International
Interview

«Putin unterschätzt Widerstand»: Kriegs-Experte rechnet mit langem Kampf

Interview

«Putin unterschätzt den Widerstand»: Kriegs-Experte rechnet mit langem Kampf

Politik-Professor Dieter Ruloff glaubt, Putin sei ein Corona-Opfer, er habe sich zu lange mit Geschichtsbüchern isoliert und wolle nun die Sowjetunion wiederbeleben. Von Kaltem Krieg spricht er nicht.
26.02.2022, 06:5326.02.2022, 07:18
Pascal Ritter / ch media
Mehr «International»
epa09785014 An Ukrainian serviceman gives medical aid to her colleague near the city of Kharkiv, Ukraine, 25 February 2022. Russian troops entered Ukraine on 24 February prompting the country's p ...
Der Kriegsexperte Dieter Ruloff, glaubt, dass der Widerstand in der Ukraine grösser sein wird, als es Putin erwartet. Eine ukrainische Soldatin verarztet einen Kameraden.Bild: keystone

Mittlerweile sind die russischen Truppen bis in die Region der ukrainischen Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Dieter Ruloff, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen, ist Autor des Klassikers «Wie Kriege beginnen», wo er bewaffnete Auseinandersetzungen analysiert und kategorisiert. Im Interview ordnet er die Attacke auf die Ukraine ein und erklärt, mit was Europa nun noch rechnen muss.

Dieter Ruloff ist emeritierter Professor der Internationalen Beziehungen der Universität Zürich.
Dieter Ruloff ist emeritierter Professor der Internationalen Beziehungen der Universität Zürich.Bild: zvg

Dieter Ruloff, Sie publizierten zu Kriegen und wie sie beginnen. Was sehen wir in der Ukraine?
Einen Überfall mit Ansage. Die westlichen Geheimdienste hatten die Invasion vorausgesagt, aber Putin hat bis kurz vorher alles abgestritten. Der Kriegsbeginn aus einem Manöver ist ein Klassiker der Militärgeschichte. Sie müssen, um einen solchen Blitzkrieg durchzuziehen, die Truppen möglichst nah an der Grenze in Stellung bringen. Putin setzte also ein Manöver an, führte die notwendigen Truppen zusammen und sagte, es sei nur eine Übung. Und als die Lage günstig war, zog er es durch.

War der Krieg also von langer Hand geplant?
Ja. Ich glaube nicht, dass Putin sich der Illusion hingegeben hat, dass man seine Maximalforderungen erfüllt. Er will quasi das Rad der Geschichte bis vor 1991 zurückdrehen. Er hat sogar die Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten in Frage gestellt.

Was wird Putin jetzt tun?
Die Ukrainer werden Widerstand leisten, aber vermutlich nicht verhindern können, dass Putin einen ihm genehmen Präsidenten in Kiew installiert. Er will wohl eine Art Quisling einsetzen. Vidkun Quisling war der Premier, den die Nazis in Norwegen eingesetzt haben. Sie wollten keinen eigenen Mann an der Regierung, sondern einen Norweger, der sich dafür hergibt. Nach dem Krieg wurde Quisling vor Gericht gestellt, verurteilt und erschossen.

«Ich glaube, Putin ist ein Corona-Opfer»

Was treibt Putin an?
Ich glaube, Putin ist ein Corona-Opfer. Während dieser Krise sass er einsam im Kreml, umgeben einzig von ein paar Jasagern. Und was tut man da? Man widmet sich der Geschichte. Und er las natürlich nur Bücher von regimetreuen Schreiberlingen. Und irgendwann muss er den Beschluss gefasst haben, in der Geschichte eine grössere Rolle zu spielen: Er will die Sowjetunion wiederherstellen oder wenigstens ein paar Schritte in diese Richtung unternehmen. Es ist ja schon einigermassen interessant, dass er sich nun in einer Reihe sieht mit den Gewaltherrschern der Sowjetunion. Angesichts der letzten beiden Ansprachen, wo er teilweise die Fassung verlor, fragt man sich schon: Ist er verrückt geworden?

Wird Russland noch weitere Gebiete einnehmen?
Wenn die baltischen Staaten nicht in der Nato wären, könnte man das befürchten. Vor allem, wenn die Sache in der Ukraine einfach über die Bühne ginge. Damit ist aber nicht zu rechnen. Putin wird dieser Krieg auf Jahre beschäftigen. Zudem wird er sich hüten, einen Nato-Staat anzugreifen. Dann droht ihm massive Vergeltung, bis hin zu atomaren Schlägen. Anders sieht es in Staaten wie Finnland oder Schweden aus. Dort sind die Leute nervös. Man überlegt, ob man nicht doch der Nato beitreten sollte. Die Finnen haben früher üble Erfahrungen mit der Sowjetunion gemacht und einen grossen Teil des Territoriums verloren. Allerdings wird man nun diese Länder nicht in die Nato aufnehmen, höchstens zu einem späteren Zeitpunkt. Dass Putin dort nun auch angreift, glaube ich nicht. Der hat nun mit der Ukraine genug zu tun.

«Wenn Putin dort angreift, greift er quasi Deutschland an»

Würden die USA im Ernstfall den Nato-Staaten wirklich mit allen Mitteln helfen?
Das wird in der Tat passieren. Man wird nicht direkt mit Atomwaffen drohen, aber das Land mit Truppen unterstützen. In den baltischen Ländern sind zudem europäische Truppen stationiert, zum Beispiel deutsche. Wenn Putin dort angreift, greift er quasi Deutschland an. Und die USA haben in Mitteleuropa auch Truppen präsent. Es käme zu einem Grosskonflikt zwischen Supermächten. Das ist Putin dann doch mehrere Schuhnummern zu gross. Vor allem, wenn man mit der Ukraine ­beschäftigt ist und das nicht so gut läuft, wie man sich das vorgestellt hat. Ich denke, er unterschätzt den Widerstand.

Läuft es denn wirklich so schlecht? Russische Panzer sind in Kiew.
Das ist schwer zu sagen. Aber wenn ein paar Panzer in der Millionenstadt Kiew stehen, ist das noch nicht das Ende der Geschichte. Ich nehme mal an, Russland wird noch weitere Truppen nachschieben, die dann Regierungsgebäude besetzen und auf ihre Art «Ruhe und Ordnung» schaffen auf der Strasse. Eine Millionenstadt von aussen unter Kontrolle zu bringen gegen eine feindliche Bevölkerung ist aber ein sehr, sehr schwieriger Job.

Müssen wir also mit einer belagerten Stadt wie in Sarajevo rechnen?
Sarajevo ist im Vergleich zu Kiew eine Ministadt. Das wird dort nicht so ablaufen. Es gibt in Kiew zudem viele Bunker aus der Sowjet-Zeit, es gibt ­U-Bahn-Stationen und vor allem eine aufgeschlossene Bevölkerung, die bestimmt bereit wäre, jemand zu verstecken, der zum Beispiel einen russischen Panzer mit einem Molotowcocktail angegriffen hat. Den Blitzkrieg gegen Georgien 2008 hatte Russland zwar in unter einer Woche gewonnen. Aber nur schon im Kaukasus war das eine langwierige Geschichte. Die Ukraine wird für Putin eine sehr schwierige Sache.

«Vor allem die Sanktionen gegen das Umfeld Putins tun weh. Sanktionen wirken aber auf kurze Frist wenig»

Erreicht Putin sein Ziel mit der Attacke auf die Ukraine?
Im Gegenteil. Putin will ein schwaches Europa, für das sich die USA nicht interessieren, und am liebsten eine Auflösung der Nato. Das ist eine komplette Illusion. Ein Traum. Er hat genau das Gegenteil erreicht. Die Zusammenarbeit ist stärker, als sie je gewesen ist. Ab 1990 gab es Diskussionen, ob man die Nato noch braucht. Jetzt ist die Nato gestärkt, die Amerikaner sind wieder näher an Europa gerückt. Die Ampelkoalition in Deutschland denkt plötzlich wieder übers Aufrüsten nach.

Die Nato ist gestärkt, weitere Staaten könnten beitreten, löst das eine Spirale der Konfrontation aus?
Das glaube ich nicht. Finnland in der Nato ist ein fernes Projekt. Man wird jetzt hingehen und sagen: Wir wollen Putin nicht noch unnötig provozieren.

Sind die Sanktionen mehr als Symbolik?
Vor allem die Sanktionen gegen das Umfeld Putins tun weh. Sanktionen wirken aber auf kurze Frist wenig. Sie werden überwiegend umgangen. Russland wird bei China beziehen, was es im Westen nicht mehr kaufen kann. Die russische Wirtschaft wird aber leiden. Der Rubelkurs ist abgestürzt, obwohl die russische Nationalbank Devisen verpulvert hat, um den Kurs zu stützen. Ich bezweifele, dass das Putin dazu bringt, seinen Kurs zu ändern. Aber die internationale Gemeinschaft musste irgendwie reagieren.

Befinden wir uns jetzt in einem neuen Kalten Krieg?
An ein Revival des Kalten Krieges glaube ich nicht. Russland ist ja viel kleiner als damals die Sowjetunion. Und der Rest der Welt schaut eher skeptisch auf Russland. Selbst in China hat man seine Bedenken. Man traut ihm nicht. Man darf nicht vergessen: Die Russische ­Föderation hat noch offene Grenzprobleme mit China. Da hat es auch mal Konflikte gegeben. Politiker, die unberechenbar sind, will man nicht als Partner. Mit einem Bonmot gesprochen: Wenn China Putin zum Freund will, dann braucht es keine Feinde mehr.

Das aktuelle «Time»-Magazin.
Das aktuelle «Time»-Magazin.

«Time» titelte: «History is back». War die These vom Ende der Geschichte nicht immer albern?
Es ist keine dumme These, aber sie war der Geschichte voraus. Was Westeuropa betrifft, stimmt sie ja. Die Länder haben keine grösseren Probleme mehr miteinander. Geschichte, verstanden als grosse Auseinandersetzungen um Sicherheit und Territorien, ist hier ­beendet. Im Rest der Welt wird es aber noch eine Weile dauern, bis es so weit ist. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Solidarität bekunden: Diese Gebäude leuchten für die Ukraine
1 / 8
Solidarität bekunden: Diese Gebäude leuchten für die Ukraine
Der Eiffelturm in den Farben der Ukraine, am 25. Februar 2022.
quelle: keystone / mohammed badra
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Was zur Hölle tun Sie hier!?» Ukrainerin schreit russischen Soldaten an – und weitere Eindrücke aus der Ukraine
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
144 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
maylander
26.02.2022 07:47registriert September 2018
Kann sich die Regierung in Kiew halten wird es sehr schwierig für die Russen. Alles war auf einen schnellen sieg ausgelegt. Wird daraus ein lange Sache, wird nur schon die Logistik für die Russen sehr schwierig.
Da hat wieder einmal ein Machthaber auf seine optimistischen Generäle gehört. Da gab es schon unzählige Male ein der Geschichte und kam nie gut.
Strategisch sieht es auch schlecht aus. Entweder verliert er seine Armee oder sie wird langfristig gebunden. Damit verliert er ein wichtiges Drohpotential. Westeuropa wird sich wohl vom günstigen Erdgas entwöhnen
1883
Melden
Zum Kommentar
avatar
Haarspalter
26.02.2022 07:42registriert Oktober 2020
„Man fragt sich schon: Ist er verrückt geworden?“

Ein wirklich sehr gutes und informatives Interview.
18110
Melden
Zum Kommentar
avatar
Radio Eriwan - mit Echtheitszertifikat
26.02.2022 07:33registriert November 2020
Im Prinzip ja, danke für diese sachliche Einschätzung der Situation.
Erstaunlich, wie sehr sich ein ehemaliger Geheimdienstchef auf ihn um- & ergebene Mitarbeiter abstützt und ein dermassen umfangreiches Risiko für seine Nation und Ihn eingeht, wie einen Krieg anzuzetteln.
Prosperität und Fürsorge geht anders, Herr Präsident - ein klarer Fall von unberechenbarem Grössenwahn kombiniert mit verletzten Nationalstolz.
1416
Melden
Zum Kommentar
144
Israel will Rafah angeblich in Etappen angreifen – das Nachtupdate ohne Bilder
Der israelische Angriffsplan für Rafah steht laut Medienberichten. Zuerst sollen Zivilisten evakuiert werden. Derweil kommt es nach dem Veröffentlichen eines Videos einer Hamas-Geisel in Israel zu Protesten. Hier ist das Nachtupdate.

Israel will seine angekündigte Bodenoffensive auf die Stadt Rafah im Süden des abgeriegelten Gazastreifens einem Medienbericht zufolge in Etappen durchführen. Wie die Zeitung «Wall Street Journal» am späten Mittwochabend unter Berufung auf ägyptische Beamte und ehemalige israelische Offiziere berichtete, änderte Israel auf Druck der USA und anderer Länder seine anfänglichen Pläne für einen grossangelegten Angriff auf die derzeit mit Hunderttausenden palästinensischer Binnenflüchtlingen überfüllte Stadt an der Grenze zu Ägypten. Durch ein stattdessen schrittweises Vorgehen solle die Zahl ziviler Opfer begrenzt werden, hiess es. Israels Militär äussert sich zu seinen Einsatzplänen nicht. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte allerdings vor wenigen Tagen «weitere schmerzhafte Schläge» gegen die islamistische Hamas angekündigt. «Und dies wird in Kürze geschehen», sagte er.

Zur Story