Es gibt gute Gründe, um die Pflegeinitiative abzulehnen. Sie verschafft einer Berufsgruppe eine Sonderstellung in der Bundesverfassung. Sie will, dass der Bund Einfluss auf die Löhne nimmt. Und die Forderung, dass Pflegefachpersonen gewisse Leistungen direkt mit den Krankenkassen abrechnen können, enthält Sprengstoff für die Prämien.
Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» am 28. November angenommen wird. In den ersten Umfragen von Tamedia und SRG erreicht sie eine Zustimmung von rund 80 Prozent. Und die Gegnerschaft ist mit wenig Ressourcen und Enthusiasmus unterwegs. Wer will schon gegen das Pflegepersonal antreten?
Der Berufsstand erfreut sich grundsätzlich einer grossen Sympathie in der Bevölkerung. Denn wir alle müssen damit rechnen, einmal auf eine gute Pflege angewiesen zu sein. Die Coronakrise hat die Anteilnahme noch erhöht. Nur hartgesottene Massnahmengegner oder Pandemie-Leugner wollen nicht wahrhaben, wie stark die Pflegenden belastet sind.
Die Betreuung von Covid-Kranken ist anspruchsvoll. Viele Pflegefachpersonen klagen über Erschöpfung. Der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments geht darauf ein. Er sieht vor, dass der Bund die Ausbildung von Pflegepersonal mit fast einer Milliarde unterstützt. Auch die Abrechnung mit den Krankenkassen soll in einem vernünftigen Rahmen möglich sein.
Den Initiantinnen genügt das nicht. Sie verweisen darauf, dass mehr als 40 Prozent des Pflegepersonals nach wenigen Jahren aus dem Beruf aussteigen. Die Ausbildung ist nicht das Hauptproblem, es sind die Arbeitsbedingungen. Dieses Problem wird durch Corona nur verstärkt. Seine eigentlichen Ursachen liegen im Schweizer Gesundheitswesen.
Es ist qualitativ hochwertig, aber auch weltweit das zweitteuerste hinter jenem der USA. Das liegt nur teilweise an der alternden Gesellschaft und am medizinischen Fortschritt – diese Entwicklung gibt es überall in Europa. In der Schweiz aber ist das System gespickt mit Fehlanreizen, die von Ärzten, Pharma und Spitälern weidlich ausgenutzt werden.
Ein Beispiel sind die Zusatzversicherungen. Die Finanzmarktaufsicht Finma stellte Ende letzten Jahres fest, dass die Rechnungen in diesem Bereich «häufig intransparent sind und zum Teil unbegründet hoch oder ungerechtfertigt scheinen». Preisüberwacher Stefan Meierhans hat diese Kritik erst kürzlich mit einem eigenen Bericht unterstrichen.
Experten sprechen bei den Zusatzversicherungen von einem «Wildwuchs». Dies nützen Ärzte und Spitäler aus, um das System mit frisierten Rechnungen zu «melken». Was sich letztlich auch auf die Grundversicherung auswirkt. Selbst der Spitalverband H+ räumte gegenüber der NZZ «Dysfunktionalitäten» ein, verwahrte sich aber gegen «Sippenhaftung».
Ein weiteres Problem sind unnötige Behandlungen, die gegen das ärztliche Berufsethos verstossen. Doch das Schweizer System lädt dazu ein. Selbst in einem heiklen Bereich wie der Wirbelsäulenchirurgie werde «viel zu viel operiert», hiess es im «Tages-Anzeiger». Die Aussage stammte nicht von einem Sparpolitiker, sondern einem Facharzt.
Er ist eine Ausnahme, denn in der Regel verteidigen Ärzteschaft, Pharmakonzerne und Spitäler ihre Pfründe eisern. Sie bekämpfen sogar sinnvolle Lösungen wie Mindestfallzahlen bei operativen Eingriffen. Die Krankenkassen schieben das Problem auf die Politik ab, und die tut sich seit Jahren schwer mit Reformen etwa des veralteten Ärztetarifs Tarmed.
Folglich wird am Ende bei wem wohl gespart? Richtig, beim Pflegepersonal. Es verfügt im Gegensatz zu den anderen Playern im Gesundheitswesen nicht über eine finanz- und schlagkräftige Lobby. Weshalb Sparmassnahmen getreu dem Motto «Die Letzten beissen die Hunde» auf seinem Buckel durchgezogen werden, etwa mit «Management by Stoppuhr».
Darunter leidet die Betreuungsqualität. «Der Spardruck verschärft die Situation. Man trägt als Pflegefachperson die Verantwortung für immer mehr Patienten», sagte Helene Stucki, eine 55-jährige Ex-Pflegefachfrau aus Bern, der NZZ. Sie ist nach 30 Jahren aus dem Beruf ausgestiegen. «Bis zur Pensionierung hätte ich das nicht ausgehalten», sagte sie.
Viele bekommen dies mit, selbst wenn sie keine Pflegeleistungen beanspruchen, sondern ihre Angehörigen im Heim oder Spital besuchen. Daraus erklären sich die hohen Umfragewerte der Pflegeinitiative. Corona wirkt höchstens als Multiplikator. Teilweise steckt darin auch ein schlechtes Gewissen, denn letztlich sind wir alle ein Teil dieses Problems.
Wir haben eine hohe Anspruchsmentalität, die durch die steigenden Krankenkassenprämien – die derzeitige «Atempause» ist nur vorübergehend – verstärkt wird. Sie ist verständlich, aber auch widersprüchlich, wenn eine Mehrheit in Umfragen an der freien Arztwahl festhält und gleichzeitig durch die Wahl eines günstigen Versicherungsmodells darauf verzichtet.
Es ist deshalb fraglich, ob eine Annahme der Initiative viel bewirken wird. Dabei ist das Interesse an den Pflegeberufen gross, und mit Corona nahm es sogar zu. Das erstaunt nur auf den ersten Blick. Viele Menschen empfinden es als befriedigend, Betagten und Kranken zu helfen, trotz hoher physischer und psychischer Belastung, trotz Schichtarbeit.
Neun von zehn Pflegenden möchten eigentlich längerfristig im Beruf bleiben, heisst es in einer am Mittwoch vorgestellten Langzeitstudie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die hohe Ausstiegsquote ist also nicht gottgegeben. Wichtig sind laut der Studie ein besserer Lohn, mehr Wertschätzung und weniger Zeitdruck.
Das Wohlbefinden des Pflegepersonals steht und fällt mit den Arbeitsbedingungen. Fraglich ist, ob die Pflegeinitiative in diesem Punkt viel bewirken wird. So heisst es im Initiativtext selbst, der Bund erlasse Ausführungsbestimmungen «im Rahmen seiner Zuständigkeiten». Und die sind begrenzt. Der Bund betreibt keine Spitäler, Altersheime oder Spitex-Dienste.
Das lädt fast schon zu einer «verwässerten» Umsetzung ein. Es kann sein, dass ein deutliches Ja gewisse Verbesserungen bringen wird. Aber auf Bundesebene wird kaum mehr resultieren als die im Gegenvorschlag vorgesehene Ausbildungsoffensive. Die Pflegenden dürften die «Prügelkinder» eines dysfunktionalen Gesundheitswesens bleiben.
Schon, aber eben nicht nur die Pflegenden. Sondern vorallem auch die Gepflegten, die Patienten. Also wir
Auch wenn es uns egal ist, dass das Pflegepersonal bis zum umfallen arbeiten muss, dass wir im Falle eines Falles deshalb als Patienten schlecht versorgt sind, sollte ja sogar die größten Egoisten überzeugen, dem Gesundheitspersonal bessere Arbeibtsbedingungen zu ermöglichen
(Was nichts daran ändert, dass auch die Pflegenden unbedingt mehr von allem verdienen! Viel Liebe für euch!)
Auch ist es keine Arbeit mit hohem Prestige oder sonst etwas, das dazu führen könnte, dass trotzdem genug Leute das machen wollen.
Aber es ist für uns alle Lebensnotwendig, dass dort genügend gut ausgebildete Menschen arbeiten.
Es ist somit essentiell für unser Allgemeinwohl, dass dieser Beruf eine Sonderstellung in der Verfassung bekommt.
Die freie Markzwirtschaft hat hier leider versagt.