Würden Sie sagen, dass ich mich wohltätig engagiere, wenn ich ein Youtube-Video ins Netz lade?
Andreas Müller: Ja, in einem gewissen Sinn schon. Wir sind der Meinung, dass Freiwilligenarbeit neu verstanden werden muss. Vereine und Parteien beklagen sich über einen Mitgliederrückgang. Gleichzeitig entstehen aber ganz viele neue Arten von Engagement – eben zum Beispiel im Netz, wo viele Menschen auf Wikipedia oder Tripadvisor der Welt wertvolle Informationen zur Verfügung stellen, ohne dafür bezahlt zu werden.
Ist die GDI-Studie mit dem Titel «Die neuen Freiwilligen» also ein Versuch, die Ehre der Generation Smartphone zu retten?
Ich glaube nicht, dass eine solche Ehrenrettung nötig ist. Aber wenn man die Studienergebnisse anschaut, wäre es definitiv verfehlt, der jungen Generation mangelndes Engagement vorzuwerfen. Während die nationalen Parteien Mitglieder verlieren, legen die Jungparteien, aber auch Organisationen wie die Operation Libero oder das GLP Lab, zu. Sie schaffen es, Begeisterung zu wecken, und sind dank technologischen Möglichkeiten wie Crowdfunding auch erfolgreich.
Fakt ist: Viele Leute schrecken heute vor verbindlichen Engagements zurück. Das bekommen herkömmliche Vereine und Parteien schmerzlich zu spüren.
Wir leben in einer Multioptionengesellschaft: Jede Entscheidung für etwas ist auch eine Entscheidung gegen etwas anderes. Wir sind mobiler und das Leben ist flüchtiger geworden. Das heisst: Vereine, die schwerfällig organisiert sind und jeden Mittwochabend um halb acht ihre Mitglieder versammeln wollen, werden es künftig schwierig haben. Sie müssen sich wandeln, wenn sie überleben wollen.
Und wie?
Freiwillige müssen einen Sinn in dem sehen, was sie tun. Sie müssen sich zeitlich flexibel und projektgebunden einbringen können und sich nicht über Jahre hinaus verpflichten müssen. Zentral ist aus unserer Sicht auch, dass der Staat der Zivilgesellschaft genügend Autonomie gewährt und den Bürgern Vertrauen entgegenbringt. Freiräume machen uns sozialer und kreativer.
Als Paradebeispiel führen Sie in der Studie das Festival «Burning Man» in der Wüste Nevadas an. Das müssen Sie erklären.
Das «Burning Man» ist gerade deshalb so attraktiv, weil es kein offizielles Programm hat und nicht versucht, jegliche Risiken mit Sicherheitsvorschriften und Verboten auszuschliessen. Es basiert auf Selbstverantwortung. Darum findet man dort auf dem Gelände auch kaum Müll – im Gegensatz zu anderen Festivals, an denen sich die Teilnehmer rein als Konsumenten verstehen und sich nicht dafür verantwortlich fühlen, am Ende wieder aufzuräumen.
Und was lernt die Gemeinde Hinterpfupfigen daraus, die keine Leute für ihre Ämter mehr findet?
Behandelt man die Einwohner rein als Kunden, werden sie für ihre Gemeinde etwa gleich viel Verantwortung übernehmen wie Hotelgäste für ihr Hotel – nämlich gar keine. Die Leute müssen einen Sinn darin sehen, sich lokal zu engagieren. Und sie müssen das Engagement mit ihrem Alltag vereinbaren können, in dem sie von unterwegs – etwa während des Pendelns – Inputs abgeben. Für rein administrative Aufgaben kann man die Leute heute kaum mehr gewinnen. Sie wollen mitreden und mitgestalten.
Als das Schweizer Stimmvolk die Durchsetzungsinitiative abgeschmettert hat, sprachen Beobachter von einem «Aufstand der Zivilgesellschaft». Trifft die Bezeichnung aus Ihrer Sicht zu?
Jede Volksabstimmung ist Ausdruck der Zivilgesellschaft – insofern wäre ich hier vorsichtig. Die Abstimmung war aber dennoch richtungsweisend, weil Gruppierungen wie die Operation Libero erstmals den Abstimmungskampf geprägt haben. Bemerkenswert ist, dass sich die Operation Libero von einer Art Feuerwehr zu einer konstruktiven Kraft gewandelt hat. Gegründet wegen eines subjektiv empfundenen Missstands – der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative – geht es ihr inzwischen darum, die Zukunft des Landes mitzugestalten.
In den letzten paar Abstimmungskämpfen haben auch Jungparteien tragende Rollen übernommen. So zählten etwa die Jungfreisinnigen bei der Altersvorsorge, bei No Billag und jetzt beim Geldspielgesetz zu den Wortführern. Was machen sie besser als ihre Mutterparteien?
Sie nutzen die Mittel der digitalen Kommunikation geschickt und erzeugen so eine Wirksamkeit und ein Gemeinschaftsgefühl. Beides sind laut unserer Studie wichtige Erfolgsfaktoren für eine moderne Freiwilligenarbeit. Wenn Juso-Initiativen oder Kampagnen der Jungfreisinnigen den politischen Diskurs in einem ganzen Land mitprägen, verleiht dies den Gruppierungen zusätzliche Attraktivität.
Sie sagen: Moderne Freiwillige wollen mitreden statt nur ausführen. Sie wollen keinen eintönigen Bürokram erledigen, sondern etwas erleben. Am Ende sind wir also doch bloss Egoisten!
Das muss gar nicht schlecht sein. Auch wenn jemand aus rein egoistischen Motiven einen Quartierflohmarkt organisiert, haben die Leute am Ende Freude daran. Die Tendenz geht dahin, dass wir vom Samariter-Gedanken wegkommen, der heute dem ehrenamtlichen Engagement oft anhaftet. Wir sind nicht mehr aufopfernde Helfer und dankbare Hilfeempfänger, sondern begegnen uns vermehrt auf Augenhöhe. Dank der Digitalisierung haben wir auch die Möglichkeit, eintönige administrative Aufgaben auszulagern – und eines Tages vielleicht von Robotern erledigen zu lassen – sodass mehr Zeit für kreative und strategische Arbeiten bleibt.
Wäre es nicht einfacher, gewisse Aufgaben direkt an den Staat zu übertragen, für die heute nur noch schwer Freiwillige gefunden werden können?
Es geschieht immer wieder, dass der Staat Aufgaben von der Zivilgesellschaft übernimmt. Die Schulbildung, die früher auch privat organisiert war, ist das beste Beispiel dafür. Der Staat kann sich aber nicht um alles kümmern, der Markt genauso wenig. Zudem sehen wir in unserer Untersuchung, dass es sich nicht um ein Nullsummenspiel handelt: Wenn Markt, Staat und Zivilgesellschaft richtig kombiniert werden, entsteht am Ende allen ein Mehrwert.
Die Studie erwähnt auch, dass aufgrund der Digitalisierung in Zukunft immer mehr Leistungen in Rechnung gestellt werden dürften – bis hin zum Aufhalten einer Tür. Das wäre dann doch definitiv der Todesstoss für die Freiwilligen-Kultur.
Das mit der Tür ist jetzt natürlich ein Extrembeispiel. Aber ja, wir sehen die Tendenz, dass gewisse freiwillige Angebote verschwinden, weil sie sich plötzlich in Rechnung stellen lassen. So ist das kostenlose Couchsurfing ziemlich eingebrochen, nachdem AirBnB auf den Markt kam. Gleichzeitig eröffnen sich auch neue Möglichkeiten – Stichwort Crowdfunding.