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Corona Schweiz: So erlebt ein Schweizer Arzt die indirekte Triage

Ein Operationsteam versorgt einen Patienten. (Symbolbild)
Ein Operationsteam versorgt einen Patienten. (Symbolbild)bild: shutterstock

«Er war schon unter Narkose, dann mussten wir die Operation abbrechen»

Ein Schweizer Neurochirurg erzählt, weshalb er aufgrund des Coronavirus seine Arbeit nicht mehr optimal ausführen kann. Er hat uns drei konkrete Fälle geschildert.
06.01.2022, 15:34
Corsin Manser
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Bald ist es zwei Jahre her, seit der erste Coronavirus-Fall in der Schweiz entdeckt wurde. Seither ist die Belastung für das Schweizer Gesundheitssystem gross. Die Spitäler müssen zahlreiche Covid-Patienten versorgen, die in der Regel sehr viel Betreuung brauchen.

Um das Personal zu entlasten und Platz in den Einrichtungen zu schaffen, wurden seit Beginn der Pandemie Operationen verschoben. Wie viele es genau sind, ist nicht bekannt. Es dürften eher Zehntausende als Tausende sein.

Auch aktuell müssen Patienten auf ihre Operationen warten, da viele Spitäler am Limit laufen. Die Verschiebungen sind vom Bundesrat gewollt, Alain Berset wiederholte die Forderung Mitte Dezember des vergangenen Jahres.

Doch was bedeutet dies für die betroffenen Personen und die behandelnden Fachleute? Wir haben mit einem Schweizer Arzt gesprochen, der uns drei Fälle geschildert hat, die er in den vergangenen zwei Jahren erlebt hat.

Der Arzt wollte die Fälle anonymisiert schildern, um das Berufsgeheimnis zu wahren. Er ist Neurochirurg und arbeitet in einem der grössten Spitäler der Schweiz.

Die Neurochirurgie sei eine «sehr spezialisierte Medizin», sagt er einleitend. In der Schweiz gebe es weniger als zehn Spitäler, welche die gesamte neurochirurgische Versorgung anbieten. Deswegen seien Patientenverlegungen bei Kapazitätsengpässen nur bedingt möglich.

Fall 1: Hirntumor und Narkose für nichts

Die meisten Operationen bei uns sind geplant. Wenn jemand einen Hirntumor hat, legt man die Operation auf einen gewissen Tag.

Bei uns ist nun Folgendes passiert: Der Patient, er war etwa 50 Jahre alt, kam am Morgen zu uns. Er hatte einen Hirntumor im Kleinhirn, was eine ziemlich komplexe Operation verlangte. Es war klar, dass er nach dem Eingriff auf die Intensivstation muss. Etwa für ein bis zwei Tage.

Kurz bevor er in den Operationssaal gefahren wurde – er war da schon unter Narkose – hiess es, es gebe aufgrund der vielen Covid-Patienten kein freies Intensivbett mehr. Wir mussten entscheiden, ob wir den Patienten trotzdem operieren, obschon er danach nicht auf die Intensivstation kann. Dies wäre ein nicht unerhebliches Risiko für ihn gewesen.

Wir haben uns dann entschieden, dass wir die Operation nicht durchführen. Wir liessen den Patienten wieder aus der Narkose aufwachen und konnten die Operation erst zwei Tage später durchführen. Er erhielt also für nichts eine Narkose, welche auch ein gewisses Risiko mit sich bringt.

Der Patient war dementsprechend unzufrieden. Verständlicherweise. Er war schon unter Narkose, dann mussten wir die Operation abbrechen. Du schläfst ein, denkst, du wirst operiert, wächst auf und es ist komplett anders gelaufen, als du gedacht hast.

Dieser Fall ereignete sich in der zweiten Welle, die sich im Herbst 2020 und im Winter 2021 ereignete. Eine Impfung gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zeitweise lagen damals bis zu 500 Covid-Patienten auf den Schweizer Intensivstationen. Aktuell sind es etwa 300.

Fall 2: Hirntumor und Covid-Infektion

Der zweite Fall spielte sich im August 2021 ab. Zu diesem Zeitpunkt wäre es in der Schweiz für einen Grossteil der Erwachsenen möglich gewesen, sich doppelt impfen zu lassen. Da dies aber längst nicht alle gemacht hatten, füllten sich die Intensivstationen wieder mit Covid-Patienten. Diese waren zu einem sehr grossen Teil ungeimpft.

Bei einem jungen Familienvater wurde nach einem epileptischen Anfall ein Hirntumor diagnostiziert. Leider konnten wir schon im MRI feststellen, dass es sich um einen der häufigsten Hirntumore handelt. Dieser ist bedauerlicherweise auch einer der bösartigsten.

Das Einzige, was man hier machen kann, ist alles herauszuoperieren, die Patienten bestrahlen und eine Chemotherapie. Das muss alles sehr schnell gehen. Wenn man unmittelbar reagiert, kann man das Leben des Patienten um ein paar Monate, vielleicht ein paar Jahre verlängern.

Der Familienvater hätte also unbedingt operiert werden müssen. Obschon er zwei Mal gegen das Coronavirus geimpft war, hatte er sich aber nochmals angesteckt. Deswegen konnten wir ihn zehn Tage lang nicht operieren.

Danach wurde die Operation nochmals um mehrere Tage verschoben, da es kein Platz auf der Intensivstation hatte. Insgesamt konnte er erst 16 Tage nach der Diagnose operiert werden. Vor dem Eingriff haben wir nochmals ein MRI gemacht und gesehen, dass der Tumor in dieser Zeit weiter gewachsen ist. Die Verzögerung der Behandlung hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Einfluss auf die Überlebenschancen des Patienten.

Diese Medikamente braucht ein Covid-Patient auf der Intensivstation

Video: watson/Emily Engkent

Fall 3: Blutverdünner vergebens abgesetzt

Der nächste Fall handelt von einer Frau im erwerbstätigen Alter. Er ereignete sich im September 2021, also nur kurz nach Fall 2.

Die Frau brauchte eine ziemlich komplexe Rücken-Operation. Sie hatte schwere Gefässerkrankungen und hatte in den Hauptgefässen der Beine mehrere Stents. Wenn man solche Stents hat, braucht es Blutverdünner, damit sie nicht verschliessen.

Bei einer früheren Operation hatte die Frau ein Blutgerinnsel in den Stents, da man die Blutverdünner für die Operation absetzen musste.

Jetzt musste sie wieder operiert werden. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt zwei Blutverdünner, die man für die Operation wieder stoppen musste. Wir wissen jeweils genau, wie lange vor der Operation die Blutverdünner abgesetzt werden müssen. Das können je nach Wirkstoff 48 Stunden oder bis zu sieben Tage sein. Nach Ablauf dieser Zeit können wir operieren.

Nach der Operation werden die Blutverdünner schnellstmöglich wieder verabreicht, damit die Chance möglichst klein ist, dass sich die Stents verschliessen.

Bei dieser Frau haben wir also die Operation geplant und die Blutverdünner im Voraus gestoppt. An dem Tag, als wir operieren wollten, trat wieder der Fall ein, dass es keine Intensivplätze hatte. Wir mussten die Operation um zwei Tage verschieben. Sie hatte also die Blutverdünner zwei Tage länger als nötig gestoppt. Zum Glück ist nichts passiert. Aber diese Frau hatte ein deutlich höheres Risiko, dass sie von dieser Operation einen Schaden davon trägt.

Die aktuelle Situation

Dem Arzt ist es wichtig zu erwähnen, dass man in der Schweiz immer noch «eine der besten Gesundheitsversorgungen der Welt» habe. Auch in der aktuellen Situation. «Ich will die Leute nicht in Panik versetzen. Es ist nicht so, dass wir im Kriegsmedizin-Modus sind.» Dennoch empfindet er die aktuelle Situation als «frustrierend». «Ich weiss, man könnte die Patienten eigentlich besser behandeln, dann hätten sie bessere Chancen.»

Aktuell sei es so, dass in seinem Spital Operationen verschoben würden. Wenn es ginge, seien dies nicht dringliche Eingriffe. Doch es würden sich auch nach wie vor Fälle wie oben geschildert ereignen.

Der Arzt erzählt zudem von Hirnblutungen, die jeden von uns treffen könnten. «Etwas vom heikelsten in der Neurochirurgie sind Hirnblutungen, die sich nach dem Platzen einer Gefässaussackung ereignen. Sogenannte Aneurysmen.» Solche Patienten seien sehr gefährdet. Im Normalfall würden sie etwa zwei Wochen Betreuung auf der Intensivstation benötigen.

In der Schweiz gebe es nur ganz wenige Spitäler, die solche Patienten betreuen können. «Nun hatten wir mindestens drei Mal die Situation, dass Rettungsdienste oder kleinere Spitäler eine solche Hirnblutung diagnostiziert und uns kontaktiert hatten.» Man habe diese abweisen müssen, da es keinen Platz auf der Intensivstation gegeben habe.

Die Patienten seien deshalb in ein weiter entfernt liegendes Spital transportiert worden. «Sie waren deswegen vielleicht eine halbe Stunde länger unterwegs. In dieser Zeit waren sie nicht richtig überwacht.»

Es gebe bei ihnen das Sprichwort «time is brain», erzählt der Arzt. «Solche Patienten müssen möglichst schnell versorgt werden, dann sind die Chancen am grössten, dass sie die Hirnblutung ohne Folgeschäden überstehen.»

Momentan könne die optimale Versorgung aber nicht in jedem Fall gewährleistet werden. Vor dem Auftreten des Coronavirus sei es nie passiert, dass man solche Personen habe abweisen müssen.

Die Fälle, die er geschildert habe, würden sich nicht nur in seinem Spital ereignen, so der Arzt. «Ich weiss, dass dies in anderen Regionen der Schweiz auch passiert. Meine Kollegen aus anderen Spitälern berichten mir auch von solchen Fällen.»

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228 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Atombömbeli
06.01.2022 16:01registriert Juni 2015
DAS sind die wahren Opfer der Impfunwilligen: Das Spitalpersonal und die Patienten, welche auf die Betten angewiesen wären.

DANKE an alle Ärzte und Pflegekräfte (und das was es drum rum braucht), damit ihr trotz dieser Herausforderung einfach für uns als Bevölkerung da seid und jeden Patienten bestmöglich behandelt.
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Blerim_X
06.01.2022 16:00registriert Juni 2021
Ich möchte an dieser Stelle meine tiefste Dankbarkeit für alle, die sich nicht impfen lassen wollen zum Ausdruck bringen. Nur dank Euch ist diese aussergewöhnliche Situation erst möglich und der erwähnte Neurochirurg wäre sonst nie ins Rampenlicht gekommen... Und erst der junge Familienvater mit dem Hirntumor! Zum Glück gibt es Euch, damit er noch zusätzlich leiden darf und sich sorgt, ob er noch für seine Kinder da sein wird wenn Covid mal vorbei ist. Ihr macht es möglich, dass er das vielleicht nicht mehr erleben wird... Merci a Tous! Ihr seid die selbstlosen Krieger, die wir brauchen! Danke
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Hadock50
06.01.2022 17:48registriert Juli 2020
Ich frage mich ernsthaft warum die Schwubbler (Problemverursacher) derart bevorzugt werden !?

Es ist einfach ein Frechheit !
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