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Interview mit Kinderarzt Daniel Vilser über Long Covid bei Kindern.

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Long Covid bei Kindern: «Eltern sollen nicht in Panik verfallen»

Daniel Vilser ist einer der wenigen Ärzte, die sich mit Long Covid bei Kindern auskennen. Er rät seinen Kollegen dringend, die Symptome der Kinder ernst zu nehmen. Eine Abschottung der Kinder findet er aber falsch.
01.10.2021, 10:35
Sabine Kuster / ch media
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Für Erwachsene mit Long Covid gibt es in der Schweiz in fast allen Spitälern Anlaufstellen, für Kinder fehlt diese Hilfe. In Deutschland hingegen registrieren die Long-Covid-Teams für Kinder an den Spitälern in München und Jena eine grosse Nachfrage. An der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Jena wurde das Angebot diesen Januar gestartet. Behandelt werden Folgeerkrankungen einer Coronainfektion – manchmal auch nach dem akuten Entzündungssyndrom PIMS. Die meisten allerdings klagen über Symptome, obwohl ihre Infektion milde verlief.

epa09426816 A nasal swab sample is collected from a child at a COVID-19 testing site in Los Angeles, California, USA, 23 August 2021. EPA/CAROLINE BREHMAN
Auch Kinder können nach einer Corona-Infektion an Long Covid erkranken. Dabei sind die am stärksten betroffene Gruppe die Teenager.Bild: keystone

Wie alt sind die Kinder, die zu Ihnen wegen Long Covid in die Behandlung kommen?
Daniel Vilser:
Das jüngste ist 8 Monate alt, das älteste 18 Jahre. Am stärksten ist die Gruppe der Teenager betroffen, 14- bis 17-Jährige.

Wie kann man bei einem acht Monate alten Baby sagen, ob es Long Covid hat?
Es ist schwierig. Ein Baby kann die typischen Symptome für Long Covid wie verminderte Belastbarkeit, Kopfschmerzen oder Konzentrationsstörungen nicht mitteilen. Aber zu Long Covid gehört auch ein veränderter Schlafrhythmus. Das von Corona genesene Baby hatte Schlafapnoe, also Atemaussetzer in der Nacht, die dann langsam besser wurden. Ob es andere Gründe als die Coronainfektion dafür gab, ist schwierig zu sagen.

Daniel Vilser, Kinderarzt und Kardiologe in Jena, Deutschland.
Daniel Vilser, Kinderarzt und Kardiologe in Jena, Deutschland.Bild: zvg

Also fällt auch bei Kindern die Diagnose von Long Covid manchmal schwer?
Nicht nur manchmal, sondern immer. Es ist noch schwieriger als bei Erwachsenen, weil sie sich schlechter ausdrücken können. Hinzu kommt, dass die Lockdown-Massnahmen für die Kinder und Jugendlichen vermutlich schlimmer waren und deshalb nicht immer klar abzugrenzen ist, ob ihre Probleme vielleicht dem Lockdown-Stress geschuldet sind.

Bei Erwachsenen arbeitet man vor allem mit besserer Einteilung der Kräfte. Wie machen Sie das bei den Kindern?
Kinder haben teilweise andere Symptome. Mal sind Schmerzen das hauptsächliche Problem, mal Riechstörungen oder Haarausfall. Bei der verminderten Belastbarkeit gibt es zwei Gruppen. Die einen bekommen nach Belastungen einen regelrechten Crash mit Erschöpfung und chronischer Müdigkeit und sind dann so ausgepowert, dass sie bettlägerig sind. Viele andere kommen einfach nicht mehr an ihre vorherige körperliche Leistungsgrenze - da ist Belastung nicht so schädlich und wir können mit Physiotherapie aufbauen.

Eine einzige gültige Behandlung gibt es also nicht?
Nein. Und da die Symptomatik so diffus ist, ist es wichtig, dass wir zuerst andere Ursachen ausschliessen, wie eine Erkrankung der Nieren oder Schäden an der Lunge. Wichtig ist uns, dass die Kinder in die Schule gehen können. Bei einem relevanten Teil ist das nicht möglich. Da müssen wir schauen, dass die Kinder in irgendeiner Form unterrichtet werden können. Stundenweise zum Beispiel.

«Man muss Kinder ernst nehmen, wenn sie über die Krankheit und die Langzeitsymptome berichten.»

Es gibt unterschiedliche Schätzungen, wie viele der an Corona erkrankten Kinder Long Covid entwickeln. Die Zürcher Ciao- Corona- Studie geht von 1.5 bis 2 Prozent aus. Wie sehen Sie das?
Die Schweizer Studie hat gute Daten und ist sorgfältig gemacht. Ich nehme die Häufigkeit auch eher in diesem unteren Prozentbereich an. Es gibt eine neue, grosse Studie aus England (CLoCk-Studie), die auf Fragebögen beruht und somit subjektiv ist. Bei der Kontrollgruppe der Kinder und Jugendlichen, die nie Corona hatten, berichteten 16 Prozent nach drei Monaten von mehr als drei Long-Covid-typischen Symptomen, bei jenen, deren PCR-Test positiv war, waren es 30 Prozent. Daraus zogen die Autoren den Schluss, dass vermutlich 14 Prozent Corona geschuldet sei. Das erscheint mir zu viel.

Das heisst also auch, dass viele Symptome, welche zu Long Covid gehören, auch sonst oft im Leben auftauchen?
Ja, viele dieser Symptome sind häufig und es gab sie schon vor der Pandemie – gerade bei Jugendlichen. Das macht die Trennung schwierig. Aber es heisst nicht, dass es Long Covid bei Kindern nicht gibt! Man muss sich Mühe geben und die Ursachen trennen. An die Adresse der Kinderärztinnen und Kinderärzte möchte ich dazu sagen: Man muss Kinder ernst nehmen, wenn sie über die Krankheit und die Langzeitsymptome berichten.

«Ein erneute Abschottung der Kinder ist ein so massiver Eingriff in die psychische Gesundheit, dass dieses Risiko schwerer wiegt, als wenn sich ein Kind mit Corona infiziert.»

Wie steht es mit den Heilungschancen?
Bei Kindern und Jugendlichen gibt es eine hohe Spontanheilungsrate. Mit jeder Woche, die vergeht, gibt es einen deutlich geringeren Anteil an Betroffenen, die noch Symptome haben. Die Prognose ist in diesem jungen Alter wirklich gut. Aber ich habe auch eine 17-jährige Patientin, die seit April 2020 in Behandlung ist.

Wie lange dauert die durchschnittliche Behandlung?
Das habe ich noch nicht statistisch aufgearbeitet. Dies auch, weil wir erst seit März/April 2021 relevante Patientenzahlen haben. Das heisst, die meisten Kinder sehen wir erst seit ein paar Monaten.

Aber Sie haben auch geheilte Kinder?
Ja, ich habe Kinder, die nach drei Monaten nichts mehr haben. Bei anderen sind die Symptome milder geworden. Bei der dritten Gruppe haben sich die Beschwerden nicht verändert oder sie haben sich verschoben, das heisst, die Kinder haben heute andere Probleme.

«Maskentragen, Testen und kurzzeitiges Isolieren der Infizierten ist eine gute Strategie, bis wir für die Kinder einen geeigneten Impfstoff haben.»

Es ist schwierig, die Kinder unter 12 Jahren ohne eine Impfung zu schützen. Soll man die Durchseuchung zulassen?
Ich stimme einer Durchseuchung nur ungern zu. Wenn man aber grossflächige Ansteckungen verhindern möchte, müssten konsequenterweise die Kinder wieder in eine Art Lockdown. Und da bin ich der Meinung, dass eine erneute Abschottung der Kinder ein so massiver Eingriff in die psychische Gesundheit ist, dass dieses Risiko schwerer wiegt, als wenn sich ein Kind mit Corona infiziert.

Was raten Sie den Eltern in der aktuellen Situation?
Kinder können ab dem Schulalter ganz gut mit Masken umgehen. Ab dann beginnen sie vernünftig zu werden und machen ja auch andere Dinge, zu welchen sie die Erwachsenen anweisen. Im Winter, wenn in den Schulzimmern nicht mehr so oft gelüftet wird und wenn – wie es bis jetzt aussieht – versäumt wurde, spezielle Lüftungen anzubringen, muss man darauf achten, dass die Infektionen nicht zu sehr um sich greifen. Dazu gehört dann auch das Tragen von Masken. Maskentragen, Testen und kurzzeitiges Isolieren der Infizierten ist eine gute Strategie, bis wir für die Kinder einen geeigneten Impfstoff haben.

Das passiert wohl dieses Jahr nicht mehr.
Nein, die ersten Ergebnisse werden zwar noch diesen Monat erwartet, aber bis ein Impfstoff für Kinder bei den Zulassungsbehörden durch ist, wird es noch dauern.

Manche Eltern fürchten um die Gesundheit ihrer Kinder.
Ja, aber die Eltern sollen nicht in Panik verfallen und die Kinder deswegen aus der Schule nehmen. Das wäre nicht richtig. Es gibt andere Infektionskrankheiten bei Kindern, die Probleme machen, aber auch nicht dazu geführt haben, dass man eine Familie ein Jahr lang zuhause isoliert.

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