Die Rolle der Schweiz in der Gehörlosenbildung
In der Renaissance und im Zeitalter der Aufklärung widerlegten Gelehrte, Philosophen und Ärzte, die lange Zeit vorherrschende Meinung, dass Gehörlose geistesschwach und nicht in der Lage seien, kritisch zu denken und zu lernen, wie man kommuniziert.
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Die Renaissance und das Zeitalter der Aufklärung stellten die Art und Weise infrage, wie die europäischen Menschen die Welt um sich herum wahrnahmen. Der zunehmende Glaube an die Vernunft sowie der Wunsch von Pädagogen, Philosophen und Gelehrten, rationales und abstraktes Denken zu entwickeln und zu verbreiten, milderten die repressiven sozialen und kulturellen Auffassungen gegenüber Gehörlosen. Der italienische Mathematiker und Universalgelehrte Geronimo Cardano (1501-1576), war einer der ersten, der die Theorie aufstellte, dass die Unfähigkeit zu hören nicht mit einer angeborenen Unfähigkeit zu lernen gleichzusetzen ist.
Es war jedoch ein Priester aus Aragón, Juan Pablo Bonet, der 1620 das erste Buch über Gehörlosenpädagogik verfasste: Reducción de las letras y arte para enseñar a hablar a los mudos (Zusammenfassung der Buchstaben und Kunst, den Stummen das Sprechen beizubringen). Darin schuf er ein Fingeralphabet für die Gehörlosenbildung. Bonets Fingeralphabet erwies sich als revolutionär; im Laufe der Zeit sollte es die Entwicklung der Spanischen Gebärdensprache, der Französischen Gebärdensprache und der Amerikanischen Gebärdensprache beeinflussen. Inspiriert von Bonets Arbeit schlug der Engländer John Bulwer in seinem Werk Dumbe Mans Academie (1648) als erster eine Akademie ausschliesslich für Gehörlose vor.
Ein Schweizer Pate der Gehörlosenpädagogik
Das Interesse an gehörlosen Menschen nahm auf dem ganzen Kontinent zu, als die wissenschaftliche Revolution ihren Höhepunkt erreichte. Die Frage, wie Gehörlose am besten erzogen und in die Gesellschaft integriert werden können, löste auch in der Schweiz Diskussionen aus. Johann Konrad Ammann, ein Experte auf dem Gebiet der Sprachphysiologie, war besonders interessiert daran. Der in Schaffhausen geborene Sohn einer bekannten Gelehrten- und Arztfamilie promovierte 1687 im Alter von 18 Jahren in Basel zum Doktor der Medizin.
Nachdem er sich in die holländische Landschaft und eine Holländerin verliebt hatte, zog er nach Amsterdam, wo er eine erfolgreiche Karriere als Arzt, Übersetzer und Pädagoge machte. Niemand weiss, wann genau Ammann sich für die Arbeit mit Gehörlosen zu interessieren begann, aber es ist bekannt, dass er 1690 seine ersten Versuche mit einer wohlhabenden jungen Frau aus Haarlem unternahm. In nur zwei Monaten gelang es ihm, ihr das Lesen und Schreiben sowie dank seiner eigenen Methodik gar das langsame Sprechen beizubringen.
Ammann war überzeugt, dass seine gehörlosen Schülerinnen und Schüler üben sollten, die Lippen- und Kehlkopfbewegungen der Nicht-Gehörlosen zu imitieren, dies sollte sie dazu bringen, Buchstaben, Silben, Wörter und später ganze Sätze zu sprechen. Seine Methode zielte also darauf ab, den Gehörlosen das Sprechen beizubringen, und zwar durch eine abwechselnde Mischung aus aktiver Beobachtung und körperlicher Vibration.
Überzeugt, dass Sprechen ein natürlicher Ausdruck des Menschen ist, war Ammann nicht daran interessiert, Gebärden- oder Fingersprache zu lehren. Ein solcher Unterricht würde die Schülerinnen und Schüler nur von dem ablenken, was er für den natürlichen Prozess des Spracherwerbs hielt.
Während er in den Niederlanden lebte, veröffentlichte Ammann mehrere theoretische Werke, die sich mit dem Thema Gehörlosenpädagogik befassten. Seine bahnbrechenden Werke Surdus loquens (Der sprechende Taube) von 1692 und Dissertatio de loquela (Disseration des Sprechens) von 1700 wurden in mehrere moderne Sprachen übersetzt. Diese Werke waren ebenso anregend wie populär, und Ammann wurde dadurch zu einem der meistzitierten Autoren des 18. Jahrhunderts.
Der Diskurs zieht nach Paris und Leipzig
Trotz Ammanns kritischer Anerkennung und Popularität war es Paris und nicht Amsterdam, das sich dank der Bemühungen von Charles-Michel de L'Épée zum Zentrum der Gehörlosenbildung entwickelte. Obwohl er 1712 in eine wohlhabende und angesehene Familie in Versailles hineingeboren wurde, entschied sich L'Épée, katholischer Priester und Armenpfleger zu werden. L'Épée interessierte sich für Gehörlose, nachdem er in einem Pariser Slum zufällig auf gehörlose Frauen gestossen war, die sich mithilfe der Gebärdensprache verständigten.
Nachdem er die Gebärdensprache von der Pariser Gehörlosengemeinschaft erlernt hatte, entwickelte L'Épée sein eigenes System «methodischer Zeichen» als Sprache, die im formalen Bildungsunterricht eingesetzt werden könnte. Mit Entschlossenheit eröffnete L'Épée zwischen 1750 und 1760 in mehreren Etappen das Pariser Institut National des Jeunes Sourds. Es war die weltweit erste öffentliche Schule für gehörlose Kinder. L'Épée war der festen Überzeugung, dass gehörlose Kinder nicht nur das Sprechen, sondern auch das Lesen lernen sollten. An L'Épées Schule lernten die Schülerinnen und Schüler daher gesprochenes und geschriebenes Französisch mithilfe der Gebärdensprache.
L'Épées Ideen fanden in der Schweiz grossen Anklang. Heinrich Keller, Pfarrer in Schlieren, und sein Assistent Johann Conrad Ulrich lernten L'Epée in Paris kennen und studierten bei ihm. Keller versuchte später, in Zürich eine eigene Gehörlosenschule zu gründen, konnte aber keine ausreichenden Mittel aufbringen. Später ermöglichten private Initiativen die Gründung der ersten Gehörlosenschulen in der Schweiz in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.
Während die Ideen von L'Épée in ganz Europa verbreitet wurden, stellte ein Mann die Methodik von L'Épée öffentlich in Frage: Samuel Heinicke. Der 1727 in Nautschütz (Deutschland) geborene Heinicke, ursprünglich Lehrer für Musik und Komposition, war ein angesehener Gelehrter, der an der Universität Jena Naturwissenschaften und Philosophie studierte. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) arbeitete er in Eppendorf vor den Toren Hamburgs, wo er tauben Kindern das Sprechen beibrachte.
Heinickes Überzeugungen lehnten sich stark an die von Ammann an, dessen Werke Heinicke las und in ihren deutschen Übersetzungen konsultierte. Heinicke betrachtete die Gebärdensprache als ein Hindernis für den abstrakten Denkprozess von Gehörlosen, die lediglich sprechen lernen wollten. Die Gebärdensprache war für ihn ein unbedeutendes Hilfsmittel, das von den Schülern nicht zu oft verwendet werden sollte. Er war der Meinung, dass L'Épée dem Erlernen der Gebärdensprache zu viel Bedeutung beimass, da er davon überzeugt war, dass dies die intellektuelle und sprachliche Entwicklung gleichzeitig hemmen würde.
Als Verfechter der Notwendigkeit des Lippenlesens, der Lautsprache und der Artikulation als Mittel zum Erlernen der Muttersprache von Gehörlosen gründete Heinicke 1778 in Leipzig seine eigene Schule: Das Chursächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen.
Zürcher Gelehrte schlichten den Streit
L'Épée und Heinicke schossen die ersten Salven in der ersten grossen öffentlichen Debatte über die Gehörlosenbildung. Im Sinne der Aufklärung korrespondierten die beiden in den 1780er-Jahren miteinander und verteidigten ihre jeweiligen Argumente und theoretischen Positionen in Latein. (Heinicke sprach zu L’Épées Verdruss kein Französisch). Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten waren sich L'Épée und Heinicke darin einig, dass Gehörlose erzogen werden sollten, dass man ihnen das Sprechen beibringen und sie mit Würde als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft behandeln sollte.
Die Teilnahme gehörloser Menschen an der Zivilgesellschaft sahen sie als Eigenschaft einer vernünftigen, zivilisierten Gesellschaft. Die eigentliche grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen bestand darin, inwieweit die Gebärdensprache im Unterricht verwendet werden sollte und ob die Ausbildung der Sprache im Vordergrund stehen sollte. L'Épée war bestrebt, die Angelegenheit von einem unparteiischen Gericht beurteilen zu lassen, und suchte in ganz Europa nach einem gelehrten, angesehenen Gremium, das ihre Debatte schlichten sollte.
L'Épée wandte sich schliesslich an die Schweiz und an die von ihm so genannte «Académie de Zurich». Dabei handelte es sich um ein angesehenes Gremium, bestehend aus Lehrern des Gymnasiums und des Collegium Carolinum, der Vorläuferin der Universität Zürich. Nach eingehender Prüfung der Argumente von L'Epée und Heinicke entschied die «Académie» 1783 zu Gunsten von L'Epée.
Die hitzige Debatte über die Methodik wurde jedoch nicht vollständig beigelegt. Auf dem Zweiten Internationalen Kongress für Gehörlosenpädagogik in Mailand 1880 lehnten die Pädagogen die ursprüngliche Empfehlung der Zürcher Gelehrten ab. Sie kamen zu dem Schluss, dass in Gehörlosenschulen von Gebärden abzuraten sei und dem Sprechen und Lippenlesen mehr Zeit eingeräumt werden sollte. Infolgedessen waren Gebärden auf dem Schulgelände in der Schweiz streng verboten – die Lehrer bestraften Schülerinnen und Schüler, die sie beim Gebärden erwischten, mit körperlichen Strafen.
Es war nicht ungewöhnlich, dass gehörlosen Schülerinnen und Schülern die Hände auf den Rücken gebunden wurden, um sie am Gebärden während des Unterrichts zu hindern. Selbst Franz Eugen Sutermeister (1862-1931), der Gründer des Schweizerischen Fürsorgevereins für Taubstumme (heute Sonos), glaubte an strenge Disziplin für gehörlose Lernende und ein Verbot der Gebärdensprache. Die Liberalisierung erfolgte vor allem durch den Gehörlosenaktivismus in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren, der zu einem verstärkten staatlichen Schutz der Gehörlosen in der Schweiz führte.
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Screenshot: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS
Die Diskussion über die Rolle, den Stellenwert und die Verwendung der Gebärdensprache in der Schweiz hält an. Mit ihrer einzigartigen Grammatik und Syntax sowie ihren emotionalen Ausdrücken trägt die Gebärdensprache zur sprachlichen Vielfalt der mehrsprachigen Schweiz bei. In der Deutschschweiz gibt es fünf regionale Gebärdendialekte – in Zürich, Bern, Basel-Stadt, Luzern und St. Gallen – zusätzlich zur standardisierten Deutschschweizer Gebärdensprache, der Französischen Gebärdensprache und der Italienischen Gebärdensprache.
Man schätzt, dass eine Million Schweizerinnen und Schweizer hörgeschädigt sind, darunter etwa 10’000 Menschen, die entweder von Geburt an taub sind oder es in ihrer frühen Kindheit durch Unfall oder Krankheit wurden. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder in Europa, welches die Gebärdensprache noch nicht als Amtssprache anerkannt hat. In den letzten Jahren hat der Bundesrat jedoch erwogen, den rechtlichen Status der Gebärdensprache zu evaluieren und aufzuwerten. Im August 2023 wurden die Gebärdensprachen von der Schweiz in die Liste der lebendigen Traditionen aufgenommen und als immaterielles Kulturerbe anerkannt.
Gegenwärtig sind Bemühungen im Gange, den Prozess der kantonalen Anerkennung der Gebärdensprache in der Waadt, in Bern und im Tessin voranzutreiben. In den Kantonsverfassungen von Zürich und Genf wird die Gebärdensprache bereits ausdrücklich erwähnt, während das Gleichstellungsgesetz in Basel die Verwendung der Gebärdensprache vorsieht und die Gehörlosenkultur schützt.
Landesmuseum Zürich
In der Schweiz sind neben den vier Landessprachen unzählige Dialekte, Akzente, Slangs und Sprachen von Eingewanderten zu hören. Das Landesmuseum nimmt die Besuchenden mit auf eine sinnliche Reise durch die Schweizer Sprachräume. Mit interaktiver Soundtechnik erfährt man, wie die Vorläufer unserer Sprachen auftauchten, sie sich weiterentwickelten oder gar ausstarben, neue Sprach- und Kulturgrenzen entstanden und wie um sie gestritten wurde und wird.
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