Schweiz
Asylgesetz

Ein Augenschein im Asylzentrum Kantonsspital Aarau

Das Leben im Bunker – ein Besuch in der Asylunterkunft in Aarau

Bild: watson
In der Asylunterkunft im Kantonsspital Aarau kam ein Asylbewerber nach einer Messerstecherei ums Leben, ein weiterer wurde schwer verletzt. In der Folge geriet die Unterbringung der Asylsuchenden in Kritik. Wie lebt es sich in einem Bunker am Aarauer Stadtrand zusammen mit Hunderten jungen Männern aus den unterschiedlichsten Kultur-, Sprach- und Bildungskreisen?
24.08.2016, 10:1624.08.2016, 14:59
William Stern
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Wer an diesem Spätsommernachmittag durch den weitläufigen Park des Aarauer Kantonsspitals spaziert, wähnt sich in einer besseren Welt. Unter Pappeln und Trauerweiden laden Liegestühle zum Verweilen ein, kleine Pavillons säumen den Weg durch die weitläufige Anlage, Arztpersonal, Krankenschwestern und Spitalbesucher flanieren durch die Anlage. Und selbst die Patienten schlurfen, im Gleichschritt mit ihrem Tropf, an dem sie hängen wie an der Zigarette, gleichmütig in Richtung Raucherinsel.

Den rund 220 Asylsuchenden wird der Zutritt zur besseren Welt verwehrt. Seit es eine Häufung von Klagen wegen herumlungernder junger Asylsuchender gegeben hat, beschloss die Spitalleitung, die Tore für die Asylbewerber zu schliessen. Nun fläzen sich wieder nur Weiss- und Grünkittel in den Liegestühlen – die Eritreer, Somalier, Afghanen, all die jungen Männer, die im Asylverfahren stecken, strecken ihre Beine auf Holzstühle und Plastikschemel. Und auch die drei Iraner, die am Samstagmorgen in der Asylunterkunft in einen Streit geraten sind, haben wahrscheinlich selten die imposante Büste des Arztes und Spitaldirektors August Bircher im Herzen des Parks zu Gesicht bekommen.

Irgendwann gegen Viertel vor sieben wird es passiert sein, schätzt Kapo-Sprecher Graser. Dann geraten die drei Iraner in einen Streit. Kurz darauf geht bei der Kantonspolizei Aargau der Notruf ein: Gewalttätiger Zwischenfall in der Asylunterkunft gleich neben dem Kantonsspital, am Ende der Wiesenstrasse, dort wo die hölzernen Gatter der lauschigen Einfamilienhäuschen die Stadt Aarau von der Gemeinde Suhr trennen. Die Polizei rückt mit mehreren Patrouillen aus, ein 27-Jähriger wird widerstandslos festgenommen, das Küchenmesser noch in der Hand.

Am Schluss ist einer der drei Männer tot, ein weiterer liegt schwer verletzt auf der Intensivstation. Der Täter, ein 27-Jähriger Iraner, ist geständig. Über das Motiv des Mannes schweigen sich die Behörden noch aus. Der 23-Jährige, der mit Stichverletzungen im Spital liegt, konnte noch nicht befragt werden.

«Wie ist das Leben hier im Bunker?»
«Not good.»

Der Fall befeuert gleich zwei typische Reaktionsmuster. Auf der einen Seite die «Ich-hab-es-schon-immer-gesagt»-Fraktion, die vor der Gewalttätigkeit, Triebhaftigkeit und Unberechenbarkeit der jungen Männer jenseits der europäischen Grenzen, im wilden Hinterland Nordafrikastans und dem längst pulverisierten Pulverfass Nahen Osten, warnt. Auf der anderen die Apologeten der Flüchtlinge, die wo immer möglich auf die zerrüttete Psyche und die katastrophale Unterbringung der Asylsuchenden hinweisen. Für die einen ist klar: Irgendwann musste das ja passieren. Für die anderen ist klar: Irgendwann musste das ja passieren. Über die Faktizität der Gewalttat herrscht Übereinstimmung, über die Auslöser scheiden sich die Geister.

Eingang zum Gops Aarau – im Hintergrund die Containterbauten mit Küche und Essensbereich.
Eingang zum Gops Aarau – im Hintergrund die Containterbauten mit Küche und Essensbereich.bild: watson

Ehemals Spital, jetzt Asylunterkunft

Zwei Tage danach. Vor der Asylunterkunft herrscht um die Mittagszeit reges Kommen und Gehen. Savi verlässt soeben mit drei Kollegen das Asylzentrum. Sie sind auf dem Weg zu einem Kollegen in Buchs. In gebrochenem Englisch erzählt Savi, der eigentlich anders heisst, vom Leben im Bunker. «Not good», lautet sein knappes Fazit. Und die Schweiz? «Good». Seit sieben Monaten ist der 32-Jährige Tamile im Asylzentrum tief unter dem Kantonsspital Aarau, seit acht Monaten in der Schweiz. Von der tödlichen Auseinandersetzung hat er nichts mitbekommen. Fotografieren lassen will er sich nicht.

Mohammud, 18 Jahre alt, seit fünf Monaten im Gops.
Mohammud, 18 Jahre alt, seit fünf Monaten im Gops.bild: watson

Mohammud hat da weniger Berührungsängste. Im Gesicht des 18-jährigen Somaliers spiegelt sich jugendliche Unbekümmertheit. Gerne führe er durch den Bunker und zeige seinen Schlafplatz. «Just hop the fence», fordert er den Besucher auf. Der grüngestrichene Metallzaun schlängelt sich auf Hüfthöhe wie eine Festivalabgrenzung vom Eingang des Asylzentrums zur nächsten Strassenecke.

Vorbei an einem zweigeschossigen, weiss-blauen Containermodulbau, an dem sich mächtige metallene Lüftungsrohre klammern, geht es zum schmucklosen Eingangsbereich der Gops, der Geschützten Operationsstelle. Die Gops, eine Einrichtung des Kantonsspitals Aargau, wurde auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, im Dezember 2015 als temporäre Asylunterkunft in Betrieb genommen. Ende Mai, am Tag der offenen Tür, hing über dem Eingang ein Banner: «Mirësevini, Grüezi, Herzlich willkommen». Jetzt ist da nur wieder der fleckige Sichtbeton.

Rauchen und Warten

Willkommen fühlt man sich trotzdem. Dass ein Journalist einen Augenschein nehmen will, kümmert hier niemanden gross, obwohl der Zutritt gemäss Reglement der Betreiberfirma verboten ist. Zu dritt, viert, fünft stehen die Asylsuchenden auf dem kleinen Vorplatz herum, die Köpfe zusammen- die Zigaretten angesteckt. Hier die Afghanen, dort die Tamilen, in der Ecke die Kurden aus dem Irak, beim hohen Zaun die Eritreer. Man komme gut miteinander aus, betonen alle, aber der Sprachgraben verhindere Freundschaften über die eigene Nationalität hinaus.

Aufenthaltsecke unter Tage: Hier schlafen, skypen und plaudern die Bewohner des Asylzentrums.
Aufenthaltsecke unter Tage: Hier schlafen, skypen und plaudern die Bewohner des Asylzentrums.bild: watson

Eine Rampe führt in den unterirdischen Bereich der ehemaligen Operationsstelle. Die fahlgelben Betonwände und die Chromstahl-Waschbecken erinnern an Fussball-Trainingskabinen, der Geruch ebenso: In der Luft hängen schwer die Ausdünstungen, verstärkt durch die flirrende Hitze, die im Sommer nach unten wabert. Tagsüber sei es hier manchmal kaum auszuhalten, sagt Mohammud. Ali, der sich zu uns gesellt hat, pflichtet lachend bei: Ein Gefängnis sei es hier unten, ein kochend heisses. Bis zu 30 Leute teilen sich eine Schlafstätte, Kopf an Kopf schläft man hier, zehn Meter unter dem Kantonsspital, in Bettkonstruktionen, die an umgekippte Getränkeharasse erinnern.

In den winzigen Schlafräume sind mehr als 30 Personen untergebracht – Privatsphäre ist hier ein Fremdwort. 
In den winzigen Schlafräume sind mehr als 30 Personen untergebracht – Privatsphäre ist hier ein Fremdwort. bild: watson

220 Männer wohnten bis vor kurzem in der Gops, kochten miteinander, wuschen gemeinsam, teilten sich ihre Zimmer und ihre Sorgen, ihre Privatsphäre, die lähmenden Angst vor dem Nachher und die beflügelnde Hoffnung auf die Zukunft. Am Montag gab der Kanton bekannt, dass 30 Personen verlegt worden seien. Als Reaktion auf die Messerstecherei. Sie waren Zimmergenossen des 27-jährigen Iraners. Auch der mutmassliche Täter soll eine Verlegung beantragt haben, hiess es kurz nach der Tat. Er halte es nicht länger aus, die Decke falle ihm sonst sprichwörtlich auf den Kopf, soll er geklagt haben. Balz Bruder, Sprecher des Sozialdepartements verneint gegenüber der «Aargauer Zeitung»: Ein entsprechendes Gesuch des mutmasslichen Täters sei nie eingegangen.

Die Asylsuchenden in der Gops können kommen und gehen wann sie wollen. Sie werden betreut von Mitarbeitern der Firma ORS, die auf die Unterbringung von Flüchtlingen spezialisiert ist und wegen ihrer Geschäftstätigkeit auch schon in der Kritik stand. «Die Asylprofiteure», heisst es dann schon einmal.

Im Angebot sind Deutschkurse, Fussballtrainings, manchmal geht es auf den Werkhof. Gegen ein winziges Entgelt werden die Asylsuchenden hier beschäftigt. Arbeit darf man es nicht nennen.

«Das Problem ist, dass die Strukturen in der Schweiz schlicht nicht für mehr als 20'000 Menschen ausgerichtet sind.»

Die ungewisse Zukunft

Unter Psychologen und Psychiatern herrscht eine einhellige Meinung: Enge Platzverhältnisse, fehlende Privatsphäre und eine ungewisse Zukunftsperspektive begünstigen ein Klima, in dem psychische Krankheiten gedeihen. Umso mehr, wenn im Heimatland oder auf der Flucht traumatische Erfahrungen – sei es durch Krieg, Folter oder den Verlust von Familienmitgliedern und Freunden – gemacht worden sind. «Traumatisierte Leute sind schnell reizüberflutet und lärmempfindlich», sagte die Psychologin Sonja Nydegger, Mitarbeiterin des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer im Interview mit dem «Bund». Sarah Michalik, Fachpsychologin und Leiterin des Netzwerks Psy4Asyl stellt fest: «Lichtmangel, enge und karge Räume, insbesondere auch das Fehlen von Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten können die psychische Gesundheit stark belasten.»

Was mich traurig macht: «Zu viele Menschen, viel Lärm, wenig persönliche Freiheit.»
Was mich traurig macht: «Zu viele Menschen, viel Lärm, wenig persönliche Freiheit.»bild: watson

Für Constantin Hruschka von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist klar: «Auf die Unterbringung von Asylsuchenden in unterirdischen Anlagen sollte eigentlich ganz verzichtet werden.» Eigentlich: «Das Problem ist, dass die Strukturen in der Schweiz schlicht nicht für mehr als 20'000 Menschen ausgerichtet sind.» Als Zwischenlösung seien die Anlagen akzeptabel, aber nicht auf Dauer. «Die Absehbarkeit macht den Unterschied aus. Wenn ein Schweizer Dienstpflichtiger eine Woche in einer Zivilschutzanlage verbringen muss, dann findet er das auch nicht schön. Aber er weiss: Nach einer Woche ist es vorbei.»

Abdu, der 18-jährige mit der Frisur eines 80er-Hip-Hoppers – flat top haircut, Schläfengegend kurz geschoren, auf dem Kopf ein in die Höhe ragender monolithischer Haarblock – lebt seit sechs Monaten unter Tag. Er stammt wie Ali und Muhammed aus El Barde, einer Provinz im Südwesten von Somalia. Was wünscht er sich am meisten, was fehlt ihm hier zum Glück? Ein Buchstabe: «Das B», die Aufenthaltsbewilligung. Und dann? Dann will er endlich richtig Deutsch lernen – die Sprachkurse der Betreuer und die zwei Stunden Caritas, das reiche einfach nicht. Und Arbeiten, nur arbeiten, egal was.

«Die Route von ‹Ceel Barde, Somalia› nach ‹Wiesenstrasse 10, 5000 Aarau, Schweiz› konnte nicht berechnet werden.» Wo Google Maps scheitert, reüssierten Abdu und seine Freunde.

Eine Ausbildung hat Abdu nicht, wie auch, er ist geflohen, als er 17 Jahre alt war. Knapp die Schule hinter sich gebracht. Englisch hat er sich auf dem Weg von Somalia in die Schweiz beigebracht. 5,904.97 Kilometer Luftlinie, Tausende Kilometer mehr, wenn man die Umwege und Pausen, die tagelangen Stopps im Niemandsland zwischen Somalia und Libyen, die Autopannen in der sudanesischen Wüste und das Warten auf eine Überfahrt an der libyschen Küste dazurechnet. «Die Route von ‹Ceel Barde, Somalia› nach ‹Wiesenstrasse 10, 5000 Aarau, Schweiz› konnte nicht berechnet werden.» Wo Google Maps scheitert, reüssierten Abdu und seine Freunde.

Abd, 18 Jahre alt, aus Eritrea. Seit 4 Monaten in der Notoperationsstelle des Kantonsspitals Aarau.
Abd, 18 Jahre alt, aus Eritrea. Seit 4 Monaten in der Notoperationsstelle des Kantonsspitals Aarau.bild: watson

Was, wenn das B ein Traum bleibt? Wenn die zuständigen Migrationsbehörden entscheiden, dass Abdus Geschichte Lücken aufweist, dass sein Schicksal ihn nicht dazu berechtigt, in der Schweiz Asyl zu erhalten? Dann ergeht es Abdu so wie Fuaad. Fuaad erhielt den negativen Bescheid. Eine Beschwerde blieb erfolglos. Fuaad, so erzählen Abdu, Ali und Mohammud, wurde apathisch, lag tagelang in seinem Bett und starrte an die Decke. Dann, einen Monat nach dem Bescheid, holten ihn Polizisten aus der Unterkunft ab. Widerstand leistete er keinen, der Wille war längst gebrochen.

Asylzentrum Kantonsspital Aarau

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Asylzentrum Kantonsspital Aarau
Drinnen wird gegessen, draussen geraucht: Vor dem Essenraum im Container.
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Ein Fall, der ratlos macht

Ein negativer Asylbescheid sei Gift für die Stimmung in einer Asylunterkunft, erzählt ein Betreuer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er berichtet von einem Fall aus einer anderen Unterkunft, wo ein junger Afghane nach einem Jahr Warten einen abschlägigen Bescheid erhielt. Trotz exzellenter Deutschkenntnisse, trotz gutem Leumund, trotz überzeugender Fluchtgründe. Auch er wurde von der Polizei abgeholt und in einen Zug nach Italien gesetzt.

«Schau dich doch um, knapp 300 junge Männer auf ein paar Dutzend Quadratmeter. Glaubst du, das geht gut?»

Dass sich die abgewiesenen Asylsuchenden einfach so ihrem Schicksal fügen, ist allerdings längst nicht die Norm. Das Staatssekretariat für Migration zählte im ersten Halbjahr 2016 4833 Asylsuchende, die untergetaucht sind. Weg in ein anderes Land, oder in den Untergrund in der Schweiz. Wie viele Menschen insgesamt untergetaucht sind, weiss niemand. «Wer seine Fingerabdrücke in Italien registriert hat, der verliert keine Zeit», sagt der Betreuer. Oftmals bleibe nur wenige Stunden nach der Rückweisung des Gesuchs ein leeres Bett übrig. Zurück nach Italien will niemand.

Sirag, 20 Jahre alt, Iraker, seit acht Monaten in der Gops.
Sirag, 20 Jahre alt, Iraker, seit acht Monaten in der Gops.bild: watson

Sirag sitzt auf einem Stuhl vor dem Essensbereich im Aussencontainer. Die Sonne scheint dem 20-jährigen Iraki ins Gesicht. In seinen Augen ist der Glanz erloschen. Sirag ist seit einem Jahr in der Schweiz, seit acht Monaten im Bunker. Er stehe ständig unter Strom, könne kaum je entspannen. «Schau dich doch um, knapp 300 junge Männer auf ein paar Dutzend Quadratmeter. Glaubst du, das geht gut?». Er macht sich nicht die Mühe, seine Verzweiflung zu verhehlen. Erst, als die Schutzhülle seines Handys zum Gesprächsthema wird – die irakische Flagge – huscht ein Lächeln über sein Gesicht. «Immerhin, hier stechen sich Sunniten, Schiiten und Kurden nicht gegenseitig ab.» Sirag lacht hohl. Die Religionskriege, die hätten sie zuhause gelassen.

Für die junge Somalier-Connection, die gerade am Mittagstisch sitzt, ist hingegen alles kein Problem. 12 Duschen für 220 Asylbewerber? «No problem», sagt Mohammud, es duschten ja nicht alle zur selben Zeit. 15 Toiletten? «No problem», die Hygiene sei gut, und wenn es einmal irgendwo hapert, dann habe man es ja selber in der Hand, es zu verbessern. Reinigungsdienste werden von den Bewohnern selber übernommen, nur die Putzpläne erstellen die Betreuer.

12 Duschen für 220 Menschen. Bei Vollbelegung sind es gar 300 Personen, die im unterirdschen Bau leben.
12 Duschen für 220 Menschen. Bei Vollbelegung sind es gar 300 Personen, die im unterirdschen Bau leben.bild: watson

«Weisst du», erklärt mir Abdu, indem er mit dem Zeigefinger der linken Hand die Finger der rechten antippt, «mit den Menschen hier ist es wie mit unseren Fingern.» Einige sind klein, andere sind gross, wieder andere sind Durchschnitt. Mohammuds linker Zeigefinger hingegen ist krumm. Erinnerung an eine Gewehrkugel. Abgefeuert von einem somalischen Soldaten. Wieso will er nicht erzählen. «Long story». Ein andermal.

Mohmmuds Erinnerung an eine Begegnung mit dem somalischen Militär.
Mohmmuds Erinnerung an eine Begegnung mit dem somalischen Militär.bild: watson

«In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit sind alle Asylbewerber gleich», sagt einer der es wissen muss, weil er sowohl die Innen- als auch die Aussensicht kennt. «Entweder sind sie notleidend und bedürftig, also gut, oder sie sind schmarotzerisch und verschlagen, also schlecht.» Die Grauzone, das Dazwischen, das Differenzieren, das nehme man in der Schweiz nur für die einheimische Bevölkerung in Anspruch. Dabei bräuchte man nur einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um festzustellen, dass Asylbewerber nicht gleich Asylbewerber ist. «Vor 25 Jahren, als der Balkan im Chaos versank, hatten wir die letzte grosse Flüchtlingskrise. Damals waren es Kroaten, Bosniaken, Serben und Kosovo-Albaner, die in die Schweiz gekommen sind. Im Gegensatz zu den heutigen Asylsuchenden hatten sie – unabhängig von ihrem persönlichen Leiden – einen grossen Vorteil: Die Hautfarbe. Wenn du aus Nigeria, Eritrea oder Somalia kommst, kannst du deine Herkunft nicht verbergen».

«Die ignorieren unsere Regeln»

Mohammed, Afghane, 19 Jahre alt, seit vier Monaten in der Gops.
Mohammed, Afghane, 19 Jahre alt, seit vier Monaten in der Gops.bild: watson

Mit den Nachbarn von der Wiesenstrasse verstehe man sich gut, sagt Mohammed, ein 19-jähriger Paschtune aus Afghanistan, der seit vier Monaten in der Gops wohnt. Anfangs seien ab und zu misstrauische Blicke geworfen worden, mittlerweile habe sich das aber gelegt. Zwei FDP-Politiker sehen das anders. Sie haben, unabhängig vom Todesfall vom vergangenen Samstag, eine Anfrage beim Stadtrat deponiert, wie die «AZ» berichtet. Das Verhalten der jungen männlichen Asylsuchenden, schreiben die Lokalpolitiker, falle immer wieder und zum Teil massiv negativ auf. «Insbesondere befremdet das Ignorieren unserer Regeln zum Verhalten in der Öffentlichkeit. Neben Flaschen und Dosen werden auch Nahrungsmittel über die Gartenmauern von Privatliegenschaften geworfen.» Weiter sei am Maienzugabend im Schachen «das unsittliche Verhalten dieser männlichen Personen wahrgenommen worden». Der Hinweis, solches sei in der Schweiz nicht tolerierbar, sei ignoriert worden, zitiert die «AZ» weiter. Auch hier sei neben Arroganz, Alkohol im Spiel gewesen.

«Zehn Jungs auf der einen, zehn auf der anderen Seite. Tönt krass, oder?»

Einer der Betreuer lacht über die angeblichen Eskapaden seiner Schützlinge und liefert eine Anekdote. «Vor einiger Zeit gab es hier eine Streiterei, eine sogenannte Massenschlägerei, wie es nachher in den Zeitungen hiess. Zehn Jungs auf der einen, zehn auf der anderen Seite. Tönt krass, oder? Auf den Bildern der Überwachungskamera sind Mülltonnen und Stühle zu sehen, die durch die Gegend fliegen. Ein heilloses Durcheinander. Aber glaubst du, irgendjemand hätte jemandem auch nur einen Faustschlag verpasst? Eine Platzwunde, das war alles. Und auch die kam nur zustande, weil einer der Raufbolde stolperte und mit dem Hinterkopf an die Betonwand prallte. Die Jungs machen manchmal einen auf dicke Hose, aber im Grunde sind sie harmlos. Und manchmal brauchen sie auch einfach nur eine Schulter, um sich daran auszuweinen.»

Beim Ausgang treffe ich Sirag wieder, den jungen Mann mit den traurigen Augen. Ob man für den Artikel nicht vielleicht ein anderes Foto verwenden könne? Es zeigt ihn vor türkisblauem Wasser, Silberkette um den Hals, in einem Shirt der Alabama-State-University, den Blick skeptisch in die Kamera gerichtet.

«Immerhin stechen sich meine Landsleute hier nicht gegenseitig ab.»
«Immerhin stechen sich meine Landsleute hier nicht gegenseitig ab.»bild: zvg

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86 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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7immi
24.08.2016 10:58registriert April 2014
Die unterkünfte wären auch gut genug für uns schweizer, würde ein notfall eintreten. dafür wurden sie ja gebaut. um im notfall der zivilbevölkerung schutz zu bieten. ich kann mir also nicht vorstellen, weshalb sie für ausländische asylsuchende nicht reichen sollte. klar gibt es schöneres, es ist jedoch sicher und trocken und man bekommt essen, fliessend wasser und strom. und das umsonst. es geht hier um einen notfall und nicht um feriengäste! wichtig ist der schutz und nicht das wellnessprogramm oder die seesicht.
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CASSIO
24.08.2016 10:46registriert Februar 2014
Falscher Titel! "Das Leben in Sicherheit" wäre die entsprechende Überschrift.
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m:k:
24.08.2016 11:22registriert Mai 2014
Ich verstehe jeden der nach Europa flüchtet und hier ein besseres Leben sucht. Aber man muss auch realistisch sehen - gerade angesichts des Bevölkerungswachstum in Afrika - dass dies nicht Jahrzehnte so weitergehen kann. Jetzt gäbe es noch die Chance, die wirtschaftliche und politische Situation zu verbessern und so die Fluchtursachen zu bekämpfen. In den kommenden Jahren wird der Druck grösser. Ich habe genauso Angst vor einer möglichen gewalttätigen Abschottung Europas wie vor einem unkontrollierten Flüchtlingsansturm.
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