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Du willst nur das Beste? Voilà:
Wenn du zu einem Interview mit einem 93-jährigen jüdischen Schweizer fährst, der den Holocaust überlebt hat, erwartest du einiges. Einen gebrochenen Menschen vielleicht, psychisch wie physisch. Womöglich verbittert und mit der Welt hadernd.
Aber du erwartest nicht einen Wirbelwind wie Bronislaw Erlich!
Der Hochbetagte ist verblüffend jung geblieben: Ich habe 63-Jährige getroffen, die deutlich ungesünder aussehen. Und der Herr ist auch nicht auf den Mund gefallen!
«Als ich zwölf war, tobte der Abessinien-Krieg mit Mussolini», sprudelt es gleich zu Beginn des Gesprächs aus ihm heraus. «Seither interessiere ich mich Gott sei Dank für Politik. Natürlich verfolge ich auch das Zeitgeschehen!»
Es gibt viel zu bereden, denn der Mann hat viel durchlebt: Der Sohn einer polnischen Schneiderfamilie, der heute sechs Sprachen spricht, wächst mit seinen drei Geschwistern nahe Warschau auf. Nach der Schule beginnt er eine Drucker-Lehre, doch der deutsche Überfall auf Polen 1939 bereitet seiner Jugend ein jähes Ende. Die Eltern schicken ihr Kind in den sowjetischen Teil Polens, der 1941 ebenfalls besetzt wird.
Erlich kommt 1942 ins KZ von Wołkowysk, doch dank gefälschter Papiere bleibt seine jüdische Identität geheim. Er landet in Thüringen, wo er den Knecht für einen Bauern spielen muss. Nach der Befreiung 1945 lernt er seine spätere Frau in Weimar kennen, geht mit ihr zurück nach Polen und kommt über Israel und Deutschland 1961 in die Schweiz, wo er sich mit seiner Frau und den beiden Kindern niederlässt.
Erlich ist ein kritischer Mensch – das meint auch selbstkritisch. «Unter den Juden gibt es sicher auch Rabauken. Es gibt kein Volk oder Land, das nur aus Engeln besteht.» Über seine Gemeinde spricht er mit Selbstvertrauen («Unter den Nobelpreisträgern gibt es eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Juden. Das erfüllt einen mit Stolz!») und in Sachen Religion setzt er auf Toleranz («Unser Rabbi hat einmal gesagt: Zum Glauben kann man niemanden zwingen»).
Mit watson sprach Bronislaw Erlich über den Holocaust, Neonazis und Antisemitismus.
watson: Herr Erlich, wachen Sie nachts immer noch auf?
Bronislaw Erlich: Ja, jede Nacht. Regelmässig.
An was müssen Sie dabei denken?
Ich denke: Warum musste meine Mutter sterben? Mit 45 Jahren! Und mein Vater? Mit 52!
Und ihr jüngster Bruder starb ebenfalls im KZ Treblinka ...
15-jährig! Wem hat das genutzt? Wer braucht das? Und ich überlege immer: Unter welchen qualvollen Umständen sind sie gestorben? Denn Juden durften nicht einfach sterben, das war zu leicht. Sie mussten qualvoll sterben. Sie mussten leiden. Und das plagt mich: Ich sehe meine Mutter vor meinen Augen, diese gute Mutter, die uns Kinder so unendlich geliebt hat.
Ihre Eltern haben Sie nach dem deutschen Überfall 1939 in den Zug gesetzt und in den russischen Teil Polens geschickt. Brach der Kontakt ab?
Ich habe vor Beginn des Russlandfeldzugs von 1941 ein Lebensmittelpaket geschnürt und aus der sowjetisch besetzten Zone ins Ghetto nach Warschau geschickt. Es hat meine Familie erreicht, und ich war so stolz und glücklich. Ich bin es bis heute. Meine Mutter hatte mir daraufhin in einem Brief geschrieben, was für ein wunderbarer Tag das war, als das Paket angekommen ist. Sie hatte ja auch nicht gewusst, ob ich noch lebe. Als der Brief angekommen ist zusammen mit einem Foto, habe ich das genommen, bin ins Feld gelaufen, auf den Boden gefallen und habe geheult wie ein Schlosshund.
Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion sind Sie 1942 im Alter von 19 Jahren in das Lager von Wołkowysk gekommen. Welche Erinnerung ist am stärksten?
Die an die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, dass man in solchen Baracken nicht leben kann, sondern nur sterben. Die ganze jüdische Bevölkerung von Wołkowysk wurde dort konzentriert, damit es einfacher und handlicher war, sie zur Vergasung ins 90 Kilometer entfernte Treblinka zu schicken. Ich war nur 24 Stunden da, aber es hat mir gereicht. Es war fürchterlich eng, es gab weder Licht noch Wasser oder Essen. Das Gejammer, das Geschrei ... Es war wie die Hölle von Dante.
Wie kamen sie dort heraus?
Am nächsten Tag kam ein Lastwagen und sie suchten Leute für Arbeit. Worum ging es? Wir wurden in die Stadt gefahren und mussten jüdische Wohnungen filzen. 40 oder 50 Leute aus dem Arbeitskommando wurden dann im städtischen Gefängnis untergebracht, dort bekamen wir auch zu essen.
Es muss schrecklich gewesen sein, die Sachen anderer Juden durchwühlen zu müssen ...
Natürlich hat mir das wehgetan. Ich musste immer daran denken, dass meinen Eltern das Gleiche passiert ist.
Was wurde mit den persönlichen Gegenständen gemacht?
Die Sachen wurden in ein Lager zum Sortieren und dann nach Deutschland gebracht.
Wo ja angeblich niemand etwas gewusst hat ...
Jede deutsche Familie hatte einen Mann, einen Bruder oder einen Cousin in der Armee: Alle haben es gewusst. Aber ich will deswegen niemandem einen Strick um den Hals legen.
Später wurden Sie selbst zum Arbeiten in das Land der Täter geschickt ...
Ich habe Deutschland gehasst wie die Pest. Als die Amerikaner im April 1945 in das Dorf in Thüringen einmarschiert sind, in dem ich war, war ich der einzige an der Strasse, der sie herzlich begrüsst und Zigaretten bekommen hat. Seit diesem Moment ist mein ganzer Hass auf Deutschland wie weggewischt. Die Zigaretten habe ich dann dem Bauern geschenkt, bei dem ich arbeiten musste und mit dem es vorher einen Konflikt gab.
Was war passiert?
Es war eigentlich eine Lappalie. Er glaubte, ich wollte ihn mit einer Mistgabel erstechen und hat die Polizei gerufen. Die haben mich verprügelt und gesagt: «Mach dich bereit, morgen kommen wir wieder und hängen dich auf!» Warum sie dann doch nicht kamen, weiss ich nicht.
Aber niemand wusste wegen der gefälschten Geburtsurkunde, dass sie jüdisch sind.
Woher denn? Aber ich habe bei dem Bauern etwas gelernt: Einmal war mir beim Essen mit der ganzen Familie eine Kartoffel auf den Boden gefallen und weil man besonders im Krieg das Essen schätzt, habe ich sie genommen, gesäubert und gegessen. Da sagte die Bäuerin: «Wärst du ein Jude, würdest du diese Kartoffel nicht mehr essen.» Diese «Weisheit» war mir nicht bekannt.
Nach dem Motto, der Jude sei sich zu fein?
Man hat sich die schlimmsten Verleumdungen ausgedacht. Der geldgierige Blutsauger, der christliche Kinder schlachtet und Brunnen vergiftet. Was die Juden nicht alles sind ... Die Leute brauchen einen Sündenbock. Die folgenschwerste Lüge über die Juden war jedoch die, dass die Juden Jesus gekreuzigt haben.
Wie konnten Sie so schnell verzeihen?
Denen, die unmittelbar am Morden beteiligt waren, werde ich nie verzeihen. Wie soll ich denn verzeihen, dass meine Mutter unter solchen Qualen gestorben ist? Ich kann nicht verzeihen, aber den Hass auf das Volk, das weggeschaut hat, habe ich abgebaut.
Ist der Deutsche der ewige Nazi?
Es sind ja nicht nur sechs Millionen Juden umgekommen. Es sind auch Millionen deutscher Soldaten und Hunderttausende deutscher Zivilisten im alliierten Bombenhagel umgekommen – durch den Krieg, den Hitler angezettelt hat. Heute lebt das deutsche Volk in einer Gemeinschaft friedliebender europäischer Nationen. Die Schande, die Hitler seinem Namen zugefügt hat und die dieses Volk seither mit sich herumträgt, hat es nicht verdient.
Lässt sich das ändern?
Um Hitler vor der Weltöffentlichkeit symbolisch eine Ohrfeige zu verpassen, schlage ich vor, ihm in einem feierlichen Akt die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Das wäre eine Genugtuung für alle, die so viel leiden mussten. Hitler wurde Deutscher, um im Ersten Weltkrieg in die Armee einzutreten. Man sollte ihn deshalb auch symbolisch degradieren: von einem Oberbefehlshaber zu einem jämmerlichen Gefreiten.
Antisemitismus ist allerdings keine Erfindung von Hitler. Sie haben die alte Mär erwähnt, die Juden hätten Jesus getötet.
Judas, der Christus für 30 Silberlinge verkauft hat ... Es gibt aber einen Haken an der Geschichte: Christus lebte in Judäa, er war doch selbst Jude. Und die Juden sollten Steuern an die Römer zahlen und den Mund halten. Jesus wurde schliesslich gekreuzigt, weil er für die Römer ein Unruhestifter war. Beim Abendmahl soll Judas Jesus durch einen Kuss verraten haben. Dabei hat sich Jesus nie versteckt: Er hat offen gepredigt, Kranke geheilt und Hungrige genährt. Die Römer wussten, wo er wohnt, sie hätten gar keinen Judas gebraucht. Aber Antisemiten haben Judas gebraucht.
Zumal Christentum und Judentum gemeinsame Wurzeln haben ...
Der Antisemitismus beruht auf Neid, Eifersucht und Missgunst. Er ist ein Widerspruch zum Christentum. Dieses ist ja aus dem Judentum entstanden, die Zehn Gebote von Moses stehen in beiden Religionen für Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Brüderlichkeit.
Haben Sie persönlich nach dem Krieg Antisemitismus erleben müssen?
Gegen mich persönlich nicht, aber ich habe viele polnische Kollegen, mit denen ich noch sehr guten Kontakt habe. Sie schicken mir manchmal Artikel, die mit dem Holocaust zu tun haben. Es gibt mit Radio Maria auch Radiosender in Polen, der noch nicht mitbekommen hat, dass der Papst Antisemitismus als Sünde gebrandmarkt hat.
Was denken Sie, wenn Sie heutzutage Neonazis sehen, die jährlich gegen die Bombardierung Dresdens protestieren?
Diese mit Dummheit geschlagene Neonazis verstehen nicht ... Natürlich war eine Bombardierung im Februar 1945 militärisch vielleicht nicht notwendig: Die Russen standen schon bei Breslau, die Amerikaner schon am Rhein. Aber Hitler hat gezeigt, wie man gegen eine Zivilbevölkerung Krieg führt. Das hat die Legion Condor in Spanien in Guernica schon 1936 trainiert, und Hitler hat dann den Krieg ganz bewusst begonnen, um das europäische Judentum zu vernichten. Er war so ein hasserfüllter Antisemit: In schweren Zeiten hat er die Wehrmacht nicht mit Lastwagen beliefert, weil er mit ihnen lieber Juden nach Auschwitz deportiert hat. Er hat Warschau zerstört und indirekt auch Dresden. Schuld an den dortigen Opfern trägt Hitler, nicht die Amerikaner.
Zumal der Krieg für Berlin im Februar 1945 schon klar verloren war.
Hitler hätte kapitulieren und den Deutschen so Millionen Tote ersparen können. Er war bereit, seine Volksgenossen alle erdenklichen Leiden auskosten zu lassen, um sein eigenes, jämmerliches Leben ein paar Tage zu verlängern. Am 1. September 1939 wurde Warschau erbarmungslos bombardiert, in Schutt und Asche gelegt – ohne Vorwarnung und ohne Kriegserklärung. Ich habe diese Bomben selbst erlebt – sechs Jahre vor Dresden. Daran sollen diese verblendeten Nazis denken.
Seit 1961 leben Sie in der Schweiz und haben von hier aus Israels Zeitgeschichte verfolgt.
Während der Suezkrise, dem Sechstagekrieg und dem Jom-Kippur-Krieg schwoll meine Brust vor Stolz an: Die «armen Juden» haben sich bewiesen. Sie haben Krieg geführt, weil ihr Leben bedroht war und nicht, um zu missionieren oder ihr Gebiet zu vergrössern. Ich sage «arme Juden», weil sie damals als unsoldatisch betrachtet wurden – dabei haben im Zweiten Weltkrieg eineinhalb Millionen Juden in den Armeen der Alliierten gedient und als Partisanen in Polen, Weissrussland, der Ukraine und anderswo gekämpft.
Die Juden im Deutschen Reich konnten nicht kämpfen ...
Sie waren chancenlos, aber im Warschauer Ghetto haben sie trotzdem den Aufstand gewagt. Vom 19. April bis 16. Mai 1943 wurde dort gekämpft – mit blossen Händen, Gewehren, Granaten und Sprengstoff, die der polnische Untergrund besorgt hat.