte. Staatsanwalt Chipman, ein 27-jähriger Oberst, wollte sich besonders bewähren und eiferte Kriegsminister Stanton nach. Dieser sah hinter der Ermordung Lincolns eine gigantische Verschwörung, zu deren Räderwerk Wirz gehörte, welcher von oben damit beauftragt worden sei, alle Gefangenen der Union zu liquidieren.

Der Prozess begann am 21. August 1865 im Kapitol. Er galt damals als Sensation. Den kranken Wirz brachte man auf einer Trage ins Gericht. Anfangs vertraten ihn fünf Anwälte, die einer nach dem anderen aufgaben. Am Ende blieb nur noch einer übrig. Die Presse schlachtete den Fall aus, und das Volk forderte die Hinrichtung von Wirz. In der Öffentlichkeit, aber auch unter den Richtern, wurde er als «abscheuliche Bestie» bezeichnet. Die Zeugenaussagen zu den Bedingungen im Gefangenenlager taten ihr Übriges, obgleich mehrere Aussagen gegen Wirz falsch waren und das Gericht sich weigerte, Entlastungszeugen anzuhören. Wirz wurde einstimmig für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Präsident Johnson lehnte seine Begnadigung ab.

Der Prozess von Henry Wirz. Der kranke Angeklagte verfolgt die Verhandlung auf einer Liege.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Harper%27s_weekly_(1865)_(14578833179).jpg
Der Prozess von Henry Wirz. Der kranke Angeklagte verfolgt die Verhandlung auf einer Liege.Bild: Wikimedia

Dem «Fall Wirz» wurden Dutzende Werke gewidmet und bis heute scheiden sich die Geister unter den amerikanischen Historikern. Die Südstaatler ihrerseits wollten in dieser «abscheulichen Bestie» einen Märtyrer sehen und haben ihm sogar ein Denkmal errichtet.

Denkmal für Herny Wirz in Andersonville, Georgia. Erstellt 1888.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Captain_Henry_Wirz_obelisk_(cropped).JPG
Denkmal für Henry Wirz in Andersonville, Georgia. Erstellt 1888.Bild: Wikimedia/Michael Rivera
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Die Geschich­te einer Region oder eines Landes ist die Geschich­te der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persön­lich­kei­ten vor, die den Lauf der Schweizer Geschich­te geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählun­gen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse», heraus­ge­ge­ben 2016 von Frédéric Rossi und Christo­phe Vuilleu­mier im Verlag inFolio.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Abscheu­li­che Bestie oder Opfer der Siegerjustiz?» erschien am 5. April.
blog.nationalmuseum.ch/2021/04/henry-wirz-abscheuliche-bestie-oder-opfer-der-siegerjustiz
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23 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Snowy
11.04.2021 20:05registriert April 2016
Sehr spannend. Danke für den Bericht.

Die Wahrheit in wie fern er wirklich schuldig war (aus damaliger und heutiger Perspektive) werden wir wohl nie mehr erfahren.
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raues Endoplasmatisches Retikulum
11.04.2021 21:29registriert Juli 2017
1)Interessanter Punkt:
Im Sezessionskrieg gab es zuerst ein Austausch-System für POW, wobei ausgetauschte Gefangene von ihrer eigenen Armee wieder eingesperrt wurden, um sie vom Kämpfen abzuhalten.
Die Südstaatler wollten ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Schwarzen mehr Austauschen, deshalb brach das System zusammen und beide Seiten mussten für ihre eigenen Gefangen aufkommen.
Als der Süden das Austausch-System wieder aufnehmen wollte
lehnte der Norden ab, weil "sie es sich leisten können, Männer zu verlieren, der Süden nicht".
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raues Endoplasmatisches Retikulum
11.04.2021 21:31registriert Juli 2017
2) Wegen der schlechten Bedingungen in den Lagern im Süden waren 10% aller fatalities des Krieges in Gefangenschaft.
Allgemein waren die Bedingune in den POW-Gefängissens sehr schlecht, auch im Norden war die Todesrate in gewissen Lagern zwischen 25% und 30% Prozent, in Chigaco starben in einem Wintermonat 10% der Insassen aufgrund der Kälte.
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