Rösti bremst Tempo 30: Eine Stadt stellt sich schon mal quer
«Road Rage» nennt man, wenn im Strassenverkehr die Sicherungen durchbrennen. Verkehrspsychologen beobachten, dass die Sitten auf der Strasse bei zunehmender Dichte verrohen.
Der Frust auf dem Asphalt findet seine Fortschreibung in der Politik. Spätestens seit das Parlament den Bundesrat mit einer neuen Regelung zu Tempo-30-Zonen beauftragt hat, streitet das Land mit neuer Leidenschaft über das Zusammenleben von SUVs, Cargo-Velos und Fussgängern.
Verkehrsminister Albert Rösti will auf dem Verordnungsweg das Einrichten von 30er-Zonen erschweren. Statt Temporeduktionen sollen in Zentren Flüsterbeläge zum Einsatz kommen – und zwar überall dort, wo die Strasse vor allem dem motorisierten Individualverkehr dient. Diese heissen – wenn auch im Strassenverkehrsgesetz etwas schwammig definiert – «verkehrsorientierte Strassen».
Die Verordnung geht zurück auf eine Motion von Peter Schilliger. Der FDP-Nationalrat und TCS-Verwaltungsrat will die «Hierarchien» der Strassen gesetzlich regeln. Früh zeigt sich, wie schwierig dieses Unterfangen wird. Denn im Schweizer Strassenverkehrsnetz regiert der Wildwuchs.
Das beginnt schon bei der Statistik. Niemand weiss, wie viele Strassenkilometer der Schweiz von der neuen Regel betroffen wären – und damit, wie viel sie eigentlich kostet. Weder das Bundesamt für Strassen, noch die Kantone oder die verschiedenen Lobbyorganisationen. Gewiss ist nur: Von den rund 85’000 Kilometern befinden sich rund 2000 in der Verantwortung des Bundes, 17’000 gehören den Kantonen und der überwiegende Rest den Gemeinden.
Unterschiedliche Beläge in Stadt und Land
Das Resultat ist ein Flickenteppich, wie das Beispiel Bern beweist. Kantonsingenieur Stefan Studer sieht sich durch Röstis Vorschlag bestätigt: «Die vom Bundesrat vorgesehenen Änderungen sehen genau dasselbe vor, wie wir es heute bereits im Kanton Bern praktizieren und wie es auch andere Kantone bereits so handhaben», schreibt er auf Anfrage. Bereits seit Jahren setze das Tiefbauamt auf Kantonsstrassen zur Erfüllung der Lärmgrenzwerte «primär auf lärmarme Beläge». Bereits rund 150 Kilometer habe der Kanton so gebaut.
Ganz anders das Bild aber in der Stadt Bern. Lediglich einige wenige Strassen, darunter die Bundesgasse und der Ostring, sind mit sogenanntem Flüsterbelag ausgestattet.
Dieser Stadt-Land-Graben zieht sich auch durch andere Regionen der Schweiz. Der Kanton Baselland etwa hat binnen zwei Jahren ungefähr gleich viel lärmarmen Belag eingesetzt wie sein städtischer Nachbar in einer Dekade.
Gründe dafür gibt es mehrere. Zum einen entfaltet ein Flüsterbelag seine Wirkung am besten ab einer Geschwindigkeit von mehr als 50 Stundenkilometern – im Stadtgebiet eher selten. Zum anderen braucht ein lärmarmer Belag eine gewisse Schichtdicke, was in einem historisch gewachsenen Netz aus Gas-, Wasser- und Stromleitungen oft nicht möglich ist. Und zuletzt leiden bereits jetzt viele Städte unter einer Vielzahl von Baustellen – die geringe Lebensdauer dieses Belags würde diesen Umstand noch verschlimmern.
Sam Lanners ist Co-Präsident von Cercle Bruit, der Vereinigung kantonaler Lärmschutzfachleute. Er sagt: «Der Bundesrat hätte die Motion Schilliger deutlich schärfer umsetzen können.» Die Städte und Gemeinden werden ihre 30er-Zonen künftig umfassender begründen müssen. Möglich bleibe es aber trotzdem. «Denn an vielen Orten wird ein Flüsterbelag nicht ausreichen, um die Lärmgrenzwerte einzuhalten.» Lanners sieht auch eine positive Seite der Verordnung: «Sie wird manchen Kantonen, die bislang gar nicht oder nur wenig auf lärmarme Beläge setzen, zum Umdenken motivieren.»
Dass Lanners Recht behalten könnte, zeigt ein Blick nach Zürich. Dort schreibt das Tiefbauamt auf Anfrage: «Nur verkehrsorientierte Strassen» gäbe es in einer Stadt, «in der weiter siedlungsorientiert verdichtet wird» gar keine. Mit anderen Worten: Die neue Verordnung lässt sich gar nicht auf Zürich anwenden. Noch bis 5. Dezember läuft die Vernehmlassung aus dem Departement Rösti. Ein Ende der Debatte mit weiterem Frustpotenzial ist indes nicht abzusehen. (aargauerzeitung.ch)