Organspende: I schänke dir mis Härz.
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Yonnihof
Im Februar 2015 stirbt Kirstens Mutter überraschend an einer Aortendissektion. Da sie keinen Organspendeausweis hat, muss die Familie die Entscheidung treffen.
19.09.2015, 13:3119.09.2015, 14:49
Kirsten (31) und ich haben zusammen studiert und obwohl wir
uns immer gut verstanden, sehen wir uns nach fünf Jahren das erste Mal wieder.
Kirsten ist pünktlich, ich bin zu früh, wie immer. Nachdem sie mich herzlich
umarmt hat, sagt sie mir: «Das ist mir an dir am meisten geblieben:
Nichtrauchen und Pünktlichkeit». Sie lacht. Wo sie Recht hat, hat sie Recht.
Bis auf die Länge ihrer Haare und das Brillenmodell hat sie
sich kaum verändert, ist noch genauso hübsch und genauso blond wie damals im
Studium. Wir beginnen gerade mit Smalltalk, als mir ein Diamant an ihrem Finger
entgegenblitzt und ich – ganz Mädchen – frage: «Was ist DAS denn?» Kirsten
strahlt und antwortet, sie habe dieses Jahr geheiratet. Natürlich entweicht mir
zugleich die oft verhasste Frage, wie’s denn mit der Familienplanung aussehe.
Da wird Kirsten ernst und sagt, noch wolle sie das nicht. Sie wolle kein
emotionales Loch mit einem Kind füllen.
Mit dem emotionalen Loch meint sie ihre Mutter. Kirsten hat
sich mit mir getroffen, um vom Tod ihrer Mutter zu berichten. Der Mutter, die
mitten im Leben stand, im 61. Lebensjahr, Lehrerin war mit Herz und Seele,
aktiv und involviert.
Am 20. Februar 2015 um circa 8.30 Uhr klingelte Kirstens
Telefon, als sie gerade im Zug zur Arbeit sass. Am anderen Ende meldete sich
ihre jüngere Schwester, völlig aufgelöst und kaum verständlich. Nach mehrfachem
Nachfragen erfuhr Kirsten, dass ihre Mutter auf dem Weg ins Spital in St.Gallen sei, der Vater sei mitgefahren.
«Um 8.30 Uhr kam das Telefon, dass meine Mutter auf dem Weg ins Spital sei.»
Am Morgen habe sie geklagt, sie fühle sich nicht wohl, habe sich darauf hingelegt. Nach einer Weile sagte sie, sie habe starke Schmerzen im Bauch und
Taubheitsgefühle in der einen unteren Körperhälfte. Da rief ihr besorgter
Ehemann, mit dem sie 35 Jahre verheiratet war, die Ambulanz. In St.Gallen wurde eine Aortendissektion diagnostiziert
und die Mutter sofort per Helikopter ins Zürcher Universitätsspital geflogen,
wo sie sogleich notoperiert wurde. Noch in St.Gallen erlitt der
Vater einen Zusammenbruch und musste zur Beobachtung im dortigen Spital bleiben.
Kirsten berichtet von diesen Geschehnissen sehr ruhig und geordnet, mir
kommen immer wieder fast die Tränen.
Nach der Operation im Universitätsspital unterrichtet der
behandelnde Arzt Kirsten am Telefon über eine Überlebenswahrscheinlichkeit von
30-50 Prozent. «Trotz Schock funktionierte ich einfach weiter und organisierte, wie
meine gesamte Familie am schnellsten nach Zürich kommen könnte.» Ein Besuch bei der Mutter war erst tags darauf möglich, dann war auch der Vater wieder dabei.
«Das war nicht mehr meine Mutter.»
Man habe in der Nacht noch einmal notoperieren müssen, um
die Durchblutung der Organe zu gewährleisten, unterrichteten die Ärzte sie vor Ort. Die Mutter sei mehr oder weniger stabil, sie sei jedoch nach Absetzen
der entsprechenden Medikamente nicht aus dem künstlichen Koma aufgewacht.
«Wir konnten immer nur zu zweit in ihr Zimmer», erzählt mir
Kirsten. Der Anblick der Mutter sei erschreckend gewesen, aufgedunsen und
gelblich habe sie ausgesehen. «Wie eine Wachsfigur. Das war nicht mehr meine
Mutter.» Ihrer Schwester, die mit ins Zimmer gekommen war, versagte der
Kreislauf und sie musste sich auf den Boden legen.
Nach der Besuchszeit fuhr die ganze Familie in Kirstens
Wohnung. Kurz nach 23 Uhr kam der Anruf aus dem Spital, der Zustand der
Mutter habe sich stark verschlechtert und die Familie möge unverzüglich nach
Zürich kommen.
Kirsten schildert, wie sie vor dem Spital auf ihre Schwester
wartete, dabei in der Februarkälte rauchend auf und ab tigerte und ihr der
Spruch Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende ständig auf der
Zunge lag, wie sie ihn aber ums Verrecken nicht formulieren konnte. «Diese Erinnerung ist in mir festgebrannt. Das war wohl eine
Vorahnung oder so etwas wie eine Eingebung bezüglich dessen, was dann kam»,
beschreibt sie.
#ichhabmichentschieden
Am 19. September 2015 ist Nationaler Tag der Organspende. Die Kampagne
#ichhabmichentschieden des Bundesamtes für
Gesundheit (BAG), in deren Rahmen dieser Text verfasst wurde, hat das Ziel, die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass die
Nachfrage nach Spenderorganen zurzeit massiv höher ist als das Angebot an
Spendern. Die Kampagne möchte die Schweizer Bevölkerung auffordern, sich
bezüglich Organspende zu entscheiden – dafür oder dagegen. Mehr Informationen
finden sich bei
transplantinfo.
Die Uhr habe 0:02 Uhr gezeigt, als sie das Spital betraten. Es
war der 22. Februar, der Geburtstag ihres Vaters. Sie habe die Zahl gesehen und
gedacht: «Ich glaube, heute verlieren wir sie, heute ist kein guter Tag.»
«Wenn wir uns für eine Behandlung entschieden hätten, wäre das für uns gewesen, nicht für sie.»
Auf der Intensivstation angekommen, bat der Arzt darum, dass
drei Familienmitglieder ihm folgen mögen. Der Vater, die mittlere Schwester und
Kirsten gingen mit. Die Mutter bekam gerade ein MRI und die fünf Ärzte vor Ort
erklärten den dreien, dass nun auch die Karotis, also die Halsschlagader,
gerissen sei und die rechte Hirnhälfte deshalb zu lange unterversorgt wurde und abgestorben sei. Die Ärzte stünden vor einer Art Lose-lose-Situation, es gebe
unterschiedliche Eingriffe, das Best-case-Szenario sei dabei eine halbseitige
Lähmung, die Wahrscheinlichkeit dafür sei jedoch verschwindend klein. Wenn die
Mutter die möglichen Eingriffe überleben würde, dann wäre das, wenn überhaupt,
lebensverlängernd, die Lebensqualität praktisch nicht mehr vorhanden.
«Wenn wir uns für eine der Behandlungen entschieden hätten,
wäre das für uns gewesen, nicht für sie. Das wäre nicht mehr unsere Mutter
gewesen, an Maschinen gefesselt, gelähmt, ohne Bewusstsein.» Kirsten zeigt mir
ein Bild ihrer Mutter. Es blickt mir eine Frau entgegen, die ich auf höchstens
50 geschätzt hätte, mit einem entspannten Lächeln auf dem Gesicht, das um den
Mund und die Augen viele Lachfältchen aufweist. Eine Schöne war sie.
Und so entschied die Familie, die Mutter keinem weiteren
Eingriff mehr auszusetzen und sie gehen zu lassen. Das war 42 Stunden, nachdem
sie zuhause in St.Gallen über Unwohlsein geklagt hatte.
Die Familie verbrachte noch die gesamte Nacht gemeinsam mit der
Mutter. Am Morgen um 4 Uhr hörte sie auf, selbständig zu atmen. «Für mich
ist sie in dem Moment gestorben», sagt Kirsten heute.
«Wenn mein Vater sich gegen eine Spende entschieden hätte, hätte ich ihn gelassen.»
Erst zu diesem Zeitpunkt thematisierte der behandelnde Arzt eine mögliche Organspende. Die Mutter hatte keinen Spenderausweis. «Ich weiss nicht genau,
warum. Wahrscheinlich, weil sie Angst hatte, dass man dann nicht alles für sie
tut. Oder auch, weil sie sich einfach keine Gedanken dazu machte», erklärt mir
Kirsten. Für sie, selbst langjährige Besitzerin eines Ausweises, sei der Fall
klar gewesen, für den Rest der Familie schliesslich auch. Auf die Frage, wie es
wohl gewesen wäre, wenn man sich innerhalb der Familie nicht hätte einigen
können, sagt Kirsten: «Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir hätten alle auch gar nicht die Kraft gehabt zu streiten. Wenn mein Vater sich gegen eine Spende
entschieden hätte, hätte ich ihn gelassen.»
Als sie signalisierten, dass eine Spende für sie in Frage
käme – und noch ohne irgendeine feste Zusage – wurden zwei Mitarbeiter
der Donor Care Association (DCA) aufgeboten.
Genau wegen der Ängste, man könnte der Organe wegen zu früh
mit der Behandlung aufhören, seien die behandelnden Ärzte und das
Transplantationsteam immer streng voneinander getrennt, unterrichtete sie der behandelnde Arzt, und er versicherte der
Familie, dass er keine Ahnung habe, welche Organe entnommen und wem sie transplantiert
würden, das wüssten nur die Transplantationsteams, und das auch erst, nachdem
der Spende zugestimmt und mittels biologischer Daten der Spenderin der optimale
Match im System gefunden worden sei.
«Das Ganze war unheimlich professionell. Wir wurden genau
über den Ablauf aufgeklärt, über die Hirntoddiagnose und was es dafür braucht,
über jeden einzelnen Schritt. Sie betonten immer wieder, dass wir jederzeit
auch Nein sagen und unsere Meinung ändern könnten.»
Am Morgen gab die Familie ihr Einverständnis.
Der Hirntod wurde am nächsten Tag um 12.12 Uhr offiziell
festgestellt, die Multiorganentnahme fand in der darauffolgenden Nacht statt. Es wurden
Lunge und die Cornea, also die Hornhaut des Auges, entnommen und transplantiert.
«Es gibt Momente, da möchte ich schreien.»
Die Familie konnte die aufgebahrte Mutter später noch einmal
sehen. «Auch da war ein Mitarbeiter des Transplantationsteams vor Ort, um uns
zu begleiten und Fragen zu beantworten», berichtet
Kirsten. «Ich ging nur meiner Familie wegen in dieses Zimmer hinein. Ich habe es fast nicht
ausgehalten, das war einfach nicht meine Mutter.»
Über den Zustand der Lungenempfängerin bekommt die Familie heute regelmässige Updates. Es gehe ihr gut, sie habe die Reha bereits hinter sich.
Es habe Momente gegeben, beichtet mir Kirsten, wo sie sich gefragt habe, wieso
diese Frau leben dürfe und ihre Mutter nicht. «Ich bin mir bewusst, dass das
komplett irrational ist», fügt sie an.
Kirsten konnte erst Monate nach dem Tod ihrer Mutter richtig
weinen. Als die allgemeine Trauer vorbei war und das Umfeld ins Tagesgeschäft
überging, «da hat es mich so richtig verschnätzlet. Der Schmerz ist manchmal
regelrecht physisch, hier in der Brust, weisst du?», sagt sie und hält ihre
Hände über ihr Herz. «Es gibt Momente, da möchte ich schreien, obwohl ich
weiss, dass es irgendwann vorbei geht.»
Seit dem Tod der Mutter lebe sie bewusster. Sie könne sich
heute vorstellen, Kinder zu haben. Das habe sie früher nie ausgeschlossen, aber
jetzt sei es konkreter. Die Hochzeit ohne die Mutter sei hart gewesen. «Sie
fehlt immer wieder». Trotzdem sei sie heute, viel eher als früher, immer wieder
dankbar für alles, was sie habe.
«Ich habe es keine Sekunde bereut.»
Zum Schluss unseres Gespräches stelle ich Kirsten eine wichtige Frage, nämlich, ob sie im gesamten Ablauf je
das Gefühl hatte, man gebe ihre Mutter zu früh auf, um an ihre Organe zu
kommen. In Gesprächen und in Diskussionen zu Organspendetexten war das immer
wieder ein Thema, und es ist meines Erachtens einer der Hauptgründe, warum sich
Leute aktiv gegen Organspende entscheiden. Kirstens Antwort darauf war klar und
deutlich: «Nein. Auf keinen Fall. Ich hatte sogar das Gefühl, dass man uns eher
zu viele Optionen aufzeigte, als man uns entscheiden liess, ob die Behandlung
fortgesetzt werden soll oder nicht. An und für sich war klar, dass meine Mutter
sterben würde und dass die aufgezeigten Optionen sie nicht retten konnten, die
Ärzte wollten aber nicht ohne unser Einverständnis die Behandlung meiner Mutter
einstellen.»
«Ich habe es keine Sekunde bereut, dass wir uns fürs Spenden
entschieden haben», betont Kirsten. «Falls meine Mutter nun ihrerseits eine Spende gebraucht
hätte, aus welchem Grund auch immer, wäre ich auch froh gewesen, wenn eine
andere Familie die Entscheidung getroffen hätte, die wir gefällt haben.»
In liebevoller
Erinnerung an Brigitte, 1955-2015
Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Organspende
Wo bekomme ich einen Spenderausweis? http://www.swisstransplant.org/de/organspende-transplantation/spender-werden/ Hier kann man einen Ausweis ausfüllen und sofort ausdrucken (der Zeitaufwand beträgt geschätzte 60 Sekunden), sich
eine Karte per Post bestellen und sich die entsprechende App holen. Empfohlen
wird, einen Ausweis bei sich zu tragen
und die App auf dem Handy zu
installieren.
Auf dem Ausweis kann man angeben, ob man alle, keine, oder nur gewisse Organe spenden will.
Genügt ein Spenderausweis als rechtliche Grundlage zur
Organentnahme? Ja.
Welche Kriterien müssen zur Entnahme erfüllt sein? Zwingende Kriterien sind entweder der
irreversible Hirntod(Donor after Brain Death) oder der
irreversible Herzstillstand (Donor after
Circulatory Death). Eine Organentnahme wird ausschliesslich mit einer
Einwilligung (Organspendeausweis, Einwilligung der Angehörigen) durchgeführt. Die
behandelnden Ärzte und das Transplantationsteam sind in der Schweiz immer streng voneinander
getrennt, sodass eine mögliche Organspende so wenig Einfluss wie möglich auf
die Behandlung des Patienten hat.
Welche Organe können gespendet werden?In der Schweiz: Herz, Lunge, Leber, Niere, Dünndarm und Pankreas (Bauchspeicheldrüse), sowie Gewebe wie z.B. Augenhornhaut, Haut.
Für Lebendspenden kommen Nieren sowie Teile der Leber und, was am häufigsten gespendet wird, Blutstammzellen in Frage. Blutstammzellen-SpenderIn können Sie
hier werden.
Wer bekommt die Spende? Die Priorisierung erfolgt in der Schweiz, unabhängig von der Art der Versicherung, nach folgenden Kriterien:
Medizinische Dringlichkeit > Wohnsitz Schweiz > Medizinischer
Nutzen > Prioritäten (Kinder/Blutgruppe) > Wartezeit
Lernen sich die Angehörigen von Spendern und die Empfänger
kennen? Nein. Das Schweizer Transplantationsgesetz verbietet es,
dass die beiden Parteien sich kennenlernen. Empfänger, die sich bedanken
wollen, können den Angehörigen des Spenders über swisstransplant einen
persönlichen Brief zukommen lassen. Die Plattform
habdank.ch dient Angehörigen
und Empfängern, ihre Gefühle und das Erlebte in Worte zu fassen.
Warum soll ich spenden? Ein Organspender rettet das Leben von bis zu sieben
Menschen. Im Moment warten ca. 1300 Menschen in der Schweiz auf ein
Spenderorgan, etwa 100 sterben jährlich, weil sie keines erhalten.
Yonni Meyer
Yonni Meyer (33) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt.
Pony M. auf Facebook Yonni Meyer online
Dank dieses Textes wurde ich daran erinnert, was ich schon lange machen wollte; mir einen Organspendeausweis ausstellen lassen. Habs direkt gemacht und mal wieder festgestellt, dass es manchmal keine zwei Minuten dauert, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Merci Yonni!♥️