Plötzlich steht man da und versteht die Welt nicht mehr. Man schaut hoch zum gigantischen Videoscreen am New Yorker Times Square, auf dem Fox News in der Wahlnacht sendet. Und erlebt, wie das Lieblingsmedium der Republikaner Donald J. Trump zum Sieger im Bundesstaat Wisconsin erklärt. In diesem Moment weiss man: Er wird es schaffen!
Die anderen Fernsehsender zögern noch, wohl weil sie selbst nicht glauben können, was sich am späten Abend des 8. November 2016 ereignet. Wie die Menschen hier im Herzen von Manhattan, deren Gesichter Fassungslosigkeit und Leere ausdrücken. Wie konnte das passieren?
Kurz nach Mitternacht steht fest: Donald Trump ist der 45. Präsident der USA.
Wenige Stunden zuvor hatte kaum etwas auf einen solchen Ausgang hingedeutet. Als ich von meiner Airbnb-Absteige in Brooklyn Richtung Manhattan aufbrach, ging ich davon aus, über Hillary Clintons Wahlsieg zu berichten. Zur Entlastung sei angeführt, dass ich nicht allein war. Im Gegenteil: Mit wenigen Ausnahmen gingen alle halbwegs seriösen US-Politauguren von diesem Szenario aus, angefangen beim vermeintlichen Demoskopie-Guru Nate Silver.
Clinton hatte zur grossen Party ins Javits-Kongresszentrum geladen. Mit seinem Glasdach war es der perfekte Ort für die symbolische gläserne Decke, die sie als erste US-Präsidentin durchstossen wollte. Donald Trump hingegen hatte sich mit seinen Getreuen im Hotel Hilton in Midtown verschanzt. Es schien, als würden die beiden damit das Wahlergebnis vorwegnehmen.
Je später der Abend, umso mehr geriet diese Überzeugung ins Wanken. Auf meinem Streifzug durch Manhattan stiess ich auf enthusiastische Trump-Wähler, die überzeugt waren, dass ihr Kandidat Amerika wieder gross machen würde. Eine ähnliche Begeisterung beim Clinton-Anhang war weit und breit nicht zu erkennen. Irgendetwas geschieht hier, musste ich mir eingestehen.
Die Kurven für Clinton und Trump in Nate Silvers scheinbar narrensicherem Prognose-Modell bewegten sich fast im Minutentakt in die Gegenrichtung. Der am frühen Abend noch klare Vorsprung der Demokratin verwandelte sich in einen Rückstand. Auch die «normalen» Umfragen erwiesen sich als untauglich. Der Republikaner siegte in fast allen Swing States.
Trumps Siegesrede verfolgte ich auf dem Laptop in Brooklyn. Die Redaktion verlangte nach einer Einschätzung, dabei konnte ich mir selber keinen Reim auf das Geschehen machen. Wie konnte es sein, dass ein aufgeblasenes Grossmaul mit einem gestörten Verhältnis zur Wahrheit, ein Frauengrapscher mit zweifelhaftem Leistungsausweis als Unternehmer die Wahl gewann?
Ich verlor in dieser Nacht nicht nur meinen Glauben an die USA, die ich immer bewundert hatte, sondern an die Menschheit.
So richtig zurückgekehrt ist er bis heute nicht. Dabei hätte man gewarnt sein müssen. In den zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl reiste ich durch die Südstaaten der USA. Sie sind eine Bastion der Republikaner, es war stets klar, dass Trump hier gewinnen würde. Und doch war ich erstaunt, wie frustriert viele Menschen über den Zustand ihres Landes und die Untätigkeit der Classe politique in Washington waren. Und wie sie auf den «Erlöser» hofften.
Donald Trump verkörperte ihn nicht obwohl, sondern weil er «anders» war, keiner dieser aalglatten Politiker. Er redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er pfeift auf politische Korrektheit. Er verkauft sich als erfolgreicher Dealmaker, nicht zuletzt dank der Reality-Show «The Apprentice», die ihn über seine Heimatstadt New York hinaus zur national bekannten Figur gemacht hat.
Damit gelang es ihm, ein Wählersegment zu mobilisieren, das sich scheinbar aus dem politischen Prozess abgemeldet hatte: Weisse Menschen mit geringer Bildung, deren gut bezahlte Jobs in der Industrie verschwunden sind und die sich abmühen, den Anschluss an die Mittelklasse zu halten. Ihnen verdankt Trump den – knappen – Sieg in den Staaten des «Rust Belt» wie Wisconsin.
Wie gross die Misere dort ist, stellte ich im Wahljahr 2012 selber fest. Ich fuhr damals durch die Kohle- und Stahlreviere im Süden des Bundesstaats Ohio. Die meisten Fabriken standen still, in den Stadtzentren war der Verfall nicht zu übersehen. Ich sprach mit dem Boss einer Stahlarbeiter-Gewerkschaft, die fast alle Mitglieder verloren hatte, und spürte seine Frustration über den Niedergang.
Es war der perfekte Nährboden für einen «Heilsbringer» wie Donald Trump. Trotzdem konnte und wollte ich nicht glauben, dass ein solcher Typ Präsident werden konnte. Seine Wahlchancen seien «gleich null», schrieb ich, nachdem er im Sommer 2015 seine Kandidatur erklärt hatte. Hatte nicht Barack Obama trotz widriger Umstände die Wahl 2012 gewonnen, auch in Ohio?
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Natürlich lag das auch an Hillary Clinton. Sie verkörperte das verhasste Establishment und schleppte zu viele Skandale mit sich herum. Als Wahlkämpferin konnte sie weder ihrem Mann noch Obama das Wasser reichen. Am Ende hatte sie unterschätzt, wie sehr Trumps Slogan «Make America great again» den Nerv der Menschen traf.
Und nun? Macht er Amerika wieder gross? Bislang ist Präsident Trump vor allem dadurch aufgefallen, dass für ihn keine Schublade zu tief ist, wenn es darum geht, Menschen zu beleidigen. Er feuert jeden Morgen einige Salven auf Twitter ab und mokiert sich dann gegenüber seinen Mitarbeitern, er sei wohl wieder «zu wenig präsidial» gewesen. Wie bei vielen Gerüchten um Trump kann man dazu nur sagen: Ist es nicht wahr, so ist es gut erfunden.
Das Paradoxe daran: Trotz seines virtuosen Umgangs mit Twitter ist der Präsident ein Mensch des 20. Jahrhunderts. In ihrer Furcht vor den Zumutungen der Gegenwart haben die Amerikaner einen Mann ins Weisse Haus gewählt, der mit dem Wählscheiben-Telefon aufgewachsen ist. Und der China und Mexiko für den Verlust von Millionen Industriejobs verantwortlich macht, die in Wirklichkeit Automatisierung und Digitalisierung zum Opfer gefallen sind.
Auf der Habenseite kann man einwenden, dass Trump in der Sachpolitik bislang kaum Schaden angerichtet hat. Das Gesundheitsgesetz Obamacare existiert noch immer, und zum Atomkrieg mit dem «kleinen Raketenmann» Kim Jong Un ist es (noch) nicht gekommen. Ein Baustart für die Mauer an der Südgrenze, sein wohl wichtigstes Wahlversprechen, ist nicht in Sicht.
Also alles halb so wild? Das wahre Problem findet man quasi in der zweiten Reihe. Trumps ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der bei der Mobilisierung der Wähler eine zentrale Rolle spielte, hat dem Establishment der Republikaner den Krieg erklärt. Er will die Partei auf einen stramm rechtsnationalistischen Kurs bringen und ist dabei schon bedenklich weit gekommen.
Donald Trumps Rolle in diesem Spiel ist diffus. Ist er Mittel zum Zweck oder aktiv daran beteiligt? Er verfügt über kein ideologisch gefestigtes Weltbild und eignet sich auch aus diesem Grund bestens als Projektionsfläche. Seine Beliebtheitswerte sind national auf einem Tiefpunkt, aber der harte Kern seiner Wählerschaft glaubt weiter, dass er das Land zu alter Grösse zurückführen wird.
Donald Trump im Weissen Haus ist eine Anomalie. Werden die USA und ihre Selbstheilungskräfte in der Lage sein, sie zu korrigieren? Früher wäre ich davon überzeugt gewesen. Nach der Erfahrung von vor einem Jahr habe ich den Glauben daran nicht gänzlich verloren. Aber sicher bin ich mir nicht mehr.