Mit dem Slogan «Weil Applaus nicht reicht» weibeln derzeit Befürworterinnen der Pflege-Initiative, die am 28. November an die Urne kommt. Doch es sind nicht nur die Pflegefachpersonen, die im Gesundheitswesen zunehmend am Anschlag sind.
«Nach meinen ersten drei Monaten als Assistenzärztin auf dem Notfall schrammte ich knapp an einem psychischen Zusammenbruch vorbei», sagt Andrea Baltisser* gegenüber watson. Baltisser ist seit einem Jahr Assistenzärztin an einem Spital in der Region Bern. Sie will anonym bleiben. Weil sie sich davor fürchtet, dass ihre Aussagen negative Konsequenzen haben könnten.
«Mich frustriert, dass seit Beginn der Pandemie nie auf die Arbeitsbedingungen der Assistenzärzteschaft eingegangen wird», sagt Baltisser. Für die Anliegen der Pflegefachpersonen habe sie grosses Verständnis, betont die Medizinerin. Dennoch würde sie sich wünschen, dass man auch einmal über die Arbeitsbedingungen von Assistenzärztinnen und Oberärzten spricht.
«Wenn das Pflegepersonal krank ist, werden bei uns die Betten gesperrt und es gibt einen kurzzeitigen Patientinnenstopp. Aber wenn jemand von uns krank ist, dann muss einfach jemand anderes die doppelte Zahl an Patienten übernehmen.» Das führe immer wieder dazu, dass die Tage endlos würden.
«Ich arbeite regelmässig 12 bis 13 Stunden pro Tag – ohne Pause. Im Schnitt komme ich damit auf 60 Stunden pro Woche.» Die Überzeit abzubauen oder zu kompensieren, sei meist nicht möglich.
Wesentlich mehr verdienen als eine diplomierte Pflegefachperson würde sie dabei nicht. «Auch nach einem sechsjährigen Studium und mehr Verantwortung erhalte ich ungefähr gleich viel Lohn.»
Es gehe ihr aber nicht primär um den Lohn, so Baltisser. «Ich will nicht mehr Geld. Ich wäre nur schon zufrieden, wenn ich nur zehn statt zwölf Stunden pro Tag arbeiten könnte.»
Baltisser ist kein Einzelfall. Das zeigen Umfragen des Verbands der Schweizerischen Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (vsao). 2020 gaben 62 Prozent der 3000 befragten Teilnehmenden an, dass ihre Arbeitszeiten gegen das Gesetz verstossen. Jede zweite Assistenzärztin und jeder zweite Oberarzt steht gemäss der Studie im Wochenschnitt länger als die rechtlich zulässigen 50 Stunden im Dienst. Die überwiegende Mehrheit, rund 80 Prozent, wünscht sich maximal eine 42-Stunden-Woche statt einer, die 50 Stunden dauert.
«Die Arbeitsbelastung ist ein Dauerthema», bestätigt Marcel Marti, stellvertretender Geschäftsführer des vsao, auf Anfrage. Seit 2014 würden Umfragen bei den Mitgliedern zeigen, dass viele Assistenz- und Oberärztinnen mehr arbeiten, als gesetzlich eigentlich erlaubt wäre.
Man gehe die konkreten Probleme seit Jahren direkt mit den betroffenen Kliniken und Spitälern an, sagt Marti. «Aber auch auf politischer Ebene versuchen wir etwas zu bewegen. Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass das Arbeitsgesetz nach wie vor so verbreitet verletzt wird.»
Der Mentalitätswandel vonseiten Ärzteschaft habe zugenommen. «Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder Familie wird immer wichtiger. Das geht bei 60-Stunden-Schichten aber einfach nicht. Wir merken zunehmend, dass unsere Mitglieder nicht mehr bereit sind, das einfach so zu akzeptieren», so Marti.
2020 rief eine Basler Assistenzärztin zu einer 42-Stunden-Woche auf, wie der «Blick» berichtet. Über 1000 Ärztinnen und Ärzte sprachen sich ebenfalls dafür aus. Und auch eine Mitgliederbefragung des vsao zeigte, dass die Mehrheit klar dafür ist. Der Verband hat deshalb eine Arbeitsgruppe gebildet, um weitere Massnahmen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. «Sobald die Entschiede vorliegen, gehen wir an die Umsetzung», sagt Marti.
Auch bei H+, dem Dachverband der öffentlichen und privaten Schweizer Spitäler und Kliniken, ist man sich der Problematik bewusst. Gemäss H+-Direktorin Anne Bütikofer habe die Corona-Situation die Belastung noch verstärkt. Im täglichen Betrieb sei es nicht immer einfach, genügend Erholung und Pausen zu gewähren. «Wir wissen aus den Betrieben, dass die angehenden Ärztinnen und Ärzte hoch motiviert und bereit sind, ein überdurchschnittliches Engagement zu leisten. Dies darf allerdings nicht ausgenutzt werden», sagt Bütikofer.
Im Vergleich zu früher seien die Arbeitszeiten aber gesunken, betont die Direktorin. «Hingegen nehmen die administrativen Arbeiten in den Spitälern und Kliniken stetig zu. Das ist uns ein Dorn im Auge», so Bütikofer weiter. Das bestätigt auch Assistenzärztin Baltisser aus ihrem Alltag: «Etwa die Hälfte meiner Arbeit verbringe ich damit, Berichte zu schreiben, zu telefonieren und Dinge abzuklären.»
Bei H+ sei man bemüht, den administrativen Aufwand für die Ärzteschaft so gering wie möglich zu halten. Ganz so einfach sei das aber nicht. Medizinisch geschultes Administrationspersonal könne den Ärztinnen gewisse Arbeiten abnehmen, meint Bütikofer. «Doch nicht alle Arbeiten können delegiert werden.»
Auch dem Wunsch nach mehr Personal sei man nachgekommen: Viele Spitäler und Kliniken hätten mehr Assistenzärztinnen eingestellt, um der angespannten Situation entgegenzuwirken. «Die Spital- und Klinikbranche ist aber in politische Rahmenbedingungen eingebettet, welche auch die finanziellen Ressourcen vorgeben», erklärt Bütikofer. Deshalb setze sich H+ auch für eine Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes ein, damit die Spitäler mehr Spielraum in der Personalplanung hätten. Zudem wolle man damit auch die Assistenzärzte in ihrer Weiterbildung unterstützen: «Viele chirurgische Eingriffe, die junge Ärztinnen erlernen müssen, kommen über den Notfall rein und lassen sich nicht in Bürozeiten erledigen.»
Von einer Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes dürften die Mitglieder des vsao wenig begeistert sein. Folgt nach der Pflege-Initiative also bald die Assistenzärztinnen-Initiative? «Das wage ich zu bezweifeln», sagt Marti vom vsao. «Pflege und Ärzteschaft kann man nicht direkt miteinander vergleichen. Den Pflegefachpersonen fühlt sich die Durchschnittsbevölkerung näher, weil Ausbildung und Entlöhnung eher im gleichen Rahmen liegen.» Eine Initiative könnte es folglich schwierig haben – zumal sie sich auf die ganze Ärzteschaft bezieht und von dieser auch unterstützt werden müsste.
*Name der Redaktion bekannt
Ich verstehe nicht, warum das im Gesundheitssektor so problemlos möglich ist. In der Industrie oder in anderen Sektoren würde ein Arbeitgeber ernsthaft Schwierigkeiten bekommen, wenn er solche Arbeitszeiten anordnet. Warum werden im Gesundheitssektor solche MIsstände, die gegen geltendes Recht verstossen, nicht angegangen?
Im Grunde genommen ist das unmenschlich und es erstaunt nicht, dass viele in diesem Beruf früher oder später im Burnout landen und/oder ein desaströses Privatleben haben. Da stimmt etwas überhaupt nicht in unserem Gesundheitswesen und es wird konstant weggeschaut.