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Die Kopftuch-Debatte hat das Verständnis von Religionsfreiheit verändert

Als ein sichtbares Zeichen islamischer Religiosität wird das Kopftuch der Muslima in den späten 1990er-Jahren zum Streitgegenstand. Religiöse Vielfalt wird auch in der Schweiz zum Politikum. Gegen die ...
Als ein sichtbares Zeichen islamischer Religiosität wird das Kopftuch der Muslima in den späten 1990er-Jahren zum Streitgegenstand. Religiöse Vielfalt wird auch in der Schweiz zum Politikum. Gegen die islamische Zuwanderung gruppiert sich eine Fremdenfeindlichkeit. Hidschab mit Blumenmuster und silbrigen Strasssteinen, 1990–2005.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Wessen Freiheit? Die Debatte um das Kopftuch

Das muslimische Kopftuch war in der Vergangenheit oft Gegenstand von heftigen Auseinandersetzungen. An ihm lässt sich der Wandel im Verständnis der Religionsfreiheit aufzeigen.
17.06.2023, 19:44
Jacqueline Grigo / Schweizerisches Nationalmuseum
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Die Schweiz versteht sich als säkularer Staat, der die Religionsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert. Religionsfreiheit basiert dabei auf staatlicher Neutralität. Gleichzeitig bildet die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre die gesellschaftspolitische Basis der von der Verfassung garantierten Grundrechte.

Diese Grundrechte wiederum verpflichten den Staat, wie Mader und Schinzel schreiben, «die individuellen Möglichkeiten der freien Entfaltung nur insoweit zu beschränken, wie dies im übergeordneten Interesse der Gesellschaft, d. h. im «öffentlichen» Interesse, zweckmässig, erforderlich und persönlich zumutbar ist». Umgekehrt hat der Staat dafür zu sorgen, dass nicht unter dem Vorwand der Religionsfreiheit fragwürdige Praktiken gepflegt werden, die andere Rechte von Individuen beschneiden oder diese benachteiligen.

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Juristisch betrachtet, ist Religion «Ausdruck einer individuellen Einstellung zum Göttlichen bzw. zum Transzendenten» und somit zunächst eine rein private Angelegenheit. Da sich zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre vielfältige Wechselwirkungen entspinnen, fällt eine klare Abgrenzung allerdings schwer. Wird etwa ein religiöses Bekenntnis oder die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft sichtbar gemacht, wird Religion für andere wahrnehmbar und entsprechend zu einer öffentlichen Angelegenheit. Darüber eröffnet sich Interpretationsspielraum für juristische Auseinandersetzungen, die beeinflusst werden von historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Diskursen.

Seit den 1970er-Jahren hat sich die Schweiz von einem mehrheitlich christlich geprägten zu einem Land mit religiöser Vielfalt entwickelt. Während die Mitgliederzahlen der Landeskirchen sanken, stieg die Zahl der Nicht-religiösen sowie der Angehörigen von Freikirchen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften kontinuierlich. Den grössten Zuwachs erfuhren muslimische Gemeinschaften, nämlich von ca. 0,3 Prozent im Jahr 1970 auf 5,4 Prozent 2020.

Nach dem Berliner Mauerfall setzte sich in den öffentlichen Debatten allmählich eine neue, bipolare Weltordnung durch. Anstelle des «kommunistischen Ostblocks» wurde der «Islamismus» und teils auch ganz generell «der Islam» zur internationalen Bedrohung erklärt. Verschärft wurde diese Wahrnehmung nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York.

Die Schweizer Bevölkerung ist bis in die 1970er-Jahre fast ausschliesslich katholisch oder reformiert. Aus unterschiedlichen Gründen kommt es seither vermehrt zum Austritt aus christlichen Kirchen. Mi ...
Die Schweizer Bevölkerung ist bis in die 1970er-Jahre fast ausschliesslich katholisch oder reformiert. Aus unterschiedlichen Gründen kommt es seither vermehrt zum Austritt aus christlichen Kirchen. Mit der Zuwanderung in den Jahren des Balkankriegs wird die muslimische Glaubensgemeinschaft bis ins Jahr 2000 zur grössten religiösen Minderheit in der Schweiz. Entwicklung der Religionslandschaft in der Schweiz von 1970 bis 2000.Grafik: Bundesamt für Statistik

Dieser Wandel prägte, wie das folgende Beispiel zeigt, in manchen Fällen auch die individuelle Religionsfreiheit. 1997 etwa verbot das Bundesgericht einer muslimischen Lehrerin im Kanton Genf, während des Unterrichts ihr Kopftuch zu tragen. Dieses beeinflusse die Kinder in einer Weise, die mit der religiösen Neutralität der Schule nicht vereinbar sei. Das Verbot richte sich «nicht gegen die religiösen Überzeugungen der Beschwerdeführerin, sondern bezwecke den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sowie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit», wie das Bundesamt für Justiz in einer Medienmitteilung vom 27. Februar 2001 festhielt.

In den Entscheid des Gerichts wurden auch gleichstellungsrechtliche Erwägungen einbezogen: «Ausserdem muss festgestellt werden, dass das Tragen des Kopftuchs mit dem Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter kaum vereinbar ist [...]. Nun handelt es sich dabei um einen Grundwert unserer Gesellschaft, der in einer ausdrücklichen Verfassungsbestimmung [...] festgelegt ist und dem die Schule Rechnung tragen muss.»

Die Lehrerin zog ihren Fall weiter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser stützte aber das Bundesgerichtsurteil. Die religiöse Neutralität der Schule sei in jedem Fall zu verteidigen. Die Argumentation, auf der die geschilderten Gerichtsentscheide gründen, verweist jedoch auf Vorannahmen und unausgesprochene Normvorstellungen.

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So stellen sich beispielsweise folgende Fragen: Inwiefern bedroht das Tragen eines Kopftuchs «Rechte und Freiheiten anderer» sowie «die öffentliche Ordnung und Sicherheit»? Warum trägt ein Verbot des Kopftuchs mehr zur Erziehung zu Toleranz und gegenseitigem Respekt bei als das Tolerieren desselben? Und inwiefern lässt sich das Kopftuch pauschal als Zeichen der Unterordnung der Frau verstehen?

Der Artikel berichtet über ein Urteil des Bundesgerichts. Dieses verbietet 1997 einer Genfer Lehrerin muslimischen Glaubens das Tragen ihres Kopftuchs während dem Unterricht. Das Gericht beruft sich d ...
Der Artikel berichtet über ein Urteil des Bundesgerichts. Dieses verbietet 1997 einer Genfer Lehrerin muslimischen Glaubens das Tragen ihres Kopftuchs während des Unterrichts. Das Gericht beruft sich dabei auf den Verfassungsartikel über die Neutralität der Volksschule. Die Klägerin muss in der Folge entweder eine Einschränkung ihrer Religionsfreiheit in Kauf nehmen oder auf ihre Berufsausübung verzichten. Seite 3 vom Walliser Bote vom 20.11.1997.Bild: e-newspaperarchives.ch

Innerhalb der letzten Jahrzehnte gewann das Thema Religion in der politischen und medialen Öffentlichkeit der Schweiz und in Europa vermehrt an Aufmerksamkeit. Dabei ist die Berichterstattung stark durch Wertungen geprägt. Während Vertreterinnen und Vertreter des Christentums und des Judentums manchmal negativ, manchmal positiv beurteilt werden, gilt der Buddhismus in der Regel als friedlich, gewaltfrei, offen, tolerant und undogmatisch.

Beim Islam überwiegen hingegen negative Beurteilungen. Er wird mehrheitlich mit Konflikt, Extremismus, Gewalt, Rückständigkeit und Terrorismus oder eben mit der Unterdrückung von Frauenrechten in Verbindung gebracht. Dieser mediale «Kampf der Kulturen» stilisiert gern das Kopftuch zum Symbol unvereinbarer Werte. Islamische Kleidungspraxis gilt dabei oft als das Gegenteil dessen, was unsere Gesellschaft zu sein anstrebt, nämlich frei, gleichberechtigt, sicher und gerecht.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird in ganz Europa über den «Kopftuchstreit» der gesellschaftliche Stellenwert von Religion neu verhandelt. Dabei geht es immer auch um Bedingungen des Zusammenlebens in pluralisierten Gesellschaften. Auf der Suche nach Identität tragen aber gerade junge Musliminnen der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration das Kopftuch oft mit einem neuen Selbstverständnis.

Sie verstehen sich als religiös, aufgeklärt und modern zugleich. Sie streben nach Eigenständigkeit und beruflichem Erfolg und grenzen sich sowohl von den als konservativ und einschränkend empfundenen Erwartungen und Werten der Elterngeneration als auch von den ausgrenzenden Zuschreibungen der Ankunftsgesellschaft ab. Sie tragen das Kopftuch selbstbewusst, nicht nur als Ausdruck ihrer Beziehung zu Gott, sondern melden darüber auch ihren Anspruch an gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung an.

In der Schweiz ist das Kopftuch lange Zeit Bestandteil traditioneller Kleidung. Frauen auf dem Land schützen damit ihre Frisur vor Staub und Dreck, der bei der Arbeit anfällt. In den 1950er-Jahren wir ...
In der Schweiz ist das Kopftuch lange Zeit Bestandteil traditioneller Kleidung. Frauen auf dem Land schützen damit ihre Frisur vor Staub und Dreck, der bei der Arbeit anfällt. In den 1950er-Jahren wird das Kopftuch zum modischen Accessoire. Stars wie Grace Kelly, die es im offenen Cabriolet zur Schau stellen, verhelfen dieser Kopfbedeckung zu femininem Glamour. Tourismusplakat für Arosa, 1957.Bild: Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, ZHdK © Roland Kupper
«Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltan­schau­li­che Überzeu­gung frei zu wählen und allein oder in Gemein­schaft mit anderen zu bekennen.»
BV 1999, Art. 15, Abs. 2
Zum Geburts­tag viel Recht. 175 Jahre Bundesverfassung
17.03.2023 – 16.07.2023
Landesmuseum Zürich

Seit 175 Jahren hat die Schweiz ohne Unterbruch eine demokratische Verfassung. Das dem Bundesstaat zugrunde liegende Rechtsdokument beeinflusst das tägliche Leben direkt und indirekt. Und weil sich der Alltag seit 1848 laufend verändert, wird auch die Bundesverfassung der jeweiligen Zeit angepasst. Zum 175. Geburtstag blättert das Landesmuseum Zürich in der Geschichte der Schweizerischen Bundesverfassung und schaut dabei vor allem auf die Grundrechte. Die Besuchenden bewegen sich spielerisch im Spannungsfeld zwischen politischen Rechten, Pflichten und der persönlichen Freiheit.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Wessen Freiheit?» erschien am 15. Juni.
blog.nationalmuseum.ch/2023/06/wessen-freiheit

Ein Verbot, das «Frauen schützt»

Video: srf/Roberto Krone
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Hidschab & Co. – Verhüllungen vom Kopftuch bis zur Burka
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Hidschab & Co. – Verhüllungen vom Kopftuch bis zur Burka
Hidschab: Wird vor allem als Bezeichnung für ein Kopftuch verwendet, das Haar und Ohren vollständig bedeckt, das Gesicht indes frei lässt. Meist werden zusätzlich die Halsregion, der Ausschnitt und eventuell die Schultern bedeckt.
quelle: shutterstock
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Für ein offenes Frauenbild. Und zwar mit Kopftuch und Rap!
Video: srf
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68 Kommentare
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LifeIsAPitch
17.06.2023 22:02registriert Juni 2018
"Sie verstehen sich als religiös, aufgeklärt und modern zugleich." Religiös UND aufgeklärt UND modern - sorry, für mich beisst sich das. Was mir auffällt: es gibt klar mehr junge Frauen, die mit Kopftuch unterwegs sind, als noch vor 20 Jahren. Das stimmt mich durchaus nachdenklich.
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Zürischnurre
17.06.2023 23:13registriert Februar 2016
MMn gehört ein Kopftuch nicht von einer Lehrerin, während des Unterrichts, getragen.
Als Atheistin stört mich sowieso schon, dass die Kinder soviel Zeit mit dem durchkauen von Religionen verschwenden. 1-3, 4-6 und 7-9 Klasse, in jedem Trimester werden wieder die fünf gängigsten Religionen durchgenommen, 1x würde reichen.
Die Kinder sollten lieber mehr über Politik und Geschichte hören.
Und ja, das Kopftuch ist nicht das richtige Kleidungsstück um unseren Kindern die Gleichberechtigung von Mann und Frau näherzubringen.
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Maya Eldorado
18.06.2023 01:33registriert Januar 2014
Im Text steht, dass Frauen bei uns früher auf dem Land draussen auch Kopftuch getragen haben.
Stimmt, das machte meine Grossmutter auch. Ist auch verständlich. Sie hatte kein Badezimmer, nur in der Küche einen Wasserahn mit kaltem Wasser. So musste sie nicht so oft die Haare waschen.
Ausserdem trug sie in der Kirche auch ein Kopftuch. Das habe ich auch gehört (betrifft hier die ref. Kirche), dass Frauen mit bedecktem, Männer mit entblösstem Haupt in die Kirche sollen.
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