Es gibt nichts Schöneres als Nachrufe zu schreiben. Klingt morbid, ist aber so. Weil da alles zusammen kommt: Eine runde, in sich geschlossene Geschichte, das Material eines ganzen Lebens, die Sentimentalität, die in jedem Abschied steckt, Trauer, überhaupt Gefühle ohne Ende. Einen Nachruf zu schreiben, ist das perfekte journalistische Gefäss.
Jede gute Redaktion – auch diese hier – hat den einen oder anderen Nachruf bereits auf Halde liegen, welche, verraten wir selbstverständlich nicht, nur soviel, H.R. Giger und Jörg Schneider etwa waren schon Monate vor dem Hinscheiden der beiden vorbereitet. Manchmal weiss man eben was. Oder ahnt es. Wie die berühmten Katzen, die in Altersheimen und Spitälern die Todgeweihten heimsuchen.
Die Zeitung mit der weltbesten Totenbewirtschaftung ist die «New York Times», denn sie besitzt seit ihrer Gründung 1851 eine ganze Redaktion, die sich um nichts anderes als Nachrufe kümmert. Sie schreiben im Schnitt drei pro Tag und über tausend im Jahr. Das klingt erstmal nach viel. Doch weltweit sterben täglich um die 155'000 Menschen. Alle mit einer ganzen Geschichte.
Ressortleiter William McDonald beschreibt die Auswahl für den «Death Desk» so: «Wir konzentrieren uns auf Menschen, die auf der grossen Bühne einen Unterschied gemacht haben. Menschen, von denen wir denken, dass sie das breiteste Interesse erreichen. Wenn du im Leben Schlagzeilen gemacht hast, ist die Chance gross, dass du sie auch im Tod machen wirst.» Trotzdem würdigen sie regelmässig auch Menschen, deren Verdienste weit grösser als ihre Berühmtheit ist. Menschen? Männer vor allem. Am liebsten: weisse Männer.
Und wie kommt's? «Anders als der Rest des Newsrooms deckt das Nachrufe-Ressort die Vergangenheit ab und nicht die Gegenwart», schreibt McDonald. «Unsere Seiten reflektieren die Welt von 1975, 1965, 1955 oder noch früher: Sie sind ein Rückwärtsspiegel, der die Welt zeigt, wie sie war. Nicht wie sie ist und nicht, wie wir sie uns wünschen würden. Und so liegen wir – zum Beispiel geschlechter- und rassendynamisch betrachtet – unvermeidlich eine oder gar drei Generationen zurück.»
Konkret heisst das: Auch 2016 und 2017 traf auf vier Nachrufe über Männer nur einer über eine Frau. Ganz viele gingen vergessen. Weshalb die «New York Times» anlässlich des Frauentags 2018 damit angefangen hat, bedeutende Frauen aus den letzten 167 Jahren ordentlich nachzurufen.
Jede Woche kommen seither neue dazu. Etwa Emily Warren Roebling, die Ingenieursgattin, die einsprang, als ihr Mann erkrankte, und dafür sorgte, dass die berühmte Brooklyn-Bridge fertig gebaut wurde – jahrelang schaute der bettlägerige Gatte von seinem Schlafzimmer aus mit einem Feldstecher den Bauarbeiten zu. Oder die chinesische Lyrikerin und Revolutionärin Qiu Jin, die «Wein, Schwertkampf und Bombenbasteln» liebte, und dafür 1907 mit 31 Jahren geköpft wurde.
Oder die afroamerikanische Transgender-Aktivistin Marsha P. Johnson, die für Andy Warhol modelte und 1969 eine wichtige Rolle in der New Yorker Schwulenbewegung rund um Stonewall spielte. Sie wurde 46 Jahre alt und lebte fast immer auf der Strasse. Oder die Bergsteigerin Alison Hargreaves, die 1995 ohne Sauerstoff den Mount Everest bezwang. Nur drei Monate später starb sie auf einer K2-Expedition.
Die «New York Times» arbeitet so voller Engagement ein Stück Kultur-, Gesellschafts- und vor allem Mediengeschichte auf, und dass dies bei den Leserinnen und Lesern ein Hit wird, steht ausser Frage. Man muss sich nur einmal die Einschaltquoten unserer Serie Frauen der Geschichte anschauen, um zu wissen: Hier besteht trotz eines halben Jahrhunderts an Women's- und später Gender-Studies noch immer enorm viel Nachholbedarf und Interesse.
Was an der Arbeit des New Yorker Death Desks am meisten überrascht, sind die Superstars der Kulturgeschichte, die zum Zeitpunkt ihres Ablebens offenbar nicht bedeutend genug waren, um in die Auswahl der täglichen drei Toten zu kommen. Etwa die Programmiersprachen-Pionierin Ada Lovelace (1815–1852), die «Jane Eyre»-Verfasserin Charlotte Brontë (1816–1855), die Fotografin Diane Arbus (1923–1971) und die Dichterin Sylvia Plath (1932–1961).
Bitte? Diese vier Superstars der Kulturgeschichte, über die doch schon ein paar Jahrzehnte an Neuauflagen, Verfilmungen, Ausstellungen und Forschung vorliegen, erhielten keinen Nachruf in der «New York Times»? Nein, erhielten sie nicht. Dass sie vergessen gingen beziehungsweise «übersehen wurden», wie die «New York Times» schreibt, fühlt sich von heute aus gesehen etwa so an, als hätte man in den letzten Jahren Amy Winehouse, Whitney Houston oder Frida Kahlo übersehen. Einigermassen unverständlich. Oder nur allzu verständlich.
Die Antwort liegt auf der Hand: That was patriarchy, baby.