Seit bald drei Wochen greift die Türkei das Kurdengebiet im Nordwesten von Syrien an. Wie kam es dazu?
Hans-Lukas Kieser: Der Auslöser für die Invasion ist, dass die USA vermehrt eine in Erdogans Augen «terroristische» Organisation stützen. Die Amerikaner kämpfen seit 2014 an der Seite der Kurden in Syrien. Als sie kürzlich bekannt gaben, dass sie zusammen mit den kurdischen Kräften eine Grenzschutztruppe aufbauen wollen, startete die Türkei ihren Feldzug, den sie allerdings schon länger im Sinn hatte.
Warum wollten die USA eine Grenzschutztruppe einrichten?
Seit Präsident Donald Trump im Amt ist, hat man lange darauf gewartet, wie die weitere Strategie der Amerikaner in Syrien sein wird. Nach einem Jahr wurde nun kommuniziert, dass die USA die «Syrischen Demokratischen Streitkräfte», auch SDF genannt, weiterhin im Kampf gegen den Islamischen Staat und zur längerfristigen Sicherung Nordsyriens unterstützen wollen.
Wer ist die SDF?
Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind der Kern der Organisation der SDF. Weiter gibt es darin arabische und assyrische Truppen mit eigenen Einheiten und eigenen Strukturen. Dann gibt es auch Armenier und Turkmenen, welche in der SDF kämpfen. Sie agieren in einem Gebiet, das sich östlich des Euphrats über einen Drittel von Syrien erstreckt – das Gebiet, das die SDF vom Islamischen Staat zurückerobert hat.
Die Türkei argumentiert, die YPG sei eine terroristische Organisation.
Für den Präsidenten Recep Erdogan ist die syrische YPG dasselbe wie die kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei verboten ist. Deswegen müsse diese Organisation auch jenseits der Grenzen bekämpft werden, sagt er. Diese Argumentation ist fadenscheinig. Zwar berufen sich beide Organisationen auf Abdullah Öcalan. Doch die YPG hat eine eigene Geschichte und hat nie Angriffe gegen die Türkei getätigt, was einen Feldzug legitimieren würde. Übrigens wird die PKK in der Schweiz nicht als Terrororganisation eingestuft.
Was ist das Interesse der Amerikaner?
Gerade letzte Woche äusserte sich der Oberkommandierende der amerikanischen Streitkräfte im Nahen Osten, General Joseph Votel, dazu. Er betonte, dass die ganze Welt der SDF sehr dankbar sein müsse für die gewaltigen Opfer, die sie gegen den islamistischen Terror geleistet haben. Es war wie eine verhüllte Anklage gegen europäische Regierungen, die sich weiterhin nur ganz zurückhaltend zur Invasion der Türkei äussern.
Wie geeint sind die Kurden?
Es handelt sich um eine mobilisierte Gesellschaft, die im Krieg steht und die massiv bedroht wird. Die YPG hat eine breite Unterstützung. Zwar gibt es eine kurdische politische Opposition gegen die YPG, was auch schon zu rabiaten Auseinandersetzungen geführt hat. Aber innerhalb der Umstände, die im Nahen Osten herrschen, sind die YPG-Gebiete vergleichsweise freiheitlich, demokratisch und gut organisiert, und deshalb seit Beginn des Bürgerkriegs eine Zufluchtsstätte für sehr viele Menschen, darunter bedrängte Minderheiten wie Christen und Jesiden.
Welches Ziel verfolgen die Kurden in Nordsyrien?
Das Schaffen eines eigenen Nationalstaats wird inzwischen von den Kurden als reaktionär angeschaut. Der ideologische Führer der YPG, Abdullah Öcalan, hat sich politisch entwickelt, seit er im Gefängnis ist. Stark hat ihn das Denken des Basisdemokraten und Anarchisten Murray Bookchin beeinflusst. Dieser propagierte ein basisdemokratisches und föderalistisches Gesellschaftsmodell. Demnach wollen die Kurden Einheiten aufbauen, die in einer grösseren, gemischt-ethnischen Föderation stehen. Übrigens: Ihre Gebiete bezeichnen die Kurden bewusst als «Kantone».
Warum?
Weil sie damit die föderalistischen, basisdemokratischen und multikulturellen Eigenschaften ihres Gesellschaftsmodells – mit Bezug auf die Schweiz – betonen möchten.
Wie weit fortgeschritten ist dieses gesellschaftliche Projekt der Kurden?
Trotz des Kriegszustandes haben immer wieder Wahlen stattgefunden. Es wurden Strukturen aufgebaut und leitende Funktionen werden gleichwertig an Männer wie auch Frauen vergeben. In den Räten und Parlamenten gibt es Vertreter von allen ethnischen und religiösen Gruppierungen. Für die Amerikaner ist das Projekt so weit fortgeschritten, dass sie es unterstützen wollen.
Ausgerechnet die antikommunistischen USA wollen das basisdemokratische und antikapitalistische Projekt der Kurden unterstützen. Ist das nicht widersprüchlich?
Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht widersprüchlich. Doch der Kalte Krieg liegt mittlerweile Jahrzehnte zurück. Der Antikapitalismus der Kurden stellt für die USA keine Bedrohung dar. Es geht ihnen eher um genossenschaftliche ökonomische Modelle, die sie realisieren wollen. Die sind aber noch wenig entwickelt.
Wird es in Zukunft zu Zusammenstössen zwischen türkischen und amerikanischen Streitkräften kommen?
Das wollen eigentlich alle Akteure verhindern. Es hätte unberechenbare Konsequenzen. Nach den jüngsten Erklärungen von General Votel, der seine Anweisungen direkt vom Weissen Haus hat, muss es sich Erdogan gut überlegen, wie er in der Öffentlichkeit auftritt. Es ist jedoch nicht auszuschliessen, dass er weiter auf Eskalation setzt. Er hat mehrfach von der Wiedergewinnung einst osmanischer Einflusszonen und der Besetzung von Afrin und von noch östlicheren Gebieten, also Manbij sowie dem YPG-Gebiet östlich des Euphrats gesprochen. In Manbij befindet sich ein amerikanischer Stützpunkt.
Wie gross ist der Rückhalt von Erdogan in der Türkei?
Der Angriff auf Afrin bedeutet, auf Krieg zu setzen, um möglichst viele hinter sich zu scharen – was gerade in der Türkei immer wieder gut funktioniert. Tatsächlich hat Erdogan damit die grosse Mehrheit im Land hinter die Regierung geschart. Vor dem Afrin-Feldzug haben Erdogan und seine Partei weniger als 50 Prozent Unterstützung genossen – eine wacklige Grundlage für Erdogans Ehrgeiz. Aber der Krieg ist ein Sammelruf, bei dem sich alle hinter dem Führer versammeln.
Er hat innenpolitische Absichten?
Ja, Erdogan muss die nächste Präsidentschaftswahl gewinnen, um sich und sein autoritäres Regime definitiv abzusegnen.
Was passiert mit Leuten, die sich gegen den Krieg stellen?
Die werden verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Und zwar sofort. Inzwischen sind es schon 400 Personen. Wer Kritik äussert, egal ob diese politisch ist oder wie im Fall des Präsidenten der türkischen Ärztekammer humanistisch, der wird sanktioniert.
Erdogan nennt seinen Feldzug Operation Olivenzweig.
Das ist ein geradezu zynischer Euphemismus. Die Taube mit dem Olivenzweig im Schnabel ist ein Symbol des Friedens.
Wer kämpft auf der Seite der Türken?
Die türkische Armee selbst ist noch wenig in kurdische Gebiete eingedrungen, sondern sie rekrutiert Milizen der sogenannten Freien Syrischen Armee, genannt FSA. Die FSA wurde zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien von Amerikanern, den Saudis und der Türkei als eine bewaffnete Opposition gegen Assad aufgebaut. Schon bald aber, ab 2013, dominierten Dschihadisten die Organisation. Heute sind die Milizen der FSA grossenteils radikal dschihadistisch.
Inwiefern unterscheiden sich diese Milizen vom Islamischen Staat?
Von aussen sehen sie gleich aus, verhalten sich gleich, haben dieselbe Ideologie, ja sie schreien gar dieselben Slogans. Jedoch herrscht zwischen den verschiedenen dschihadistischen Organisationen ein blutiger Kampf. Sie sind sich spinnefeind. Der «IS» sieht in der Türkei einen bösen, ketzerischen Staat, der den Islam missbraucht.
In den sozialen Medien zirkulieren Bilder von vermeintlichen «IS»-Kriegern, die auf der Seite der türkischen Armee kämpfen. Sind diese Bilder Fake?
Nicht unbedingt. Wer jetzt auf der Seite der Türkei kämpft, kann sich zwar öffentlich nicht mehr als «IS»-Krieger bezeichnen. Aber es gibt viele «IS»-Leute, die vor der YPG aus Syrien in die Türkei fliehen konnten. Dort gehörten sie zum Rekrutierungspool für den türkischen Geheimdienst, falls sie vom «IS» Abstand nahmen. Man muss also mit zahlreichen ehemaligen «IS»-Leuten in den Reihen jener Milizen rechnen, die die türkische Armee begleiten.
Welche Rolle kommt dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad zu?
Gemäss übereinstimmenden Berichten hat ursprünglich die syrische Regierung, unterstützt von Russland, der Stadt Afrin Hilfe angeboten. Man würde Afrin übernehmen und verteidigen, lautete das Angebot. Die Kurden haben abgelehnt. Seither hat die syrische Regierung den Feldzug der Türken laufen lassen. So quasi als Züchtigung der Kurden. Natürlich hat sich Assad gegen die Invasion auf syrischem Territorium geäussert. Aber ein Stück weit kommt sie ihm auch gelegen, weil so die Kurden, die dort ihre eigenen Pläne umsetzen wollen, in Bedrängnis kommen.
Und Russland steht weiterhin hinter Assad?
Russland hat in den letzten Jahren einen schwierigen Eiertanz aufgeführt. Einerseits stand es der Assad-Regierung nahe, andererseits hat es immer die Freundschaft mit den Kurden betont. Die Russen beherrschen den gesamten Luftraum über Westsyrien. Dieser war bis zum 20. Januar über Afrin immer geschlossen. Die jetzige Öffnung kommt für die Kurden einem Verrat gleich. Dass die Russen die Kurden verunsichern, ist allerdings auch ein tiefer Nadelstich gegen die verbündeten Amerikaner. Die jetzige russische Haltung ist stark durch die Konkurrenz mit den USA bestimmt.
Die westlichen Staaten äussern sich bisher nur sehr zurückhaltend zum Feldzug der Türkei. Wie beurteilen Sie das?
Es ist beschämend. Es handelt sich um einen Angriffskrieg gegen einen Nachbarstaat. Das ist eine massive Verletzung des Völkerrechts – und wird von der westlichen Diplomatie unter den Teppich gekehrt.
Auch die Schweiz hat sich offiziell bisher nicht zum Krieg in Nordsyrien geäussert.
Nein. Gibt die UNO oder die USA bei anderen Gelegenheiten ein Votum ab, ist man stets eilig darum bemüht, ebenfalls ein Statement nachzuliefern. Jetzt, wo fast niemand etwas sagt, wäre es jedoch wichtiger, dass ein kleiner Player es wagt, klare, zutreffende Worte zu finden. Vor allem wenn man bedenkt, dass die YPG jene Menschen waren, die sich zu Tausenden geopfert haben für den Kampf gegen die Massengräuel des IS – den Kampf gegen jene also, vor dessen Anschlägen sich der Westen so sehr fürchtet.