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Yonni Meyer: Von Mimose zu Mimose: Ein offener Brief

Von Mimose zu Mimose: Ein offener Brief

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Alles, was ich hören wollte, als ich verzweifelt war.
11.09.2018, 12:1711.09.2018, 12:58
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Liebe Mimose,

Ich hoffe, du liest das.   

Du und ich, wir kennen uns nicht. Das ist auch nicht wichtig.

Heute tut dir alles weh, es ist alles zu viel, du willst endlich Ruhe haben. Ich kenne diese Momente wahnsinnig gut und ich möchte dir nun das schreiben, was ich gerne gelesen hätte in Augenblicken, wenn ich weder ein noch aus wusste und dachte, ich sei völlig allein.  

Die Menschen sagen: «Scheissegal, was die anderen denken!», «Mach einfach nur dein eigenes Ding!», «Sollen sie doch sagen, was sie wollen, das kann dir doch egal sein!»  

Ich dachte das nie. Es war mir nie egal, was sie denken, was sie sagen, wie sie mich und das, was ich tue, wahrnehmen. Man kann das nicht einfach abstellen. Ich nahm’s persönlich, ich nehm’s auch heute noch persönlich. Manchmal heule ich. Man sagte mir immer wieder, das sei schlecht. Eine Mimose sei ich. Eine «Pussy».

Im Gegenteil: Ich glaube, dass es mich dahin gebracht hat, wo ich heute bin. Und ich mag diesen Ort.  

(Ausserdem, mal unter uns: Wenn es eine Stelle an unserem Körper gibt, die Iron Man-mässige Wunder vollbringen kann, dann ist das ja wohl unsere «Pussy», also sucht euch mal einen anderen Ausdruck, wenn ihr jemanden als Schwächling bezeichnen wollt, aber nicht einen Körperteil, der etwas von der Grösse einer Melone aus einem Loch zu quetschen vermag, das so gross ist wie ein Erdnüssli. «Du Blinddarm» wäre nur einer von vielen Vorschlägen.)  

So.  

Verletzlich zu sein, sucht man sich nicht aus. Und es ist nicht en vogue. Wenn man sich ob der Grobheit anderer erschrickt, ist man Teil der «Empörungskultur».  

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Und so sagten sie mir: «Lass dir eine dickere Haut wachsen». Ich bin sicher, das haben sie dir auch gesagt. Und du hast es versucht, aber es ging nicht, und die Worte trafen noch immer genauso spitz und stählern wie vorher – nur hattest du nun zusätzlich noch ein schlechtes Gewissen, weil alle anderen sich abgrenzen konnten, aber du nicht.  

Glaub mir, das ist Blödsinn: Ich kann es heute noch nicht. Ich kenne nur ganz wenige Menschen, denen tatsächlich alle anderen komplett egal sind, und die sind allesamt sehr sehr einsam. Alle andern, die das behaupten, können sich auch nicht komplett abgrenzen – nur geben sie’s nicht zu und so entsteht dieser toxische Teflon-Wahn, in dem alle tun, als würde die Welt und das, was von ihr auf sie zu- und zurückkommt, wie Öl an ihnen abperlen (liebe Teflon-Menschen: Nicht in den Spiegel zu schauen, macht einen nicht automatisch schön). Als wäre das normal. Und diejenigen, die nicht so sind, werden als schwach und feige bezeichnet.  

Ich sage: Wenn man ein offenes Herz haben will – und ich bin der Überzeugung, dass dies für ein erfülltes Leben unabdingbar ist –, muss man die Welt zumindest ein Stück weit hereinlassen und statistisch gesehen kommt da halt immer auch ein wenig Ungutes mit. Wer teflonartig einen auf «Alle/alles scheissegal» macht, lässt nichts und niemanden an sich ran und kann ergo auch nicht verletzt werden...  

... und das ist feige.  

Ich sage dir: Lass dir keine dickere Haut wachsen. Das Verletzliche gehört zu dir. Pass deinen Charakter nicht der fehlenden Kontrolle und dem Mangel an Empathie einiger Schreihälse an. Sei selektiv, überleg dir, über wen diese Angriffe mehr aussagen, über den Absender oder über dich – und zieh die richtigen Konsequenzen. Nicht ausblenden, sondern differenzieren.

Schau: Du kämpfst gerade an unterschiedlichsten Fronten und ich kann dir die Verzweiflung nicht abnehmen, auch wenn ich das unglaublich gerne würde. Dich nun aber auch noch zu verstellen und dich abgestumpfter zu geben als du es eigentlich bist, wäre ein weiterer Kampf – und zwar gegen die Person, die eigentlich deine wichtigste Alliierte sein muss: Dich selbst.  

Ich würde dir raten: Nimm diese Person bei der Hand. Diese sanfte, verletzliche, unendlich menschliche Person, die heult und Dinge persönlich nimmt, der Angriffe und Beleidigungen etwas anhaben, die sich verkriecht und Angst hat. Finde den Ort, wo es ihr am meisten weh tut – und hab sie dort am meisten lieb.  

Und noch was: Du bist nicht liebenswert, obwohl dich die Welt und die Menschen und was sie zu dir sagen, bewegen, sondern weil sie es tun.  

Es wird besser. Ich schwör.

Vill Liebi, 
eine andere Mimose, aus Überzeugung

Yonni Meyer
Yonni Meyer (36) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

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22 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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achsoooooo
11.09.2018 13:01registriert Januar 2015
Schön geschrieben!
Mein Ethik und Religion- Lehrer aus der Oberstufe hat mal gesagt: "<> ist man erst, wenn einen alles kalt lässt und egal ist - aber will man das wirklich?"
Das hat mich damals sehr beindruckt und zum Denken gebracht. Ein wenig gefühlsbetonter Mensch leidet vielleicht weniger unter negativen Emotionen - aber kann auch die guten weniger geniessen.
Ich liebe mein Leben mit all seinen Auf und Abs, jeder Moment ist mir wichtig, hat mich geprägt und zu dem gemacht, was ich heute bin.
Wenn gelegentlicher Schmerz der Preis für intensive Gefühle ist, dann soll das so sein.
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N. Y. P. D.
11.09.2018 14:34registriert Oktober 2015
Schöner Text.

Bei rebellischen Menschen sollte man nicht auf Abstand gehen. Sondern sich mal auf sie einlassen. Und siehe da. Häufig sind es sehr sensible, tiefgründige Menschen, die sich nur einen Panzer zugelegt haben.
Die sich aber öffnen, wenn Du vorurteilsfrei auf sie zugehst.

Viele sensible Menschen legen sich halt einen Panzer zu. Aber nicht unbedingt um auszuteilen, sondern um nicht einzustecken.

Die Leute, die Yonny als Beispiel bringt, sind unsensible, austeilende Dumpfbacken.
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Cocooo
11.09.2018 15:16registriert April 2018
Du hast dir soeben meinen allerersten Kommentar überhaupt verdient :)
Toller Text,,,
wieso dürfen wir nicht alle so sein
wie wir sind? Ich gebe meine gefühle (dünne haut hin oder her) nicht her.
Man lebt ja nicht, um nichts zu fühlen.
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Dass der Schnee in den USA und Europa anders ist, erzählen uns Marco Odermatt und Co. immer wieder. Aber auch für normale Touristen gibt es riesige Unterschiede – nicht nur beim Schnee.

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