Oberwil-Lieli als Vorbild für Europa? Ein provokanter Vorschlag zur Asyl-Reform
SVP-Hardliner Andreas Glarner als Vorbild für eine neue Asylpolitik in Europa? Eine Vorstellung, die auf jeden komplett verrückt wirkt, der nicht dem rechtsnationalen Abschottungsdenken zugetan ist. Und doch wurde die Aargauer Ortschaft Oberwil-Lieli, der Glarner als Gemeindeammann vorsteht, am Rande einer Medienkonferenz des Forums Aussenpolitik (Foraus) entsprechend erwähnt. Die Denkfabrik stellte in Bern einen Reformvorschlag für die europäische Asylpolitik vor.
Das Dublin-System hat sich angesichts der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa als nicht krisenresistent erwiesen. Das Prinzip, wonach Asylsuchende sich im Ankunftsland registrieren lassen, belastet die Peripherieländer massiv, vor allem Griechenland und Italien. Gleichzeitig versuchen viele Flüchtlinge, diese Registrierungspflicht zu umgehen und sich in das Land ihrer Träume durchzuschlagen, insbesondere nach Deutschland.
Die Schweiz, die an Dublin als assoziiertes Land beteiligt ist, hat diese Entwicklung als «Durchlauferhitzer» zwischen Italien und Deutschland selber zu spüren bekommen. Sie ist gleichzeitig die grösste Profiteurin des Asylsystems, sie führt mit Abstand am meisten Rücküberstellungen von Asylsuchenden in ihre Ersteintrittsländer durch.
Kritik an Wahlfreiheit
Folglich hat die Schweiz auch ein grosses Interesse an einem funktionierenden System. Hier setzt das Foraus-Papier an, das mit radikalen Vorschlägen aufwartet. Um eine geordnete Registrierung zu ermöglichen, sollen Flüchtlinge den Dublin-Staat aussuchen dürfen, in dem sie ihr Asylgesuch einreichen wollen. Diese Wahlfreiheit birgt allerdings die Gefahr, dass die Asylbewerber dorthin gehen, wo sie Freunde und Verwandte haben oder sich materiell am meisten erhoffen.
Der Waadtländer CVP-Nationalrat Claude Béglé, der mit mehreren Bundesparlamentariern an der Foraus-Medienkonferenz teilnahm – Andreas Glarner oder andere SVP-Vertreter waren nicht anwesend –, warnte vor einem Supermarkt, «in dem jeder sich das bevorzugte Angebot aussuchen kann». Das könne auch ein Staat sein, der kein Rückübernahmeabkommen mit dem Herkunftsland der betreffenden Flüchtlinge habe, meinte Béglé.
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Die Wahlfreiheit könne zu einem «Race to the Bottom» führen, sagte Balthasar Glättli, Nationalrat und Fraktionschef der Grünen. Die Dublin-Staaten könnten versuchen, sich für Asylsuchende unattraktiv zu machen. Weshalb der Foraus-Vorschlag sogar den Grünen, der wohl migrationsfreundlichsten Partei im Bundeshaus, zu weit geht. Sie werben für einen Vorstoss im Europaparlament, der eine Partizipation der Flüchtlinge vorsieht, aber keine Wahlfreiheit.
Die vier Autorinnen und Autoren von Foraus sind sich dieses Problems bewusst. Sie schlagen deshalb zwei Ausgleichsmassnahmen vor. «Die Flüchtlingsrouten ändern sich teilweise abrupt, deshalb soll es eine Schutzklausel ermöglichen, die Aufnahme von Flüchtlingen temporär auszusetzen», sagte Co-Autorin Anna Stünzi. Noch wichtiger ist ein Finanzausgleich. Ein Dublin-Staat, der keine Flüchtlinge will, soll aufnahmewillige Länder finanziell unterstützen.
Oberwil-Lieli gibt nach
Hier kommt Andreas Glarner ins Spiel. Jahrelang hatte Oberwil-Lieli die Aufnahme von Asylbewerbern verweigert. Der Gemeinde liess sogar Häuser abreissen, damit sie nicht als Asylunterkunft verwendet werden konnten. Dafür zahlte sie dem Kanton eine Ersatzabgabe. Diese wurde nun deutlich erhöht. An der Gemeindeversammlung Ende November gab der Gemeinderat deshalb bekannt, im Januar eine fünfköpfige christlich-syrische Familie aufnehmen zu wollen.
Dieses Prinzip könnte auch in Europa funktionieren, hoffen die Foraus-Autoren. Je höher die Abgeltung, umso eher wären die Dublin-Länder bereit, Flüchtlinge zu akzeptieren. Ansätze sind vorhanden. So hat die Visegrad-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn), die sich gegen die Verteilung von Flüchtlingen wehrt, in diesem Herbst eine «flexible Solidarität» vorgeschlagen. Wer weniger Flüchtlinge aufnimmt, soll mehr für den Grenzschutz zahlen.
«Politisch anspruchsvoll»
Die Schweiz könnte auch in anderen Bereichen eine Vorbildrolle einnehmen. «Sie macht es richtig mit der Verteilung der Asylsuchenden auf die Kantone. Das müsste auch gemeinschaftlich so funktionieren», sagte die Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti. In der Praxis jedoch sind bislang alle Versuche, einen Verteilschlüssel durchzusetzen, kläglich gescheitert. In der Schweiz funktioniert dieses Konzept, weil das Wohlstandsgefälle gering ist. In der EU ist das nicht der Fall.
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Die Hürden für den Foraus-Vorschlag sind sehr hoch. «Es wird nicht einfach sein, in Europa dafür eine Mehrheit zu finden», sagte der Aargauer GLP-Nationalrat Beat Flach. «Eine Reform des Dublin-Systems ist politisch anspruchsvoll, da trotz unterschiedlicher Interessenlagen die Zustimmung aller beteiligten Länder erforderlich ist», schreiben die Autoren selbst.
Das Papier von Foraus soll über verschiedene Kanäle in den europäischen Entscheidungsprozess einfliessen. BDP-Präsident Martin Landolt kündigte zudem an der Medienkonferenz an, den Bundesrat mit einer Interpellation mit dem Reformvorschlag zu konfrontieren. Und vielleicht veranstaltet Foraus einmal einen Workshop zum Thema – zum Beispiel in Oberwil-Lieli.