Auf dem Boden befindet sich ein Bürostuhl, zerlegt in seine Einzelteile. Niemand hatte bislang Zeit für die Montage, vieles wirkt noch improvisiert. Die neue Geschäftsstelle der Operation Libero an der Zürcher Langstrasse ist ein Work in Progress. «Wir sind gerade eingezogen und müssen uns jetzt einrichten», sagt Geschäftsleiterin und Co-Präsidentin Flavia Kleiner.
Es ist viel geschehen in den letzten Monaten. Sehr viel.
Vor zwei Jahren wurde die Operation Libero gegründet, von jungen Leuten, überwiegend Studenten. Einige waren zuvor Mitglieder beim aussenpolitischen Thinktank Foraus. Die neue Bewegung entstand als Reaktion auf die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Februar 2014. Diesem Abschottungsverdikt wollte die Bewegung eine positive Message entgegen stellen, das «Chancenland» Schweiz.
Bis zum Beginn dieses Jahres war die Operation Libero ein Verein, den ausserhalb der Politikszene kaum jemand zur Kenntnis nahm. Dann folgte der Knackpunkt, der alles ändern sollte: Die Abstimmung über die SVP-Durchsetzungsinitiative am 28. Februar. Die Perspektiven waren düster, erste Umfragen verhiessen ein klares Ja. Aus der Politik waren defätistische Töne zu vernehmen, mit Ausnahme einiger «Unerschrockener» wie dem Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni.
Bei der Operation Libero wollte man sich damit nicht abfinden: Kein weiterer Sieg für die SVP! Also ging man zum Angriff über. Eine Reportage im «Magazin» hat die Strategie eindrücklich beschrieben. Die Offensive der Jungen weckte viele aus ihrer Lethargie und führte zu jenem Phänomen, das als «Aufstand der Zivilgesellschaft» glorifiziert wurde. Am Ende stand ein glänzender und in mancher Hinsicht historischer Erfolg: 59 Prozent sagten Nein zur DSI.
Die denkwürdige Abstimmung machte Operation Libero zum Hoffnungsträger einer Politik, die sich gegen Abschottung und Ausgrenzung auflehnt. Co-Präsidentin und Kampagnenleiterin Flavia Kleiner wurde quasi über Nacht zum Promi. Sie erhielt Labels wie «SVP-Schreck» und «Postergirl» angeheftet und trat in der «Arena» oder bei Schawinski auf, der in Gegenwart der attraktiven Zürcherin vom bissigen Tiger zum zahmen Kater mutierte.
«Seit der DSI waren wir nie mehr im Normalzustand», sagt Kleiner lachend. Bis Anfang Jahr waren die Liberas und Liberos ehrenamtlich tätig, nun wird eine Professionalisierungsstrategie umgesetzt, die bereits im Sommer 2015 erarbeitet worden war. Im Mai bezog die Organisation eine erste Geschäftsstelle in den Räumlichkeiten der Stiftung ffgs. Nun verfügt man an der Langstrasse über ein eigenes Büro, auch den «Hauptsitz» im Progr in Bern will man behalten.
Ausserdem leistet man sich eine Geschäftstelle mit fünf in Teilzeit arbeitenden Mitgliedern. Demnächst wird eine sechste Person angestellt, als Community Manager. Sie wird dringend benötigt, denn die «Gemeinschaft» von Operation Libero ist stark gewachsen. Die Mitgliederzahl stieg von 118 zu Jahresbeginn auf 324 Ende Februar. Jetzt sind es bereits rund 840. Hinzu kommen mehr als 2000 Personen, die sich aktiv engagieren wollen.
Finanziert wird all dies durch Spenden. Dank der DSI-Publizität erhielt man viel Kleinspenden. Die Bewegung will künftig darüber auf ihrer Website Transparenz herstellen und etwa die juristischen Personen gesondert deklarieren.
Auch regional expandiert die Operation Libero. Nach Bern und Zürich wurde diese Woche in Basel eine dritte Sektion gegründet. Und die Expansion soll sich fortsetzen. Im Visier hat man nicht zuletzt die Westschweiz. Erste Kontakte wurden geknüpft. «Wir haben viele coole, junge, brillante Leute, die etwas anpacken wollen», schwärmt Flavia Kleiner.
Die Operation Libero ist ein Angebot, auf das viele – nicht nur junge – Leute gewartet haben. Der Politgeograf Michael Hermann beschreibt es in seinem neuen Buch «Was die Schweiz zusammenhält» vielleicht am besten: «Erst die unerschrockenen jungen Menschen um Flavia Kleiner von ‹Operation Libero› haben wieder aufgezeigt, welche Kraft eine progressive Narration von Mut, Offenheit, Fairness und Leistungswillen auch heute noch entwickeln kann.»
Das erzeugt Neid und Kritik, von rechts wie links. Auf Twitter wurde die Operation Libero als «Tarnkappenbomber der SP» angefeindet. Umgekehrt lästerte SP-Nationalrat Cédric Wermuth, die Liberos hätten mit ihrem Nein zur «AHVplus»-Initiative «ihr neoliberales Gesicht» gezeigt. Die Bewegung, die sich als liberal definiert, nimmt es gelassen. «Ich werde fast jede Woche in der ‹Personenkontrolle› der ‹Weltwoche› erwähnt. Das empfinde ich als Kompliment», schmunzelt Flavia Kleiner.
Ernsthafter ist die Frage, wie gross der Anteil der Operation Libero am DSI-Erfolg wirklich ist und ob der Hype gerechtfertigt ist. Tatsächlich engagierten sich zahlreiche Akteure aus der «Zivilgesellschaft», etwa der «Dringende Aufruf». Die Vox-Analyse kam zum Ergebnis, dass die Ablehnung der Initiative nicht einer Mobilisierung von politikfernen Jungen zu verdanken war, sondern einem Stimmungswandel bei der CVP- und FDP-Wählerschaft.
Manche Medien reagierten auf die «konventionelle» Erklärung fast schon erleichtert. Bei der Operation Libero erkennt man keinen Widerspruch: «Unser Zielpublikum waren die Anhänger von FDP und CVP», sagt Geschäftsleitungsmitglied Adrian Mahlstein. Ohnehin überzeugt die Vox-Analyse nur bedingt, sie liefert keine Erklärung für die ungewöhnlich starke Mobilisierung (die Stimmbeteiligung war mit 63 Prozent so hoch wie nie seit der EWR-Abstimmung 1992).
Eine Erklärung liefert Flavia Kleiner: «Wir haben den Leuten vermittelt, dass wir nicht in die Falle der SVP tappen, sondern sie auf unser Spielfeld holen.» Diese Taktik funktionierte perfekt. Den Gegnern der Durchsetzungsinitiative sei es gelungen, «aus einem Ausländerthema eine institutionelle Debatte zu machen», erklärte Michael Hermann gegenüber watson. Die Sorge um den Rechtsstaat verdrängte die Abneigung gegen «kriminelle» Ausländer.
«Viele haben deshalb anders gestimmt als bei der Ausschaffungsinitiative 2010», erläutert Flavia Kleiner. Selbst die SVP musste am Ende zugeben, dass sie gegen die Strategie ihrer Gegner machtlos war. «Irgendwann ging es nicht mehr um Ausschaffung krimineller Ausländer, sondern nur noch um Rechtsstaatlichkeit», klagte der designierte Parteipräsident Albert Rösti am Abstimmungssonntag im watson-Interview. Ein Satz, den sich Kleiner regelrecht auf der Zunge zergehen lässt.
Wie gross aber war der Anteil von Operation Libero wirklich? Einen Anhaltspunkt liefern die sozialen Medien. «An unserem besten Tag erreichten wir auf Facebook eine halbe Million Leute», sagt Adrian Mahlstein, der die Online-Aktivitäten betreut. Einen ähnlichen Reach habe man mit einigen Beiträgen erzielt. Auch in Zukunft wird die Bewegung stark auf die Online-Kanäle setzen. «Mit unseren Postings zur Vertragsbruchinitiative hatten wir auch einen guten Reach», sagt Mahlstein.
Eine Spezialität sind die «Online-Warriors», ein Trupp Freiwilliger, der sich in den sozialen Medien ins Getümmel stürzt und die rechten Trolle bekämpft. Dazu werden sie von der Operation Libero mit Memes, Fakten und Argumenten munitioniert.
Das Ganze hat durchaus eine kriegerische Dimension. Die Gangart ist rau, wer als Online-Warrior aktiv ist, darf nicht zart besaitet sein. Die Gruppe sei aber «extrem gut zusammengewachsen», freut sich Mahlstein. Teilweise treffen sich die «Krieger» sogar in der Freizeit – in der realen Welt, nicht in der virtuellen.
Die Libero-Aktivitäten und der DSI-Erfolg sind nicht unbemerkt geblieben. Seit der Abstimmung ist Flavia Kleiner in Europa unterwegs, um zu dozieren, wie man die Rechtspopulisten besiegen kann. Aus Österreich erhielt sie Einladungen von den Grünen und der liberalen Neos, aus Deutschland von der FDP. Zweimal reiste sie nach Holland, zum Kongress der Grünen und ans Forum «Re:Creating Europe» in Amsterdam. «Jude Law war auch dort», sagt Kleiner lachend.
«In diesen Ländern gibt es üble Rechtspopulisten, man spürt eine grosse Angst vor ihrem Aufstieg», meint die Libero-Chefin. Ihr Ziel sei es, den Menschen Mut zu machen. «Bei uns gibt es die SVP seit 25 Jahren, und sie wird immer schlimmer.» Trotzdem könne man den Bann brechen, man müsse nur daran glauben. «Wir zeigen, was funktioniert, aber wir fordern die Leute auch auf: Macht jetzt!» Schöne Reden genügen Kleiner nicht, sie will etwas bewegen.
Ihren Antrieb erklärt die 25-Jährige mit der Geschichte, genauer mit den 1930er Jahren, als Europa offenen Auges in die Katastrophe marschierte. «Ich bin mega besorgt über das, was in Europa geschieht.» Sogar eine Rückkehr zum Faschismus hält Flavia Kleiner für möglich. Man kann das belächeln oder als übertrieben abtun, aber die Geschichtsstudentin will sich niemals vorwerfen lassen, sie sei untätig geblieben: «Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um dagegen zu halten.»
Wie aber geht es mit der Operation Libero im Inland weiter? Auch in dieser Hinsicht ist die Bewegung ein Work in Progress. Im Herbst will sie eine Standortbestimmung vornehmen und ihre Strategie definieren. Mit der Nein-Parole zu «AHVplus» hat sie sich auf ein neues Terrain vorgewagt, die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ausserdem stehen weitere Abstimmungen an. Beim revidierten Asylgesetz hat sich die Operation Libero erfolgreich für das Ja stark gemacht.
Präsenz in den sozialen Medien markiert sie schon heute gegen die Fremde Richter-Initiative der SVP (im Libero-Jargon Vertragsbruch-Initiative) und das Burkaverbot, obwohl über beide Themen frühestens in zwei bis drei Jahren abgestimmt wird. Der nächste Showdown mit der SVP dürfte bei der erleichterten Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation anstehen. Das Parlament hat sie im September verabschiedet, die Abstimmung wird im Februar oder Mai 2017 stattfinden.
Nationalrat für #Burkaverbot: Wir müssen für liberale Errungenschaften wie Religionsfreiheit kämpfen. Hilf mit: https://t.co/dwnnDuuuaA pic.twitter.com/S0ETnowa8n
— Operation Libero (@operationlibero) September 28, 2016
Weiter stellt sich die Frage, ob die Operation Libero eine Bewegung bleiben oder sich entwickeln will, vielleicht gar zu einer Partei. Flavia Kleiner hält wenig von solchen Ideen. Als Bewegung könne man offen bleiben für Menschen unterschiedlichster Ausrichtung: «Mir ist es scheissegal, welche Parteifarbe jemand hat.» Ein wichtiger Faktor ist die Glaubwürdigkeit, die Operation Libero geniesst. Kleiner hat selber schon gehört, sie sei glaubwürdiger als alle Politiker.
Wer nach der DSI davon ausging, dass Operation Libero eine Eintagsfliege ist, muss umdenken. Flavia Kleiner jedenfalls schüttelt den Kopf, wenn man ihr sagt, sie könne es nun etwas ruhiger nehmen: «Wenn wir alles richtig machen, wird es nie ruhiger werden.»