«Dass es auch mich so treffen könnte, hätte ich nicht für möglich gehalten und vor allem nicht in diesem krassen Ausmass.» Die Aussage stammt von einer Frau, Akademikerin. Sie gehörte zum obersten Kader einer bekannten Dienstleistungsfirma. Sie möchte anonym bleiben. Nennen wir sie Elvira S.
S. hatte herausgefunden, dass ihr Nachfolger 70 Prozent mehr verdiente als sie. Sie habe dem Anforderungsprofil schon bei Stellenantritt punkto Ausbildung, Qualifikation und Erfahrung entsprochen. Anders ihr Nachfolger: «Seine Qualifikationen entsprachen in den meisten Belangen nicht dem Anforderungsprofil», sagt Elvira S.
Die grösste Hürde für Lohnklagen ist meist die Beweisführung. Schweizer reden nicht gerne über ihre Löhne. S. hatte einen Vorteil. Sie bemerkte den höheren Lohn ihres Nachfolgers, weil sie Zugang zu den Akten hatte. Sie sammelte weitere Informationen, liess bei ihrem Anwalt eine Abklärung machen, ob das Gleichstellungsgesetz angewendet werden könne, sprach mit Fachpersonen und studierte die einschlägige Literatur:
Elvira S. wartete mit rechtlichen Schritten, bis sie die Firma verlassen hatte. «Wegen der Angst vor Rachemassnahmen wehren sich die meisten Frauen erst, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist», sagt Andrea Gisler. Sie ist Anwältin und Präsidentin der Frauenzentrale Zürich. Zwar gibt es im Gleichstellungsgesetz einen speziellen Kündigungsschutz für Frauen, die sich gegen eine Diskriminierung wehren. Dieser dauert sechs Monate bis nach Abschluss des Verfahrens. Eine Analyse vom letzten Juni zeigt aber, dass bei der Urteilsverkündung 84 Prozent der Arbeitsverhältnisse aufgelöst sind.
Gemäss Bundesrat sind sieben Prozent der Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau nicht erklärbar. Er will deshalb, dass Firmen mit mehr als 50 Mitarbeitern alle vier Jahre Lohnanalysen durchführen. Sanktionen sind keine vorgesehen.
Die Vorschläge sind umstritten. Am Freitag befasst sich die vorberatende Kommission des Ständerates damit. Gegen die Gesetzesänderung wehrt sich der Arbeitgeberverband. Er bestreitet, dass es sich bei diesen sieben Prozent um Diskriminierung handelt: «Die Lohnunterschiede bestehen vereinfacht gesagt nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Männern und Müttern wegen deren Erwerbsunterbrüchen. Von einer systematischen Diskriminierung kann keine Rede sein», sagt Kommunikationschef Fredy Greuter. In Einzelfällen könne man die Gerichte anrufen: «Der Schutz der Arbeitnehmenden vor Lohndiskriminierung ist gewährleistet.»
Für Regula Bühlmann, beim Gewerkschaftsbund verantwortlich für das Dossier, ist diese Aussage ein Hohn: «Klagen sind enorm aufwendig, zermürbend, und sie dauern lange.» Sie seien zudem ein Risiko für die berufliche Karriere. Das bestätigt Andrea Gisler: «Frauen in Führungspositionen exponieren sich nicht gerne. Denn man kennt sich innerhalb der Branchen und will sich die Zukunft nicht verbauen.»
Elvira S. gelangte vor die Schlichtungsstelle und bekam 15 Prozent der geforderten Summe zugesprochen. Dennoch nennt sie das Verfahren eine Enttäuschung. Die Mitglieder der Schlichtungsstelle seien überfordert gewesen. Zudem seien sie bei der Begründung des Vergleichsvorschlages selbst in die unbewusste Diskriminierungsfalle getreten, was sie erschüttert habe.
Weitere aussergerichtliche Gespräche mit dem ehemaligen Arbeitgeber blieben erfolglos. Erst, als S. eine Klagebewilligung eingeholt hatte, bewegte sich die Firma und war zu einer substanziellen Nachzahlung bereit. Die Vermutung: Das Unternehmen wollte einen öffentlichen Gerichtsprozess aus Imagegründen vermeiden. S. stimmte dem Kompromiss ebenfalls zu.
Doch weshalb kommt es zu Diskriminierung? Fordern Frauen zu wenig Lohn, zahlen Firmen absichtlich zu wenig oder fehlt ihnen das Bewusstsein? «Es ist von allem ein wenig: Es ist ein gesellschaftliches Problem», sagt Elvira S. Umso wichtiger sei es, dass das Thema immer wieder auf den Tisch komme.
Lohnverhandlungen muss S. keine mehr führen: Sie hat sich selbstständig gemacht.
(aargauerzeitung.ch)