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Ludmila Balkanovic

Warum ein EU-Beitritt von Serbien die Familien auseinanderreisst

Stress? Nicht im Balkan. Für eine Zigi hats noch immer gereicht. Auch an einer Tankstelle.
Stress? Nicht im Balkan. Für eine Zigi hat es noch immer gereicht. Auch an der Tankstelle.Bild: flickr.com/Elias Bizannes
Ludmila Balkanovic

Der Jugo und seine Arbeitsmoral – oder warum die EU Familien auseinanderreisst

In ihren letzten Ferien auf dem Balkan sprach Ludmila mit Arbeitern und dem Mann ihrer Cousine über die EU. Jetzt weiss sie, warum Serbien wohl weiterhin aussen vor bleibt – und warum das voll okay ist.
29.06.2017, 14:4030.06.2017, 09:07
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Wir sitzen am Arsch der Welt. Wir, das sind meine zwei Cousins, meine Schwester und ich. Wir sind in der Schweiz geboren, reisen aber alle paar Jahre zusammen nach Serbien. Einfach, weil wir schon als Kinder jeden Sommer in den Kuhkäffern jenseits von Belgrad miteinander verbrachten. Und weil wir uns im Alltag nur wenig sehen. Der Stress, die Arbeit, die Verpflichtungen.

Das letzte Mal waren wir 2015 in der Heimat unserer Eltern. An einem Nachmittag, unser Mietauto hatte gerade eine Panne, strandeten wir auf einer Überlandstrasse, wo es nichts gab ausser einem Schnellimbiss. Wir bestellten Cevapcici, drei Bier und für mich ein Wasser. Der Betreiber versuchte den Pannendienst zu erreichen. Ohne Erfolg.

Wir nahmen es locker. In den Tiefen des Balkans läuft alles etwas langsamer, entspannter, stressfreier.

Vor zwei Minuten waren sie Fremde, jetzt sind sie Familie

Wie wir so da sitzen, kommen zwei Männer rein. Sie tragen weisse Unterhemden und zerfetzte Schuhe. Sie bestellen Bier und Burger. Die Mittagssonne brennt, es ist drückend heiss.

Wir sprechen Deutsch. Die Männer wollen wissen, was wir Kurliges reden. Innert zwei Minuten mutieren wir von Fremden zu Familie. Die beiden wollen uns einen Drink ausgeben. Milan, der Jüngere, steht auf und holt drei Biere aus dem Kühlschrank.

Mein Saft fordert ihn heraus. «Saft? Der Alte weiss nicht einmal, wie Saft aussieht!», sagt der Ältere. Sowohl Milan als auch Zoran haben in den letzten 30 Jahren nichts Alkoholfreies getrunken. Ausser Kaffee. Meine Liebe für die beiden könnte grösser nicht sein.

Ludmila Balkanovic
Unsere Kolumnistin Ludmila wuchs zwischen Mani Matter, Kettenrauchern, harten Schweizer Schulregeln und einer «Fuck the System»-Kultur auf. Hier erzählt die Mittdreissigerin aus ihrem Leben zwischen Schweizer Bünzli- und dem Jugotum.

Sie sind Müllmänner. Ihre Arbeitszeiten sind nirgends in Stein gemeisselt. Sie arbeiten, bis die Strassen sauber sind. Einigermassen zumindest. «Wir wollen ja in die EU, dafür muss der Müll weg», sagen Zoran und Milan und lachen dieses wohlwissende Lachen, dass das mit dem Beitritt zur EU höchstwahrscheinlich noch lange nichts wird.

Die Herren verhocken. Vier Stunden sitzen wir da, essen, trinken, lachen. Auf die Frage, warum sie mitten im Tag so lange pausieren können, antwortet Milan: «Wir können alles. Nicht so wie du gebildete Schweizerin mit Arbeitszeiten, die dich vielleicht reich, aber nicht frei machen.»

«EU-Arbeitszeiten reissen Familien auseinander.»
Goran, Mann von Ludmilas Cousine 

Ins gleiche Horn stösst der Mann meiner Cousine. Er ist ein Klischee-Jugo. Fettfalte im Nacken, Glatze, Goldzahn. Er arbeitet irgendwas mit Sicherheitsdienst.

Während wir zu zehnt in seinem verrauchten Wohnzimmer sitzen, kommt erneut das Thema EU auf. Goran, so der Name des Mannes meiner Cousine, ist gegen den Beitritt. «Führt Serbien EU-Arbeitszeit ein, die maximal 48 Stunden pro Woche beträgt, werden Familien auseinandergerissen.»

Qualitytime mit der Familie statt Arbeit. In Sachen Prioritätensetzung lässt sich der Serbe nicht lumpen.
Qualitytime mit der Familie statt Arbeit. In Sachen Prioritätensetzung lässt sich der Serbe nicht lumpen.Bild: flickr.com/garagin milkojovich

Goran holt aus. Wenn man so viel Zeit mit Arbeiten verbringt, würde die Qualitytime daheim sehr leiden. So dass es zum Bruch käme. Er würde nie mit uns Schweizern und unserem Arbeitspensum tauschen wollen. Wir lachen.

Sind wir Idioten?

Später sitzen wir Schweizer in einer Kneipe und lassen Gorans Worte und die der Strassenarbeiter auf uns wirken. Wir fragen uns, ob wir die Idioten sind, die zu viel arbeiten und zu wenig leben. Eine finale Antwort haben wir nicht.

Einig sind wir uns darin, dass des Serben Arbeitsmoral gesünder für Geist und Seele ist. Und lustiger. Und dass all das am Ende vielleicht doch wichtiger ist als der Kontostand. Oder eine Mitgliedschaft in der EU.

Solange das Land in anderen, wichtigen Punkten Fortschritte macht, ist wohl alles bestens so, wie es ist. Und Fortschritte macht es. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass Ana Brnabic Regierungschefin wird. Obwohl sie lesbisch ist. Und Homosexualität ausserhalb von Belgrad leider immer noch gesellschaftlich nicht anerkannt ist.

Mit Brnabics Ernennung sind wir aber schon mal auf dem richtigen Weg. Ob dieser irgendwann doch noch in die EU führt oder, ganz nach dem Lieblingsmotto des Serben «fuck the boring system», in einer hippieähnlichen Revolution endet, wird sich zeigen. Ich persönlich fände zweiteres geiler. Hajde!

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51 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Dingsda
29.06.2017 16:26registriert Dezember 2014
Ich denke das es die Menschen in der Schweiz je länger je mehr verstehen dass man die Prioritäten bei der Work/Life-Balance eher richtung Life verschieben sollte (wenn möglich). Einige meiner Freunde und deren Umfeld verzichten lieber auf Geld und Arbeiten z.B. nur 80% - jeder von denen ist mit dieser Entscheidung glücklicher geworden.
Ich bin z.B als Freelancer im Film/Medienbereich und kann mir mittlerweile sogar aussuchen für wen ich Arbeite. Für mich wäre es der Horror jeden Wochentag die selbe Zeit immer und immer wieder abzuarbeiten und dabei jedes mal dieselben Fressen sehen zu müssen.
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Randy Orton
30.06.2017 02:15registriert April 2016
Ich lese deine Geschichten immer sehr gerne.
Ein solches Arbeitspensum mag verlockend wirken, es spiegelt aber meiner Meinung nach eher die wirtschaftliche Schieflage als dass es Ausdruck für eine gemütlichere Lebensweise ist. Auf der anderen Seite hast du in Serbien viele arbeitslose und schlecht ausgebildete Jugendliche (ausser in den Grossstädten). Dazu noch die sozialen Konflikte, zwischen den einzelnen Ethnien aber vor allem auch zwischen Stadt und Land (wie du es ja auch schön beschreibst). Ich hoffe, Serbien kommt weiterhin so gut voran wie in den letzten 10 Jahren.
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Duscholux
30.06.2017 13:25registriert Oktober 2016
Sind wir die Dummen mit den langen Arbeitszeiten? Ja, ja sind wir. 100%.
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Eine sehr unschöne Geschichte, die 1 Furz beinhaltet
Ich würde es gerne abstreiten, aber ich kann nicht. Hie und da muss ich furzen. So auch neulich beim Restaurantbesuch mit Sandros Familie. Warum das schlimmer als schlimm war und was das mit Frau Fischer und einem Happy End zu tun hat.

Dass es in meinen Gedärmen rumpeln wird, war mir schon nach dem dritten Bissen klar. Aber es musste das sehr scharfe rote Curry sein.

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