«Das Leben der Frauen im Iran hat nur zwei Seiten: Die eine ist schwarz, die andere weiss. Wenn sich die Frauen nach draussen begeben und spazieren gehen, ist ihre Gestalt unter dem entsetzlichen Schwarz der Trauer verborgen, und nach ihrem Tod werden sie in das weisse Leichentuch gehüllt. Und ich, die ich eine dieser unglücklichen Frauen bin, ziehe das weisse Leichentuch jener schrecklichen Trauergestalten vor; ich weigere mich beharrlich, dieses Kleidungsstück zu tragen.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Tâdsch os-Saltane hat diese Sätze 1914 niedergeschrieben. Sie sind Teil ihrer Memoiren – und die ersten, die eine iranische Frau zu Papier brachte.
Sie war die Tochter des persischen Schahs Nâser ed-Dins, «Gottes Schatten auf der Welt», dem Herrscher Irans, der fast 50 Jahre lang – von 1848 bis 1896 – auf dem Sonnenthron sass. 26'000 Edelsteine schmücken diesen Stuhl. Sein Globus besteht aus 35 Kilo Gold und über 51'000 Juwelen. Der Schah liebte den Glanz – und vielleicht liebte er die Frauen noch mehr.
«Seine Majestät, mein gekrönter Vater, hatte ungefähr 80 Frauen und Konkubinen. Eine jede von ihnen verfügte wiederum über zehn bis zwanzig Bedienstete, womit sich die Zahl der Frauen des Harems auf 500, wenn nicht gar 600 belief.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Der Schah frönte also der Vielehe, doch war die Einehe auch im Iran des späten 19. Jahrhunderts der Normalfall. Die königlichen Frauen lebten alle in einem gesonderten Teil des Golestan-Palastes in Teheran, der unter der Kontrolle des Obereunuchen und seinen etwa 40 ebenfalls entmannten Bediensteten stand. Sie sorgten dafür, dass niemand unbefugt in die Räume der Frauen hereinspazierte.
Um diesen Harem zu betreten, müssen wir uns erst alle verwestlichten Vorstellungen, alle orientalistischen Träumereien von einem sich räkelnden, nackten Frauenhaufen aus dem Kopf schlagen.
Die Monobraue galt als schön und wenn der weibliche Schnurrbart von Natur aus nicht vorhanden war, so zeichneten ihn sich die Frauen mit Kajal nach. Ab den 1920ern galt dies nicht mehr als attraktiv, sondern im Gegenteil als rückständig und vermännlicht.
Begeistert war der Schah auch von den Tutus russischer Balletttänzerinnen, die er auf einer seiner Europareisen erstmals zu Gesicht bekommen hatte. Sofort führte er die kurzen, aufgestellten Röcke an seinem Hof ein.
Der Harem war ein Ort der Macht, denn nicht zuletzt konnte man über die Frauen an den Schah herankommen. Und das war im königlichen Iran alles. Die ganze Politik war auf ihn ausgerichtet. Es gab nichts ausser der persönlichen Loyalität zum Herrscher, alle Ämter wurden danach vergeben. Es existierten keine eigenständigen Institutionen, Dienst war allein Dienst am Schah.
Auch die Frauen selbst hatten teilweise erheblichen Einfluss auf ihren Mann, allerdings gab es unter ihnen eine strenge Hierarchie, die nach dem rechtlichen Status ihrer Ehe bemessen wurde. Nâser ed-Din hatte vier richtige Ehefrauen (Adqi), von denen mindestens eine aus dem königlichen Geschlecht der Kadscharen stammen musste. Der legitime Kronprinz konnte nur von einer Frau der herrschenden Dynastie geboren werden. Unsere Protagonistin Tâdsch war die Tochter einer Adqi.
Daneben gab es die Ehefrauen auf Zeit (Sighe), deren Zahl unbegrenzt war, und die meist aus einfachen Verhältnissen stammten. Die Lieblingsfrau des Schahs trug den Titel Sugoli. Den Rest des Harems stellten die Konkubinen und Sklavenmädchen.
Die Frauen durften Verwandte empfangen und den Palast nach Belieben verschleiert verlassen. Viele der Damen waren Grossgrundbesitzerinnen, einige bereisten sogar Europa, übernahmen ein Verwaltungsamt oder repräsentative Aufgaben. Nâser ed-Dins Lieblingsfrau, Anis ad-Doule, empfing die Frauen der europäischen Gesandten.
Jede hatte ihre eigene Unterkunft und erhielt die ihrem Status entsprechende Apanage aus der königlichen Kasse, über welche die Schah-Mutter mit strengem Blick wachte.
«Hätte jemand die Frauen gefragt: ‹Was ist denn Mühsal?› So hätten sie ihn gewiss voller Erstaunen und Verwunderung angeblickt und wären, anstatt eine Antwort zu geben, reglos verharrt und hätten gar nicht verstanden, was er meinte.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Die Haremsdamen waren gläubige Schiitinnen und hielten die Gebets- und Fastenzeiten eisern ein. Den Nachmittag verbrachten sie grösstenteils damit, sich herauszuputzen. Denn es galt jeden Tag von Neuem, den anderen Frauen den Rang abzulaufen und so die Zuneigung des Schahs zu gewinnen. Wenn sie also unter etwas zu leiden hatten, dann war es die Eifersucht.
«Infolge des Neids und der Eifersucht, die der Himmel den Frauen bereits in die Wiege gelegt hat, war der so mächtige König nie in der Lage, seine Liebe und seine Zuneigung zu einer bestimmten seiner Frauen oder zu seinen Kindern offen zu zeigen.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Um dieser misslichen Lage zu entkommen, habe der Schah seine Gunst einzig und allein auf Babri Khan gerichtet – seine über alles geliebte Katze. Überall im Palast hingen Bilder von dem Tierchen, es hatte eine Ersatzmutter, seine eigenen Diener und wurde nur mit den ausgewähltesten Leckerbissen gefüttert. Wer sich beim Schah einschmeicheln wollte, tat gut daran, erst der Katze seine Reverenz zu erweisen.
Tâdsch klagt an dieser Stelle bitterlich, dass ihr geliebter Vater sich lieber seinem vierbeinigen Babri Khan, als dem Vorwärtskommen seines Landes zugewendet habe.
«Leider waren in dieser Zeit alle in völliger Untätigkeit versunken, niemand hatte auch nur die geringste Ahnung davon, was das wahre Menschsein ausmacht, alle steckten sie knietief in dem Morast ihrer Schandtaten und Schlechtigkeiten.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Irgendwann ertrugen die Frauen die Katze nicht mehr länger. Dieses Tier, das ihnen die Liebe des Schahs raubte. Sie packten es und ertränkten es im Brunnen.
Um über die herrschenden Freund- und Feindschaften seines Harems genauer Bescheid zu wissen, erfand Nâser ed-Din das Lampenlöschspiel, an dem die weniger noblen Frauen mit Freuden teilnahmen:
«Das Spiel bestand darin, dass die Lampen gelöscht wurden und in der Dunkelheit alle Frauen absolute Freiheit genossen. Es stand ihnen frei, einander zu küssen, sich zu prügeln, zu beissen, die Augen auszukratzen, die Köpfe einzuschlagen oder sich gegenseitig die Arme zu brechen.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Nâser ed-Din hatte eine eigenwillige Art, der frisch eingeführten Elektrizität zu frönen: Wenn er den Lichtschalter betätigte, erfüllte ein ohrenbetäubendes Geschrei den Saal, die Zarten verkrochen sich ängstlich unter dem Sofa, während die Wütenden wild auf ihre Nebenbuhlerinnen eindroschen. Ging das Licht wieder an, lachten alle über den Irrsinn und die Kleider, die ihnen in Fetzen an den blutigen Körpern hingen.
Die Verletzten wurden hinausgetragen und alle bekamen Geld für neue Gewänder.
Der Schah stammte aus dem türkischstämmigen Geschlecht der Kadscharen, die Ende des 18. Jahrhunderts an die Macht kamen. Nâser ed-Din bestieg den Thron 1848, da war er gerade mal 17 Jahre alt. Er litt unter seinem Grosswesir Amir-e Kabir, dem zweiten Mann im Staate, der wie ein übermächtiger Vater über ihm schwebte und das Land mit seinem beharrlichen Reformbestreben zu modernisieren versuchte. Er gründete die erste Zeitung und die erste Hochschule des Landes, baute Dämme, Brücken und Fabriken.
Amir-e Kabir wurde 1852 auf das tatkräftige Betreiben der Schah-Mutter hingerichtet; man öffnete dem Mann die Pulsadern und erdrosselte ihn.
Nâser begrüsste diese Entwicklung – endlich wurde er nicht mehr wie ein Kind behandelt. Dreizehn Jahre lang verzichtete er auf einen Grosswesir, doch dann wurde der Schah müde. Die Höflinge gierten unaufhörlich nach Geld und schreckten auch nicht davor zurück, ihre eigenen Schmutzgeschäfte mit den Europäern zu machen.
Iran und Afghanistan wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zur Pufferzone zweier Mächte, die die direkte Konfrontation scheuten: Die Briten versuchten, ihr Kronjuwel Indien zu schützen, während die Russen vom Norden her dem Land immer näher kamen.
Also vergab der Schah Konzessionen, die Monopolen gleichkamen. Er verkaufte sein Land an die Europäer: Die Briten betrieben die Telegraphen und die Ausbeutung des Öls, die Russen erhielten umfassende Fischereirechte und gründeten eine Bank. Ein Teil der Gewinne floss dabei immer in die königliche Kasse.
Selbst die Reformen überliess Nâser ed-Din den Ausländern, womit er die europäische Überlegenheit auf technischem Gebiet anerkannte: Die Russen reformierten das iranische Heer, während die Belgier das Zollwesen und die Österreicher das Postwesen umgestalteten.
Die eigenen Landsleute blieben dabei oft auf der Strecke. Ihre Arbeit wurde von Europäern ausgeführt. Mit Hilfe der Geistlichen, die sich geschickt als Anwälte des Volkes darzustellen vermochten, wussten sie allerdings einige Konzessionsvergaben zu verhindern.
Der Schah zog sich indes immer mehr von den Regierungsgeschäften zurück. Er liebte die Jagd und reiste oft mitsamt seinem Hofstaat – einigen tausend Personen – im Land umher. Die Unsummen, die dafür benötigt wurden, trieb der Grosswesir ein. Am liebsten durch steuerliches Auspressen der Bevölkerung.
Dennoch wird der Schah als mitfühlend und warmherzig beschrieben. Stets hielt er öffentliche Audienzen ab, um die Anliegen seiner Untertanen anzuhören. Streitereien ertrug er ganz und gar nicht. Seine Harmoniebedürftigkeit ging so weit, dass ihm bei jedem Zwist sofort schlecht wurde und er sich übergeben musste – oder zu weinen anfing.
Tâdsch erzählt in ihren Memoiren noch von einer anderen Seite ihres Vaters – von seiner innigen Liebe zu einem jungen Mädchen. Sie war die Schwester einer seiner Frauen und trug den Namen Mahrokhsar, Mondwange.
«Das Seltsame daran war, dass dieses zwölfjährige Mädchen seine Liebe und Zuneigung für meinen Vater offen zum Ausdruck brachte und diese Liebe voller Aufrichtigkeit und Redlichkeit mit kindlichen Gesten unterstrich. So rannte die Kleine, sobald sie meinen Vater erblickte, auf ihn zu, warf sich ihm in die Arme und sagte unter Tränen: ‹Ach! Bist du endlich gekommen? Heute hat man mich zehnmal mehr geschlagen, und das nur, weil mir deinetwegen das Herz so eng geworden ist und ich geweint und dein Bild geküsst habe.›»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
«Der Schah liebt dich auch», antworte Nâser ed-Din dann. Ihr Vater sei nun mal in dieser Liebe gefangen gewesen, schreibt Tâdsch rechtfertigend weiter, und dies sei auch verständlich, denn die Liebe dieses Kindes war rein, und der Schah ansonsten nur umringt von einem Heer aus Heuchlern und Speichelleckern.
Die grosse Schwester des Mädchens aber ertrug diese Liebe nicht. Der Schah versuchte sie mit hohen Geldsummen, Häusern und teurem Schmuck zu besänftigen, doch es half nichts.
«In Wahrheit war sie zu jener Zeit die wahre Herrscherin Irans.»
Tâdsch os-Saltane über die Schwester Mahrokhsars
Um das Mädchen doch noch heiraten zu können, stimmte der «unglücklichste Herrscher» den Bedingungen der Schwester zu, und richtete dem Kind eine Wohnung ausserhalb des Harems ein. So sah sich der Schah gezwungen, des Nachts aus dem Palast zu schleichen, «um seiner Liebe zu frönen».
Widmen wir uns nun unserer eigensinnigen Protagonistin, der Schah-Tochter Tâdsch os-Saltane. Vorausgeschickt sei hier, dass uns aus ihren Memoiren eine sehr zwiespältige Persönlichkeit entgegentritt. Ein durch ihre royale Abkunft gänzlich verwöhntes Kind, das nichts ausser Verbeugungen und bedingungslose Ergebenheit erfahren hatte. Doch unterlässt sie es nicht, sich selbst schamlos und mit aller Härte zu kritisieren.
«Hätte ich zum Beispiel aus Versehen eine wertvolle Vase zerbrochen, so hätte man zu mir allenfalls gesagt, die Vase sei wertvoll gewesen und es sei schade um sie. Hätte ich sie aber absichtlich zerschmettern wollen, wäre dies in Ordnung gewesen. Man begegnete mir immer nur unterwürfig und anbiedernd. Jede Sensibilität war mir genommen worden, desgleichen Rachegelüste, geblieben war nur meine Selbstgefälligkeit.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Tâdsch versucht, sich ihr Leben, ihren Charakter und ihr Land zu erklären, alles das, was so gewaltig schief gelaufen war.
Dabei führt sie alle Fehler auf ein grosses Manko zurück, das sie bei allen Menschen ihres näheren Umfeldes und ganz besonders bei den Frauen erkennt: den Mangel an Bildung.
«Bei genauer und vernünftiger Betrachtung erkennen wir nämlich, dass wir all die neuen Errungenschaften, die grossartigen lobenswerten Entdeckungen sowie unsere Kenntnisse über Handel, Politik und Krieg den Müttern zu verdanken haben. Denn alle Persönlichkeiten, die Grosses in der Geschichte bewirkt haben, waren die Kinder von gebildeten Müttern, die sie beschirmten und schützten und ihnen ihre Aufmerksamkeit widmeten; von solchen Müttern und von fortschrittlichen, kenntnisreichen Vätern wurden sie erzogen.»
Tâdsch os-Saltane, Memoiren
Mit der Mutter beginnt für Tâdsch alles. Ist diese nicht gebildet, so werden auch ihre Kinder schlechte Charakterzüge und moralische Unzulänglichkeiten entwickeln.
Sie selbst wurde, wie es auch in den iranischen Adelskreisen üblich war, nicht von ihrer Mutter, sondern von einer Leibdienerin und einer Amme erzogen. Die Mutter stillte ihr Kind selbst nicht, und nach gängigem Glauben nahm das Kind mit der Muttermilch auch die Charaktereigenschaften ihrer Ammen an.
Tâdsch liebte ihre schwarze Leibdienerin sehr, sie schreibt auch gegen die Haltung von Sklaven und Bediensteten an, die vom Schah, seinen Höflingen und Haremsdamen erniedrigt wurden, nur «um sich selbst respektabler zu fühlen». Doch im Grunde geht es ihr darum, dass ihre Erzieherinnen «keinen Anstand und keine Bildung» hatten und sich dies sehr zu ihrem Leidwesen auch auf sie übertrug.
Ihrer Mutter wirft sie vor, die einfache Liebe und Verbundenheit zu ihrem Kind gegen eine falsche Förmlichkeit eingetauscht zu haben. Unter diesem Liebesentzug leidet Tâdsch sehr, die Beziehung zur Mutter ist bis zum Gefrierpunkt erkaltet.
Mit sieben Jahren besucht Tâdsch die Schule im Palast und macht ihrem Hauslehrer das Leben schwer. Denn züchtigen darf man die Schah-Tochter nicht, selbst dann nicht, wenn sie den verhassten Lehrer mit Schiesspulver versengt. Sie wollte doch nur einen Tag frei haben, um mit ihren Puppen zu spielen.
Nur zwei Jahre später wird Tâdsch auf Betreiben Anis od-Doules, der Lieblingsfrau des Schahs, verheiratet. Mit einem dicklichen Jungen namens Hasan, der etwa ein Jahr älter ist als sie. Sein Vater befehligt die Garde des Schahs – und er selbst ist schon Herrscher über einen eigenen Palast, ein Haus randvoll mit eigenen Leibdienern.
Tâdsch rennt sofort davon, als sie ihn zum ersten Mal sieht.
An ihrer Verlobungsfeier trägt das achtjährige Mädchen eine Mütze aus Baumwolle mit zwei künstlichen Ohren, an denen die von Edelsteinen besetzten Ohrringe baumeln. Auf den goldenen Stuhl muss sie hochgehoben werden, ihre Füsse baumeln einen halben Meter über dem Boden.
Tâdsch wird krank und magert ab.
«Gibt es denn wohl ein grösseres Unglück, als im Alter von acht Jahren, ein Kind noch, einen Ehemann zu bekommen? Einen Gatten, für den sich weder Herz noch Verstand entschieden haben, sondern der vielmehr von Mutter und Grossmutter aufgrund von altmodischen, sinnentleerten Vorstellungen ausgewählt wurde?»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Vier Jahre sollte sie noch im Harem leben. Dann wird ihr geliebter Vater ermordet. Und sie muss zu ihrem Gatten ziehen.
Weil der Schah ein Leben lang die Nähe zu seinen Untertanen pflegte, war es auch leicht möglich, ihn zu beseitigen. Am Tag vor seinem 50. Regierungsjubiläum nähert sich Mirza Reza Kermani dem für alle erreichbaren Herrscher als Bittsteller – und erschiesst ihn.
Um den Tod des Königs vorerst geheimzuhalten, setzte man dessen Leiche aufrecht in die Kutsche und der Grosswesir Atabak winkte mit der steif gewordenen Hand des Schahs der Menge zu.
Kermani hatte sich gerächt. Für die Grausamkeiten, die ihm durch Tâdschs Bruder Kamran angetan worden waren. Er war der Stellvertreter des Schahs, wenn sich dieser auf Reisen befand. Und er liess Kermani einkerkern und foltern. Ein falsches Geständnis hatte er so aus ihm herausgepresst.
Kermani gab zu, ein Babi zu sein, ein Anhänger einer vordergründig religiösen Gemeinschaft, die sich 1844 gebildet hatte und vor allem schonungslose Kritik an der Regierung übte, die für so viele Ungerechtigkeiten und Missstände im Land verantwortlich war: die ungerechten Steuererhebungen, den immensen Einfluss der Grossmächte, die Zensur. Nicht zuletzt forderten die Babis auch eine Verbesserung der Lage der Frau. Sie wurden unter Nâser ed-Din mit aller Härte verfolgt, mehr als 20'000 Babis wurden gefoltert und hingerichtet.
Kermani war keiner von ihnen, er hatte dem Schah nur einen kritischen Brief geschrieben. Dafür liess ihn Tâdschs Bruder Kamrani zusehen, wie sein Sohn ausgepeitscht und seine Tochter entehrt wurde.
Als die Nachricht vom Attentat auch den Harem erreicht, brechen die Frauen in entsetzliche Trauerklagen aus und rennen unverschleiert auf die Strassen. Tâdsch ist gerade dabei, sich die Augenbrauen schwarz zu färben, die Tönung hängt noch über ihren Augen, als sie aus ihrem Zimmer stürmt und ihrer Mutter in die Arme läuft.
«Warum musst du ausgerechnet heute deine Augenbrauen färben?», fragt die Mutter erbost – und straft die respektlose Tochter mit ein paar harten Schlägen. Verwirrt und ängstlich versucht sich Tâdsch nun die Farbe abzuwaschen, doch diese will einfach nicht abgehen. Also rasiert sie sich die ganzen Brauen weg und erfährt in dieser würdelosen Aufmachung von der Ermordung ihres Vaters.
«Ich sah zusätzlich zu meiner Trauer auch noch ziemlich lächerlich aus.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Jede Nacht ist fortan erfüllt vom Gewimmer der Witwen, die des Tags damit beschäftigt sind, ihre Juwelen und sonstigen Habseligkeiten aus dem Harem zu schaffen.
Denn mit der Ankunft des neuen Schahs, Tâdschs Bruder Mozaffar ed-Din Schah, mussten sie den Palast räumen. Der neue Herrscher hatte seine eigenen Frauen, seine eigenen Bediensteten und Verwandten, denen er Titel zu geben gedachte. Einzig der Grosswesir Atabak behielt seinen Posten.
«Wenn ich heute an damals zurückdenke, durchfährt mich ein Schauer, und ich wundere mich, wie unbeständig diese Welt doch ist; alle Privilegien, alle Macht, Grösse, Reichtum und Glück betrachte ich nur mit Verachtung.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Für Tâdsch ist der Iran nun endgültig verloren. In Scherben liege ihr geliebtes Königreich, ihr Bruder verscherble es endgültig an die Ausländer, und der Hof gleiche einem Freudenhaus.
Ein Haufen unzivilisierter Lumpen habe der Bruder da angeschleppt, der jegliches königliches Protokoll missachte. Musikerinnen und Prostituierte gingen ein und aus im Palast, nichts ausser Unzucht werde in diesen ehrenvollen vier Wänden getrieben. Einige der edlen Damen wollen gar ein Foto gesehen haben, das den Schah beim Geschlechtsverkehr mit einer Stute zeigt.
Tâdsch ist froh, kann sie diesem Ort entfliehen. Doch ihre Ehe lebt sich nur wie ein weiteres Kapitel ihres unglücklichen Lebens.
1897 zieht die dreizehnjährige Tâdsch in den Palast ihres Gatten Hasan Khan.
«Ich selber fand mich aussergewöhnlich schön wie eine Königin oder Göttin, und ich wunderte mich, dass mein Ehemann nicht vor mir niederkniete und mich anbetete.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Hasan hockt sich beim ersten Zusammensein in ihrem gemeinsamen Zimmer auf den Boden und beginnt Papierdämonen zu basteln. Tâdsch glaubt, in einem dieser Pappfiguren ihren toten Vater zu erkennen. «Hasan will mich verhöhnen!», denkt sie und reisst den Schnipseldämon in Fetzen.
Zwei Kinder, die sich nicht mögen, sind hier in einer Ehe gefangen. Er wäscht sich nie die Hände, sie weist ihn deswegen zurecht, er schmiert den Schmutz trotzig an die samtenen Vorhänge. Beide verlieben sich in andere Menschen, er vornehmlich in junge Tänzer ohne Bart, mit denen er unzählige Affären hat.
Währenddessen bringen die Europareisen des Schahs das Land an den Rand des Ruins. Nichts bringt er nach Hause als Bäume, die auf dem Weg verwelken und Juckpulver, das er in die Betten seiner Kammerdiener streut, um sich dann über deren lächerliche Verrenkungen zu amüsieren.
Tâdsch kriegt ein Jahr später ihr erstes Kind, ein hübsches kleines Mädchen. Es mag der Auslöser dafür gewesen sein, dass die junge Frau sich immer mehr für Bildung, für Erziehung und für die Rechte der iranischen Frauen zu interessieren beginnt. Sie lernt Französisch und lässt sich in Geschichte unterrichten.
Und als sie die Natur als die treibende Kraft des Universums anerkennt, beginnt ihr Gott allmählich zu verblassen. Tâdsch verliert ihren Glauben. Alles Böse stirbt mit ihm, sie fürchtet den Ungehorsam gegenüber ihres Mannes nicht mehr, die Verdammnis ist zur leeren Drohung geworden.
Die verwöhnte und eigensinnige junge Frau beginnt einen Kampfgeist zu entwickeln, sie will die Begebenheiten ihres Landes nicht mehr einfach so hinnehmen. Doch ihr Kampf hat seinen Preis.
«Der Mensch ist geschaffen worden, um selbst über sich zu bestimmen und frei zu sein.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Tâdsch zieht sich europäische Kleidung an, legt ihren Schleier ab und zwängt sich ins Korsett, das ihr sowieso verunmöglicht hätte, die rituelle Waschung vorzunehmen. Ihre Gebete sind verstummt. Unbeirrt will sie den Weg des Fortschritts gehen, auch wenn sie die Mutter dafür eine Babi schimpft.
«Leider sind die iranischen Frauen kaum der Spezies Mensch zuzurechnen, sie gleichen eher dem Vieh oder wilden Tieren. Ihr ganzes Leben verbringen sie ohne jegliche Hoffnung in einem Gefängnis und sehen sich dabei immensem Druck und quälendem Elend ausgesetzt. Dabei aber erfahren sie, dass anderswo Frauen ihre Rechte einfordern, dass in Europa Frauen für ihre Rechte kämpfen und diese ernsthaft einfordern. Sie wollen das Wahlrecht, sie wollen bei den politischen und sonstigen Angelegenheiten des Königreiches mitreden.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Tâdsch verlangt die Gleichwertigkeit von Frau und Mann. Nur so könne der Kampf gegen Unwissen und Fremdbestimmung gewonnen, nur so ihr Land in eine bessere Zukunft geführt werden. Iraner und Iranerinnen sollen sich gleichermassen bilden, gleichermassen arbeiten – und anstatt durch arrangierte Ehen zusammengezwungen zu werden, sollen sie sich durch die Liebe und aus freien Stücken miteinander verbinden.
Dafür müsse aber als erstes der Schleier fallen:
«Wie in allen zivilisierten Völkern dieser Erde wollen die Frau und der Mann einander sehen; dass die Frau verschleiert ist, richtet das Königreich zugrunde, es ist sittenwidrig und würdelos und bewirkt, dass alles Handeln erfolglos bleibt.»
Tâdsch os-Saltane, «Memoiren»
Doch Tâdsch muss dabei zuschauen, wie ihre Heimat unter der Hand ihres Bruders dahinwelkt, während sie gefangen ist in einer freudlosen Ehe. Sie will nach Europa.
«Dieser Wunsch wurde immer stärker und sorgte schliesslich dafür, dass ich meinen Mann verliess.» Mit diesem Satz enden Tâdschs Memoiren. Und in ihm schwingt die Traurigkeit über ihre Entwurzelung mit, die sie bis zum Ende ihres Lebens begleiten wird.
1907 wird ihre Ehe geschieden. Es ist das Jahr, in dem der Schah resignierend den Erlass unterzeichnet, der den Weg zur Wahl eines Parlaments und zu einer Verfassung frei macht.
Noch zwei Mal heiratet Tâdsch, die eine Ehe wird sofort wieder geschieden, niemand ihrer neuen Verwandten mag die Frauenrechtlerin, der man einen lockeren Umgang mit Männern unterstellt. Nichts weiter als eine Hure sei sie.
Auch ihre dritte Ehe hält nicht, 1921 ist Tâdsch wieder ledig. Ihre Memoiren hat sie zu diesem Zeitpunkt schon längst niedergeschrieben und sie setzt sich weiterhin für die Sache der Frauen ein. Drei Mal versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Und einmal wird sie von einer Gruppe von Männern entführt und vergewaltigt.
Dann wird es still um sie. Das letzte Zeugnis Tâdschs ist ein Bittbrief an verschiedene iranische Premierminister, in denen sie über ihre finanziellen Engpässe klagt. Am 7. Januar 1936 wird der Schleier für iranische Frauen verboten. Einen Monat später stirbt Tâdsch, krank, bettlägrig und verarmt in Teheran.
PS: Liebe User, damit entschwinde ich in meinen Kreativurlaub. Ihr seid mich aber nicht los. Ab November belästige ich euch wohl oder übel aufs Neue. Bis dahin, kein Landschaden!