Warum hat die Schweiz nach der Relegation von Reto Berra in Floridas Farmteam keinen NHL-Goalie? Eine Antwort auf diese Frage hat Nationaltrainer Patrick Fischer ungewollt am letzten Dienstag im Rahmen seines offiziellen Medienauftrittes vor dem Deutschland Cup gegeben. Sie dauerte weniger lang, als ein Puck von der blauen Linie ins Tor braucht. Auf die Frage, ob ein Goalietrainer mit zum Deutschland Cup komme, war seine Antwort «Nein».
Bereits zur WM in Moskau waren die Schweizer ohne Goalietrainer gereist. Das ist ungefähr so wie wenn Tom Lüthi bei einem GP-Einsatz auf einen seiner besten Mechaniker verzichten würde.
Was sagt uns das? Wie können wir aus einer so banalen Fragestellung die Antwort auf ein so komplexes Thema finden? Nun, diese Antwort sagt uns, dass in unserem Hockey die internationale Entwicklung unterschätzt oder vielleicht sogar verkannt wird.
Ein Blick zurück hilft beim Verständnis. David Aebischer und Martin Gerber brachten es bis in die NHL und zum Stanley Cup, weil sie in ihrer Generation Rebellen waren. Sie taten viel mehr als ein Trainer von ihnen verlangte, sie trainierten intensiver, besser als ihre Zeitgenossen. Und Jonas Hiller sowie Reto Berra sind in Davos von Marcel Kull ausgebildet worden. Vom wohl besten Goalietrainer im Land. An der Basis von vier NHL-Karrieren stehen also der Wille, viel mehr zu leisten, neue Wege zu gehen und eine sehr gute Grundausbildung.
Im internationalen Hockey hat vor gut zehn Jahren eine Entwicklung eingesetzt, die noch lange nicht abgeschlossen und in der Schweiz nach wie vor nicht ganz erkannt worden ist.
Eishockey ist zum «totalen» Sport geworden: Intensität und Tempo sind so hoch wie noch nie. Talent, das einen Torhüter noch vor zehn Jahren bis in die NHL brachte, reicht nicht mehr. Training, das noch vor zehn Jahren die Voraussetzung für die NHL war, genügt nicht mehr.
In den grossen Hockeynationen – vor allem in Skandinavien – ist das Training bei den Junioren ab Stufe Novizen enorm intensiviert worden. Luca Cereda, der erst als Nachwuchstrainer auch auf Verbandsstufe (U 18) arbeitete und heute die Ticino Rockets coacht, hat kürzlich in diesem Zusammenhang im Gespräch mit der Fachzeitschrift «Slapshot» eine interessante Aussage gemacht:
Eishockey wird inzwischen so schnell gespielt, dass Training nach dem Verständnis des letzten Jahrhunderts nicht mehr genügt. Ein neues Element ist dazu gekommen: Die Artistik. Will heissen: das gezielte Training der technischen Fähigkeiten. Dafür braucht es hochqualifizierte Spezialisten, die Spezialtrainings durchführen und in der Nachwuchsarbeit neue Dimensionen des Trainingsumfanges. Weil technische Vollkommenheit und Stilsicherheit durch ständige Wiederholung erreicht werden. Drill ist das veraltete Wort. Intensives Spezialtraining die richtige Bezeichnung.
In den 1990er Jahren sind die entscheidenden Impulse für die Entwicklung unseres Hockeys vom Verband (Swiss Ice Hockey) ausgegangen. Der damalige Sportdirektor Peter Zahner (heute Geschäftsführer der ZSC Lions) hat die Nachwuchsausbildung, die Programme der Junioren-Nationalteams ausgebaut. Es war die Zeit, als beim Verband der Sport, die sportliche Entwicklung, das Primat über das Geld hatte. Die Wechselwirkung der Impulse aus dem Verband und der Arbeit bei den Klubs bescherte unserem Hockey einen Entwicklungsschub.
Inzwischen mahnt der Verband an eine kommerziell höchst erfolgreiche Eishockey-Firma, die ihre Forschungsabteilung vernachlässigt. Die Nationalmannschaft verzichtet auf einen Torhütertrainer und auf Verbandsebene teilen sich Thomas Bäumle und der ZSC-Goalie-Coach Stephan Siegfried gerade mal ein 80-Prozent-Pensum. Die Junioren-Nationalteams bieten bei ihren Zusammenzügen jeweils einen Goalietrainer aus den Klubs auf.
Wenn die Schweiz wieder Weltklassetorhüter herausbringen möchte, dann braucht es für alle Stufen der Junioren Verbandsauswahlteams – U16, U17, U18 und U20 – mindestens zwei vollamtliche Torhütertrainer mit einer hundertprozentigen Festanstellung, die zusätzlich während des ganzen Jahres Spezialcamps anbieten und die Zeit und Gelegenheit bekommen, sich laufend international weiterzubilden.
Es ist möglich, diese Spezialisten in unserem Hockey zu rekrutieren. Und bei jedem Zusammenzug von Patrick Fischer müsste mindestens ein Torhütertrainer dabei sein. Ein Quantensprung in der Ausbildungsarbeit im Vergleich zum letzten Jahrhundert ist erforderlich. Und übrigens nicht zur in Bezug auf die Goalies – auch bei den Spezialtrainings für Verteidiger und Stürmer.
Natürlich gibt es viele Faktoren, die auch zum «Aussterben» der Schweizer Torhüter in der NHL beitragen haben. Das ist einmal der Trend zu immer grösseren Torhütern und unser Mangel an Goalies mit NHL-Postur. Und es gibt gerade in einer Hockeynation wie der Schweiz mit einem beschränkten Potenzial eine natürliche Wellenbewegung. Nicht jeder Jahrgang bringt Ausnahmespieler hervor.
Aber diese Faktoren alleine erklären das Ausbleiben von internationale tauglichen grossen Torhütertalenten nicht. David Aebischer, weit gereist, der erste Schweizer Dollar-Millionär in der NHL und Stanley Cup-Sieger, heute Goalietrainer bei Gottéron, sagte kürzlich der «NZZ am Sonntag»: «Wir haben in den letzten Jahren die Entwicklung verschlafen.»
In einer idealen Welt kommt dem Verband im Erkennen dieser internationalen Entwicklung, in der Anpassung der Trainingsmethoden in Zusammenarbeit mit den Klubs eine Schlüsselrolle zu. Das hat sich in den 1990er Jahren so eindrücklich gezeigt.
Aber heute gibt es beim Verband eine starke Konzentration auf Marketing und Geldbeschaffung. Der sportliche Pioniergeist, die Neugier auf internationale Entwicklungen, die Leidenschaft für den Sport sind nicht mehr stark genug. Verbandsgeneral Florian Kohler hat bei der Geldbeschaffung seine Hausaufgaben brillant erfüllt und einem TV-Vertrag über 35,50 Millionen pro Jahr für Verband und Liga herausgeholt. Wenn er sich nun mit der gleichen Leidenschaft der sportlichen Entwicklung zuwendet und dafür die entsprechenden Budgets bereitstellt, ist das der erste Schritt zu einer Entwicklung, die uns bis in zehn Jahren vielleicht wieder einen Weltklasse-Goalie beschert.
Vorerst müssen wir uns darauf einstellen, dass die Schweiz bei einer WM in naher Zukunft erstmals in der Geschichte ohne Weltklasse-Goalie auskommen muss. Reto Berra und Leonardo Genoni, die jüngsten, die dieses Prädikat verdienen, sind schon 29. Dahinter gibt es zurzeit nur ein Talent, dem Beobachter NHL-Potenzial attestieren: Joren van Pottelberghe (19). Und Martin Gerber kann an einem guten Abend immer noch einer der besten der Liga sein. Er ist 42 Jahre alt.