Er jammert nicht und bringt es auf den Punkt. Chris McSorley sagt, er habe die einzige Schwäche beim SCB erkannt: «Der Materialwart.» Es steht in dieser Serie 1:1. Aber das Ende ist trotzdem absehbar: Es wird ein Untergang mit Spektakel. Wie bei allen bisherigen Serien gegen den SCB.
Ob Sieg oder Niederlage, ist sowieso einerlei: Chris McSorley inszeniert seine Auftritte auf der grossen Playoffbühne mit Charme und Charisma. Und nie ist das Theaterstück besser und die Bühne grösser und heller ausgeleuchtet als gegen den SC Bern. Der Kanadier in seiner besten Rolle: allein gegen den übermächtigen SC Bern. Gegen die Schiedsrichter. Gegen die Liga-Mafia. Gegen die Deutschschweiz. Überhaupt gegen die ganze Welt und das Universum. In der Wirkung auf das Publikum eine Mischung aus Che Guevara, Robin Hood, Christian Constantin und General Guisan.
Einmal mehr fragen wir uns: Warum zum Teufel verschwendet Chris McSorley sein Talent und seine Energie in Genf? Mit einem Team, das wegen der knappen Finanzen nominell kaum besser ist als jenes der «Miserablen» aus Rapperswil-Jona. Warum mischt er unser Hockey nicht in Bern, Zürich oder Lugano auf?
Ein Blick zurück liefert uns die Antwort auf diese Frage. Die amerikanische Anschutz Entertainment Group sucht zu Beginn dieses Jahrhunderts nach Investitionsmöglichkeiten in der Schweiz, entscheidet sich für Genf und hat in London einen jungen Coach unter Vertrag. Chris McSorley. Er kann Selbstvertrauen.
Anschutz-Hockey-Manager Dave Taylor, eine NHL-Legende, ruft Chris an. Ob er einen Job in Festland-Europa wolle? Ja, gewiss. Bald wird um Geld verhandelt. Chris verlangt unverschämt viel. Das könne man sich nicht leisten sagt Taylor. Chris kontert, Anschutz könne sich nicht leisten, auf McSorley zu verzichten. Frechheit siegt. Er bekommt den Job.
Zwei Jahre später fasst er den Auftrag, in Genf ein Hockey-Unternehmen aufzubauen. So kommt ein Farmboy aus Ontario in die Stadt Calvins. Er steht inzwischen in seiner 18. Saison und hat aus Servette das bestfunktionierende Sportunternehmen der Romandie gemacht. Hätte er die kommerziellen Möglichkeiten eines neuen Stadions, wäre ein Titelgewinn möglich.
Servettes grosser Zampano stammt aus einer grossen Hockey- und Farmerfamilie. Der Grossvater Farmer und Schiedsrichter, der Vater Farmer und Spieler. Die McSorleys wachsen auf einer Farm in Cayuga in Ontario auf. Bill und Anne haben zehn Kinder, die es alle im Leben zu etwas bringen: Catherine, Paul, Jack, Chris, Marty, Gerry, Doug, Peter, Maureen und Elizabeth.
Sieben wilde Boys, und Chris ist der Wildeste. Aber er zieht sich im Alter von zehn Jahren bei einem Autounfall Rückenwirbelverletzungen zu, die seine Spielerkarriere einschränken. Aber nicht seinen Kampfgeist. Er bringt es in seiner wildesten Saison in 75 Spielen auf 545 Strafminuten, investiert aber seine Energie bereits mit 27 in eine Karriere als Coach.
Mit fanatischer Akribie arbeitet er härter als seine Konkurrenten. Sämtliche Spieler hat er beispielsweise im Computer erfasst. Nicht nur statistisch. In einem besonderen Bewertungsbogen werden auch Eigenschaften wie Laufen, Beweglichkeit, offensive und defensive Spielintelligenz, Arbeitseinstellung, Disziplin, Härte oder Kampfgeist erfasst und zwischen 1 und 7 benotet. Vor dem Spiel zählt er die Noten des gegnerischen Teams zusammen, stellt die eigenen Spieler dagegen und wählt so seine Taktik. Es ist die Zerlegung des Eishockeys in alle Einzelteile, wie sie in dieser Art und Weise vor ihm in der Schweiz unbekannt war.
So gelingt es ihm, spielerisch weit überlegene Titanen im Schach zu halten. Wie jetzt den SCB. Oder gar zu demütigen. Wie kürzlich die ZSC Lions.
Das erste Spiel in der Schweiz verliert er in der NLB am 15. September 2001 gegen Olten noch kläglich 0:1, und nach fünf Runden hat er schon dreimal verloren. Aber am Ende steht ein Rekord: Mit bloss fünf Niederlagen führt er Servette im Frühjahr 2002 in die NLA zurück.
Inzwischen hat er immerhin zweimal das Finale erreicht (und verloren). 2008 gegen die ZSC Lions und 2010 gegen den SCB. Und zweimal den Spengler Cup gewonnen (2014 und 2015).
Chris McSorley strebt nach sportlicher und wirtschaftlicher Kontrolle. Erst ist er Coach und General Manager. Als Anschutz im Sommer 2004 aussteigt, kauft er mit einer Investorengruppe Servette. «Der beste Entscheid meines Lebens», sagt er heute.
Wohl wahr. Seine Anteile hat er inzwischen neuen Besitzern abgegeben und im Gegenzug einen Rentenvertrag mit Laufzeit bis 2024 und rund 800'000 Franken Salär pro Jahr ausgehandelt. So konnte sich der charismatische Kanadier letzte Saison beruhigt für ein Jahr in die Position des Sportchefs zurückziehen. Und wenn sein Präsident in den Medien von einem möglichen Trainerwechsel fabuliert, so kann er das getrost ignorieren. Im Wissen um seine Unentlassbarkeit.
Mögen also die Besitzer wechseln, zu nordamerikanischen Milliardären und nun zu einer in Genf domizilierten Stiftung – es kümmert ihn wenig. Mag der SCB am Ende auch dieses Viertelfinale gewinnen – es schadet seiner Popularität in der Stadt nicht. Obwohl er nach wie vor kein Französisch spricht. Hier wird er längst als «Jesus Chris» verehrt. Was ihm keineswegs zu Kopfe steigt. Er relativiert mit Selbstironie: «Jesus? Das sind grosse Sandalen.»
In keiner anderen Hockeystadt könnte er auch nur annähernd so populär werden wie in Genf. Titel haben in Bern, Zürich oder Lugano schon andere geholt und letztlich heisse es: Meister, na und?
In Genf aber ist er längst ins «sportliche Nirwana» eingezogen: Er ist der einzige Trainer im Profihockey, dessen Position, Popularität, Ansehen, Ehre, Ruhm und Salär nicht mehr von Sieg und Niederlage abhängig sind.
Mehr geht nicht. Auch nicht mit einem Titelgewinn oder einem Triumph über den SCB.