Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 erklärt die Schweiz eine Generalmobilmachung der Armee. Die Wahl eines Oberbefehlshabers (OB) durch die Vereinigte Bundesversammlung ist notwendig. Zur Wahl stehen zwei Kandidaten: Oberst-Korpskommandant Theophil Sprecher von Bernegg und Oberst-Korpskommandant Ulrich Wille.
Das Parlament setzt auf von Sprecher, der Bundesrat auf Wille. Und das aus einem ganz bestimmten Grund: Die Landesregierung will einen General, der innert weniger Wochen die Kriegstüchtigkeit der Milizarmee durch Erziehung und Ausbildung anheben kann. Ausserdem will sie einen möglichen Mittelsmann zum Deutschen Kaiser, zu Generalstabschef Moltke, zur deutschen Generalität. Beides sieht der Bundesrat durch Ulrich Wille abgedeckt.
Mit Sprecher und Wille stehen sich ein akribischer Generalstäbler und ein strenger Truppenerzieher ohne Generalsstabsausbildung und -erfahrung gegenüber. Da das Parlament Sprecher bevorzugt, scheint der Ausgang der Wahl klar zu sein. Doch es kommt anders.
Am Nachmittag des 3. August 1914 steigen in den Fraktionen die Chancen Sprechers, zum OB gewählt zu werden. Er wird vom Präsidenten der Bundesversammlung schon gebeten, die Uniform anzuziehen und sich für den Einmarsch in den Nationalratssaal bereitzuhalten. Auch Ulrich Wille bereitet sich vor und mietet für sein zukünftiges Hauptquartier eine Etage im Hotel Bellevue. Aber seine Wahlchancen schwinden.
Doch Wille gibt sich noch nicht geschlagen und sucht Theophil Sprecher in dessen Privatwohnung im Berner Kirchenfeldquartier auf. Und dort überzeugt er ihn, auf das Generalat zu verzichten und Generalstabschef der mobilisierten Armee zu werden. Mit welchen Argumenten Ulrich Wille dies erreicht hat, ist umstritten: Bitten? Drohen? Überreden? Sicher ist, Sprecher hätte beides gekonnt, Wille nicht. Er hatte nur Erfahrung als Truppenerzieher und Truppenführer. Eine Arbeitsteilung lag also auf der Hand und scheint auch von Sprecher eingeleuchtet zu haben.
Mit dem Einlenken von Sprechers war die Wahl Willes zum Oberbefehlshaber und General gerettet. Doch warum gab es in der Bundesversammlung und nicht nur dort einen derart starken Widerstand gegen Ulrich Wille?
Ulrich Wille gehörte zum Schweizer Instruktionsoffiziers-Korps der Artillerie und wurde 1892 Waffenchef der Kavallerie. Vier Jahre später wurde er vom Bundesrat entlassen, weil er gegen eine ihm nicht genehme Beförderung reklamierte. Damit hatte er keine Funktion mehr in der Armee und wurde arbeitslos. Ein Komitee bestehend aus Instruktor Fritz Gertsch, ETH-Professor Ferdinand Affolter und Emil Richard vom Schweizerischen Handels- und Industrieverein lancierte eine Medienkampagne gegen seine Gegner und für eine Wiederaktivierung Willes.
Dies gelang: Er wurde 1901 Miliz-Divisionär und Redaktor der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung und schliesslich 1904 Miliz-Korpskommandant. Auch beruflich gelang Willes Wiedereinstieg: zuerst Lehrbeauftragter und 1907 Professor für Militärwissenschaften an der ETH Zürich. Innert wenigen Jahren besetzte der 1848 in Hamburg geborene Wille alle relevanten Positionen militärischer Deutungsmacht.
Wille studierte zuerst Recht in Zürich und musste wegen einer Duellaffäre die Universität verlassen. Der später in Heidelberg in Rechtswissenschaft promovierte Wille war damit im schweizerischen Berufsoffiziers-Korps ein absoluter Solitär. Doktorierte Instruktionsoffiziere gab es bisher kaum, die meisten dienten sich auf den Kasernenhöfen hoch, einige waren noch Teil der letzten Schweizer Solddienst-Regimenter in Neapel gewesen.
Und noch weniger gab es Instruktionsoffiziere, welche die Kampfausbildung der Schweizer Milizarmee «kriegstauglich» machen wollten und sich dabei am preussisch-deutschen Muster orientierten. An diesem Anspruch schuf sich Wille begeisterte Anhänger und erbitterte Gegner: nach wenigen Jahren Instruktionsdienst wurde Wille verehrt und bekämpft.
Wille, der 1871 ins schweizerische Instruktionskorps getreten war, hatte von Anfang an Ambitionen. Der Sieg des preussisch-deutschen Heeres 1870 im Deutsch-Französischen Krieg beeindruckte ihn tief und er durfte in Berlin die Ausbildungsmethoden der Garde-Artillerie gleich selbst kennenlernen. In den Artillerieschulen in Thun begann der korpulente Oberleutnant die Ausbildung der Truppen nicht nur zu studieren, sondern zu revolutionieren. Sehr bald stand sein lebenslanges Credo der militärischen Sozialisation: «Soldatische Erziehung geht vor Exerzieren – Drill ist Erziehungsmittel». Das hatte er in Berlin gelernt.
Er wollte aber über die Thuner Allmend hinauswirken, wollte Einfluss auf die gesamte Armee nehmen. Ulrich Wille kaufte die Zeitschrift für «Artillerie und Genie» und begann den oft im Stile der Dorffeuerwehr betriebenen Dienstbetrieb zu kritisieren. Mehr und mehr sah er «Verkehrte Auffassungen» und predigte «Neuen Geist». Wille war ein militärisch engagierter Mann der scharfen, ironisch-sarkastischen Feder.
Ohne Scheu – er verabscheute Menschenfurcht – bekannte er sich zum preussisch-deutschen Vorbild seines militärischen Denkens: «Mit der Miliz kann zuverlässiges Kriegsgenügen erschaffen werden, wobei ich unter Kriegsgenügen die Verfassung des preussischen und deutschen Wehrwesens 1866 und 1870 verstehe». Die preussisch-deutschen Truppen hielt er für erzogen, das heisst, sie zeigten «Apell», gespannt Aufmerksamkeit auf den Vorgesetztenbefehl und Disziplin, um den Gefechtserfolg mit Verlusten durchzudrücken.
Wille wurde Preussentum vorgeworfen. Die Kritiker setzen dem «Neuen Geist» den «Nationalen Geist» entgegen. Die «Methode Wille» war umstritten, lange bevor er 1914 Oberbefehlshaber der Schweizer Armee wurde. Seine Truppenausbildung war jedoch derart erfolgreich, dass er 1883 berufen wurde, der etwas schlaffen Schweizer Kavallerie als Oberinstruktor und Waffenchef Schneid und Reitergeist beizubringen.
Wille war kein simpler Drillmeister, sondern ein von der deutschen Kultur-, Gesellschafts- und Staatsauffassung des Kaiserreiches imprägnierter militärischer Experte. Die Erschaffung einer kriegsgenügenden Armee aus dem nationalen Männerpotential stellte er für den Fortbestand eines Nationalstaates über alles, auch für die Schweiz. Krieg war die potentiell ultimative Prüfung der staatlichen Existenzberechtigung und der Männlichkeit der Staatsbürger. Kriegstaugliche Erziehung der «Staatsbürger-Soldaten» erschienen ihm als Korrektiv zur individualistisch-egoistischen bürgerlichen Gesellschaft.
Wille hatte den Oberbefehl gewollt. Er war 66 Jahre alt, als er das Generalat antrat. Die Jahre 1914 bis 1916 waren eine Schonzeit für ihn, er war militärisch nicht besonders gefordert. Bei seinen Besuchen der kantonalen Behörden jubelte die Bevölkerung ihm entgegen, so auch in Genf und Neuenburg. Generalstabschef Sprecher besorgte das wenige Operative, Wille unterschrieb keinen einzigen Operationsbefehl. Als der General scherzhaft dem Bundesrat schrieb, es wäre jetzt günstig, die Entente anzugreifen, vernahm der Generalstabschef davon nichts.
Ab 1917 verschlechterte sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Schweiz zusehends. Eine rasant steigende Teuerung griff um sich, die Versorgung mit Lebensmitteln wurde als Folge des Wirtschaftskrieges immer prekärer. Für notleidende Familien gab es nur eine Notstandsunterstützung. Durch die oft langen Neutralitätsschutzdienste der Aktivdienst-Einheiten und einen zunehmenden «Cafard» der Truppen sowie dem «Erziehungsdrill Marke Wille» sank die Truppenmoral ab.
Auf diese Problemlagen reagierte Wille bis zum Kriegsende mit einer Kaskade von Weisungen und Ermahnungen. Zudem hatte er als «absoluter Gnadenherr» über sich stapelnde Begnadigungsgesuche von kriegsgerichtlich Verurteilten zu befinden. Er blieb ein Mann der Feder, verliess sein Hauptquartier im Hotel Bellevue in Bern immer weniger. Wurde zunehmend altersstur. Selbst im Bundesrat wurde verhandelt, ob Wille senil sei, was er aber nachweislich nicht war.
Seit 1917 häuften sich in der Schweiz die Manifestationen, Demonstrationen und Streiks im Zusammenhang mit den sich verschlechternden Lebensverhältnissen. Es drohten Gewaltausschreitungen. Als Oberbefehlshaber der Armee hatte Wille über Ordnungsdienst-Einsätze der Truppe zu verfügen. Sein Credo war «Vorbeugen», also Stärke zeigen und nichts zulassen. Gewalttätige Demonstranten sollten durch Truppenpräsenz abgehalten werden. Dies machte ihn automatisch zum Feindbild der Linken. Sie sahen im General einen mit Gewaltmitteln ausgestatteten Agenten des Klassenfeindes. Attackierten ihn in der Presse als verfressenen Parteigänger der Bourgeoisie.
Diese Problemlage spitzte sich für den stark gealterten – aber keineswegs senilen – Ulrich Wille im Sommer 1918 zu. Die vereinigte Linke unter der Führung von Robert Grimm kündigte an, zum politischen Mittel des Generalstreiks zu greifen, falls der Bundesrat nicht eine Anzahl wirtschaftspolitischer Forderung erfülle. Nach der von Grimm in der Schweiz verbreiteten Generalstreiks-Theorie mochte dieser je nach Situation in eine revolutionäre Machtergreifung übergehen. Seit der Russischen Revolution zeigte sich diese Option als manifeste Realität.
Im Generalstab begannen Planungen, wie die Armee einer mit Gewaltmitteln geführten Revolution entgegengetreten könnte. Wille war von den massiven vorgesehenen Truppenaufgeboten wenig erbaut. Seiner Meinung nach reichte es, wenn sich die Kavallerie rund um Zürich in Stellung brachte. Das Gros der Verbände wollte der General nach Hause schicken.
Im November 1918 sollten sich jedoch die Ereignisse in Zürich überstürzen. Der Regierungsrat verschanzte sich verängstigt in der Kaserne und bat um Bewachungstruppen. Der Bundesrat willigte mit der Unterstützung von Ulrich Wille ein. Ein Regiment marschierte in Zürich ein. Das Exekutivorgan der Linken – das Oltener Aktionskomitee (OAK) – reagierte mit einem befristeten eintägigen Proteststreik. Die kommunistisch beherrschte Arbeiter-Union Zürich hielt sich nicht daran. Um nicht die Führungsmacht zu verlieren, rief das OAK den unbefristeten Generalstreik aus. Nun hatte auch Wille nichts mehr gegen ein sehr massives Truppenaufgebot.
Regie führte jedoch Generalstabschef Theophil Sprecher. Ein Ultimatum, welches die Verhaftung der Streikleitungen und der militärischen Auflösung von Zusammenballungen der Streikenden androhte, zeigte Wirkung: der Landes-Generalstreik wurde abgebrochen. Die Vorbeuge-Strategie Willes hatte gewirkt. Er schrieb sich zu, mit Erfolg agiert zu haben. Grosse Teile der Bevölkerung teilten diese Einschätzung und glaubten, die Armee habe eine Revolution verhindert. Für die Linke war Wille nun endgültig der «Bad guy», der den Generalstreik niedergeschlagen hatte.
Dem nazistischen Wirken seines Sohnes wird das Nationalmuseum, dessen Artikel ich sehr schätze, hoffentlich auch noch eine Würdigung schenken.
Er hegte Sympathien zu Hitler, der in Willes Villa eine Rede hielt und Spenden sammelte.
Bis heute weigert sich die Familie den Schriftlichen Nachlass vollständig ans Bundesarchiv zu übergeben obwohl dass eigentlich sein müsste.