Wir können uns den Weg zum Arbeitsort oder zum Supermarkt vorstellen, ohne dass wir ihn konkret begehen – wir können gewissermassen eine virtuelle Landkarte in unserem Geist aufrufen und abschreiten. Diese Fähigkeit, sich virtuelle Szenarien wie eben den Weg zur Arbeit geistig vorzustellen, gilt als entscheidend für die Fähigkeit des Menschen, im Voraus zu planen.
Wenn wir uns den Weg zu einem Ort vorstellen, werden Hirnzellen in einer bestimmten Hirnregion aktiv, dem Hippocampus. Dieser speichert mentale Landkarten der Welt, die dazu dienen, sich an vergangene Ereignisse zu erinnern und sich zukünftige Szenarien vorzustellen. Der Abruf von Erinnerungen ist mit der Erzeugung spezifischer Aktivitätsmuster im Hippocampus verbunden, die mit Orten und Ereignissen assoziiert sind.
Neurowissenschaftler unter der Leitung von Chongxi Lai am Howard Hughes Medical Institute Janelia Research Campus im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia haben untersucht, ob auch Ratten sich Orte, an denen sie zuvor gewesen sind, geistig vorstellen können. Dies ist kein einfaches Unterfangen, denn man kann nicht einfach mit Tieren sprechen und sie dazu auffordern, sich etwas vorzustellen. Die Resultate der Studie sind im Wissenschaftsmagazin «Science» erschienen.
Die Forscher versuchten, mittels einer Gehirn-Computer-Schnittstelle (Brain-Machine-Interface, BMI) eine direkte Verbindung zwischen der Gehirnaktivität und einem externen Gerät herzustellen und so den Vorgängen im Gehirn der Ratten auf die Spur zu kommen. Im über neun Jahre hinweg entwickelten Versuchsaufbau stellte die BMI eine Verbindung zwischen der elektrischen Aktivität im Hippocampus der Ratte und ihrer Position in einem 360 Grad umfassenden Bereich virtueller Realität her.
Diese sogenannte Virtual-Reality-Arena (VR-Arena) nahmen die Nager über einen Miniatur-Bildschirm vor ihren Augen wahr, während sie sich auf einer Kugel bewegten, die auf das haptische Feedback ihrer Pfoten reagiert; ähnlich dem Trackball einer Computermaus. Die Tiere hatten so den Eindruck, dass sie sich durch einen dunklen Tunnel bewegten, wobei sie durch ein virtuelles Labyrinth navigierten. Wenn sie dort bestimmte Objekte aufsuchten, erhielten sie eine zuckerhaltige Belohnung. Während die Ratten sich durch die VR-Arena bewegten, massen die Forscher die Gehirnaktivität im Hippocampus der Nager.
Danach erstellten die Wissenschaftler eine Art «Gedankenwörterbuch», mit dessen Hilfe sie die Gehirnsignale der Ratte entschlüsseln konnten – also eine Zusammenstellung der Aktivitätsmuster im Hippocampus, wenn die Ratte etwas Bestimmtes erlebt. Die Forscher konnten so mitverfolgen, welche Neuronen aktiviert wurden, während die Ratte in der VR-Arena navigierte, um die Stelle mit ihrer Belohnung zu erreichen. Diese Signale bildeten die Grundlage für ein Echtzeit-Hippocampus-BMI im nächsten Schritt, wobei die Hippocampus-Aktivität des Gehirns in Aktionen auf dem Bildschirm übersetzt wurde.
In diesem nächsten Schritt schalteten die Forscher das kugelförmige Laufband ab, auf dem sich die Ratte bewegte. Das Tier konnte zwar die VR-Arena nach wie vor sehen, aber seine Bewegungen hatten keinen Einfluss darauf. Dafür verbanden die Forscher die VR-Arena in Echtzeit mit den Aktivitätsmustern im Hippocampus der Ratte. Sie belohnten die Nager, wenn sie das Aktivitätsmuster im Hippocampus reproduzierten, das mit einem bestimmten Zielort verbunden war. Dabei übersetzte das BMI die Gehirnaktivität des Tieres in Bewegung auf dem Bildschirm der VR-Arena.
Die Ratte navigierte mithin zu ihrer Belohnung, indem sie darüber nachdachte, wohin sie gehen musste, um diese zu erhalten. Einige der Versuchstiere bewegten sich dabei auf dem abgekoppelten Laufband, andere blieben jedoch ruhig.
In einem weiteren Schritt – die Forscher nannten diesen Versuchsaufbau das «Jedi-Experiment» in Anspielung auf telekinetische Kräfte bei «Star Wars» – wurde die Hirnaktivität der Ratte dazu benutzt, ein Objekt auf dem Bildschirm an einen bestimmten Ort zu steuern. Tatsächlich gelang es den Ratten auch hier, neuronale Muster aus den Trainingssitzungen zu reaktivieren, um eine Box zu einem Ziel in der VR-Arena zu bewegen und dadurch eine Belohnung zu erhalten.
Die Tiere bewegten das virtuelle Objekt also allein durch ihre Gedanken – so wie eine Person, die in ihrem Bürostuhl sitzt, sich vorstellen könnte, eine Tasse neben der Kaffeemaschine zu nehmen und mit Kaffee zu füllen. Die Wissenschaftler änderten darauf den Ort des Ziels und die Versuchstiere erzeugten tatsächlich neue Aktivitätsmuster, die mit dem neuen Ort verbunden waren.
Die Nager konnten ihre Hippocampus-Aktivität präzise und flexibel steuern – so, wie es wahrscheinlich auch Menschen tun. Die Ratten waren zudem in der Lage, diese Aktivität in ihrem Hippocampus aufrechtzuerhalten, also ihre Gedanken für viele Sekunden auf einen bestimmten Ort zu fokussieren. Dies ähnelt dem Zeitrahmen, in dem Menschen vergangene Ereignisse wiedererleben oder sich neue Szenarien vorstellen. Studien-Ko-Autor Tim Harris kommentierte dies wie folgt:
Die Ergebnisse der Studie zeigen überdies, dass BMI erfolgreich zur Untersuchung der Hippocampus-Aktivität eingesetzt werden kann. Da die Technologie zunehmend in der Prothetik eingesetzt wird, eröffnet die vorliegende Arbeit laut den Autoren auch die Möglichkeit, neuartige prothetische Geräte zu entwickeln, die auf denselben Prinzipien basieren. (dhr)