Schweiz
Fall Rupperswil

Vierfachmord von Rupperswil: Umstrittene Fahndungsmethode war nutzlos

Vierfachmord von Rupperswil: Umstrittene Fahndungsmethode war nutzlos

Der Fall Rupperswil gilt als die erste grosse digitale Ermittlung der Schweiz, weil der Täter mit einem Antennensuchlauf ermittelt worden sei. Doch die These ist falsch.
21.12.2020, 09:1721.12.2020, 22:17
Andreas Maurer / CH Media
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Die Chronologie des Vierfachmords von Rupperswil

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Die Chronologie des Vierfachmords von Rupperswil
21. Dezember 2015: Kurz vor Mittag wird die Feuerwehr zu einem Brand in einem Einfamilienhaus in Rupperswil gerufen. Im Innern des Hauses finden die Feuerwehrleute vier Leichen. Es stellt sich heraus, dass die Opfer Stich- und Schnittverletzungen aufweisen. Der Brand wurde absichtlich gelegt. Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus.


quelle: keystone / patrick b. kraemer
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Der 21. Dezember des Jahres 2015 war wie der heutige ein Montag. Über dem Aargauer Dorf Rupperswil stieg Rauch auf. In einem Zweifamilienhaus brannte es. Die Feuerwehr stiess auf vier Leichname. In den Weihnachtstagen verbreitete sich die Nachricht, dass hier eine Familie ermordet worden war. Es war der Beginn einer der grössten Fahndungsaktionen der Schweiz. 146 Tage dauerte sie. Erst dann wurde der Vierfachmörder Thomas N. gefasst.

Mit dem Fall Rupperswil wurde eine neue Fahndungsmethode allgemein bekannt: der Antennensuchlauf. Die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei werteten die Daten von drei Mobilfunkantennen in der Nähe des Tatorts aus. Darin befanden sich die Handynummern von rund 30'000 Personen, deren Geräte sich in den Stunden um die Tat mit den Antennen verbunden hatten. Das können Anrufe, Mitteilungen oder Datenverbindungen von Apps sein, die im Hintergrund laufen. Die Zahl der erfassten Nummern ist so gross, weil die drei Antennen an der Bahnlinie und Autobahn liegen.

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Seither gilt der Antennensuchlauf als Erfolgsgeschichte. Namhafte Experten verbreiteten die Erzählung, dass der Täter mit dieser Methode ermittelt worden sei. Die Ermittler hatten kein Interesse daran, diese Legende zu dementieren, weil der angebliche Erfolg half, künftige Antennensuchläufe zu rechtfertigen und zu finanzieren. Denn die Methode ist sehr teuer. 816'000 Franken stellte der Bund dem Kanton dafür zuerst in Rechnung, was zu einem Gerichtsstreit führte.

Die Wahrheit ist: Der Antennensuchlauf war in diesem Fall nutzlos. Die Ermittler fanden dadurch keine Hinweise, die zum Täter führten. Zwar befand sich seine Handynummer tatsächlich im Datenhaufen. Die berühmte Nadel im Heuhaufen erkannten die Ermittler aber erst, als sie den Mörder auf anderem Weg identifiziert hatten und seine Nummer mit den Antennendaten abglichen. So hatten sie zwar ein weiteres Indiz, welches sie im Prozess dann aber nicht verwendeten.

Das Staatsgeheimnis: Warum man es noch immer nicht genau weiss

Die Recherchen dieser Zeitung stützen sich auf Quellen in der Polizei und in der Staatsanwaltschaft. Einige Polizisten sind gesprächig, weil sie sich über die Legende ­aufregen. Sie suggeriert, Computerprogramme hätten den Fall gelöst bezie­hungs­weise die Datenspezialisten in den Büros. Dabei waren es die mehr als hundert Männer und Frauen auf den Strassen von Rupperswil, die klassische Polizeiarbeit leisteten.

Sie nahmen etwa den Inhalt jedes Abfallkübels im Umkreis von Kilometern unter die Lupe und klingelten an jeder Haustüre in der Umgebung, um den Bewohnern einen Fahndungsaufruf zu zeigen. Dabei gingen zwar keine direkten Hinweise ein, aber die Profiler konnten indirekte Hinweise sammeln. Sie beobachteten, wie die Leute reagierten. Sie klingelten auch bei Thomas N. Ob er sich dabei verdächtig gemacht hat, ist nicht bekannt. Polizisten sagen, die Methode habe die Ermittlungen im Gegensatz zum Antennensuchlauf zumindest vorangebracht.

Die Flugblattaktion: Die Polizei setzte eine Belohnung aus.
Die Flugblattaktion: Die Polizei setzte eine Belohnung aus.Bild: Keystone

Was dann am Schluss der entscheidende Ansatz war, ist ein Staatsgeheimnis und bleibt es vorerst auch. Die Strafverfolger wollen damit verhindern, dass ihre Aktionen in künftigen Fällen den Überraschungseffekt verlieren. Zum Beispiel nach einem Mord in Aarau im Januar 2019 wurde dieselbe Methode nochmals angewendet, wie es hinter vorgehaltener Hand heisst.

Von offizieller Stelle ist deshalb keine Bestätigung für die Widerlegung des Mythos zu erhalten. Konfrontiert damit geben die beiden führenden Ermittler des Falls aber vielsagende Statements ab. Markus Gisin, Chef der Aargauer Kriminalpolizei, sagt: «Es war nicht die eine Methode, die uns zum Täter geführt hat. Es war ein Mix aus verschiedenen Abklärungen.» Und Staatsanwältin Barbara Loppacher ergänzt: «Der Antennensuchlauf allein reicht in der Regel nicht zur Aufklärung von schweren Straftaten.»

Die Methode: Wann sie erfolgreich ist und wann nicht

Der Antennensuchlauf ist die ideale Methode zur Fahndung nach Tätern, die an mehreren Orten oder zu unterschiedlichen Zeiten zugeschlagen haben. Dabei werden ihre Handydaten von unterschiedlichen Antennensuchläufen erfasst. Die Schnittmenge der beiden Zahlenreihen ist dabei so klein, dass sie nur aus den Daten der Täterschaft besteht. So wurde eine Serie von Überfällen auf Geldtransporter im Waadtland aufgeklärt. Die Täter haben an den Tatorten stets die gleiche Datenspur hinterlassen.

Im Fall Rupperswil gab es aber nur einen Tatort und nur eine Tatzeit. Aus dem Antennensuchlauf liess sich zwar der Pendlerverkehr herausfiltern. Dabei blieben aber immer noch Hunderte Nummern, quasi das Telefonbuch aller Rupperswiler, die am 21. Dezember ihr Handy eingeschaltet hatten. Diese Zahlen wären erst hilfreich gewesen, wenn sie mit anderen hätten abgeglichen und der Datenberg damit auf eine kleine Schnittmenge hätte reduziert werden können. Im Fall Rupperswil gab es dafür keine Anhaltspunkte.

Thomas N. hatte am Tatort zwar seine Fingerabdrücke und seine DNA hinterlassen, doch diese führten in den Datenbanken zu keinen Treffern. Er war vor der Tat das sprichwörtlich unbeschriebene Blatt.

Dass die Staatsanwaltschaft den teuren Auftrag trotzdem erteilt hat, macht Sinn, da dieser nur innerhalb eines halben Jahres nach der Tat bewilligt wird. Die Ermittler sichern sich die Daten, damit sie nicht an einer Frist scheitern. Zudem benötigt die Aufbereitung viel Zeit, da die Mobilfunkanbieter die Nummern in unterschiedlichen Formaten liefern.

Doch wie ist es überhaupt zur Legendenbildung gekommen? Den Anstoss gaben die führenden Ermittler selber, indem sie stets die Vorzüge des Antennensuchlaufs betonten und verschwiegen, dass er vor allem einen Datensalat lieferte, der ohne die passende Zutat wertlos ist. Dann erschienen die ersten Medienberichte, welche suggerierten, der Antennensuchlauf sei erfolgreich gewesen.

Die Wissenschaft: Warum sie das Märchen glauben wollte

Der St. Galler Strafrechtsprofessor Marc Forster nahm die These auf und verbreitete sie in einem Fachbeitrag als Tatsache. Er ist der Experte auf diesem Gebiet. Denn er arbeitet auch als Gerichtsschreiber am Bundesgericht, wo er das Referenzurteil zu Antennensuchläufen formuliert hat. Gleichzeitig ist er ein Fan der Methode. Im Fall Rupperswil sah er die Gelegenheit gekommen, den schon immer erhofften Erfolg endlich bestätigen zu können. So kam es, dass er einen Beitrag verfasste, der wissenschaftlichen Standards nicht standhielt. An den entscheidenden Stellen hat er keine Quellenangaben.

Erstaunlich ist, dass Forster trotzdem namhafte Herausgeber für seine Publikation fand, nämlich die Strafrechtsprofessoren Daniel Jositsch und Christian Schwarzenegger. Die These galt damit als wissenschaftlich erhärtet und wurde danach vom verstorbenen St. Galler Staatsanwalt Thomas Hansjakob in seinem Standardwerk über das Überwachungsrecht übernommen und sogar noch zugespitzt. Das Werk steht im Büro jedes Staatsanwalts, weil es ein praktisches Handbuch mit Musterverfügungen ist.

In juristischen Bibliotheken von Schweizer Universitäten ist der Wälzer zudem im Regal mit der Basisliteratur platziert. Die Falschmeldung hat sich damit im Zentrum der Wissenschaft etabliert, was die Verbreitung in den Medien am Laufen hielt.

Der Fall Rupperswil wurde so zur «Mutter aller digitalen Ermittlungen». Die Legende wurde geglaubt, weil man sie glauben wollte. Dass es sich um eine Fehlgeburt handelte, wurde höflich verschwiegen.

Dabei gab es schon früh Hinweise, dass der Antennensuchlauf nicht zum Durchbruch führte. Zweifel musste haben, wer wusste, wie die Schnittmengenbildung bei dieser Methode funktioniert. Zudem verteilte der Kanton die nicht abgeholte Prämie von 100'000 Franken für Hinweise an die Ermittler und wendete sie nicht etwa zur Deckung der Kosten des Antennensuchlaufs auf. Die hohe Rechnung dafür hätte ihn auch nicht dermassen geärgert, wenn er damit eines der brutalsten Verbrechen aufgeklärt hätte.

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Gerichtsverhandlung Vierfachmord Rupperswil
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38 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MadPad
21.12.2020 09:34registriert Mai 2016
Eine der grausamsten Taten der letzten Jahre.

Ich werde auch nie vergessen wie der Blick und die Schweizer Illustrierte sensationslüstern und mit enormen Druck auf die Hinterbliebenen, eine der schlimmsten Kampagnen gefahren haben.

Die Leute die dies zu verantworten haben, arbeiten dort immer noch.
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Ökonometriker
21.12.2020 09:53registriert Januar 2017
816'000 Franken um kurz die Logs von 3 Antennen zu durchforsten?
Das sind ja mindestens 1.5 Mannjahre von IT-Spezialisten. Wie kommt man auf eine so hohe Summe? Wurde hier zuerst eine Armee von Anwälten beschäftigt?
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Ein Schelm
21.12.2020 09:40registriert Mai 2020
Ich weiss ja nicht ob hier irgendwer erwartet hat, dass es eine einzige Übermethode gibt um einen Verdächtigen zu ermitteln. Machen wir uns keine Illusionen. Es ist immer ein Zusammenspiel von vielen Methoden und vielem Ermittlern.

Was mich interessieren würde, ist eine Kostenzusammenstellung des Antennensuchlaufs. Nur die Zahl alleine wirkt enorm skandalös. So wie es im Raum steht hätte das Abklären einer einzigen Telefonnummer jeweils weniger als 30 Franken gekostet. Ich nehme mal an, dass es die schiere Datenmenge war welche den Prozess wirklich teuer machte. Nicht die Methode selbst.
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