Wer bei einem Finalspiel der Fussball-WM oder der Champions League im Stadion dabei sein will, muss viel Glück oder viel Geld haben. Die Tickets werden unter den zahlreichen Fans verlost – dabei geht die grosse Mehrheit leer aus. Ihr bleibt bloss noch eines: sich im Internet oder auf dem Schwarzmarkt eine überteuerte Eintrittskarte zu kaufen.
Für den WM-Final 2014 zwischen Deutschland und Argentinien berappte man auf der Ticketbörse Viagogo für einen Platz der billigsten Kategorie 4000 Euro – mehr als das Zehnfache des ursprünglichen Preises. Ein Top-Platz kostete 30 000 Euro.
Eine kleine Elite von wenigen tausend Zuschauern erlebt das Spiel im Stadion, der grosse Rest muss sich mit dem Fernseher begnügen. Das will das Start-up Virtually Live ändern.
Das Unternehmen mit Wurzeln in Zürich und im Silicon Valley baut das Fussballstadion der Zukunft. Da kommen so viele Fans rein wie wollen. Und jeder kann sitzen, wo er möchte – ja, sogar die VIP-Lounge ist zugänglich. Platzbeschränkung gibt es nicht, jeder Sitz kann mehrfach besetzt werden. Kein Fan muss draussen bleiben. Auch die mitunter kostspielige Anreise zur Arena entfällt: «Von überall auf der Welt können Sportbegeisterte unsere Stadien betreten», sagt Jamil El-Imad, Gründer und Investor von Virtually Live.
Die Stadien der Zukunft sind virtuelle Nachbildungen der realen Sportstätten. Der Zugang erfolgt übers Internet und mit einer Virtual-Reality-Brille. Setzt man sie auf, glaubt man, auf der Tribüne zu sitzen – bewegt man den Kopf, bewegt sich das Bild mit.
Es ist, als wäre man tatsächlich dort. Mit seinen Freunden, die sich in der Realität vielleicht gerade in China, Südamerika oder sonst wo befinden, trifft man sich im virtuellen Stadion und schaut den Match.
Die Zuschauer um einen herum klatschen und johlen und treiben die Spieler auf dem Feld an. In der Demo-Version, die uns El-Imad zeigt, spielt Manchester City gegen Barcelona. Das Spiel ist aufgezeichnet. In Zukunft soll man einem Fussballmatch aber live beiwohnen können.
Die Idee zu Virtually Live hatte El-Imad schon vor Jahren. 2010 wurde das Medien-System patentiert, doch erst jetzt ist die Technologie so weit, dass sie sich realisieren lässt. Der Engländer mit libanesischen Wurzeln hat sein Büro seit mehreren Jahren in Zürich. Der grösste Teil des 15-köpfigen Teams von Virtually Live ist aber mittlerweile im Silicon Valley stationiert – um näher bei den Entscheidungsträgern der Technik-Industrie zu sein.
Menschen, die sich mit Avataren in Computerwelten treffen, das erinnert an Second Life, ein Internet-Konzept aus den frühen 2000er-Jahren, das mittlerweile sang- und klanglos verschwunden ist. Doch die Macher von Virtually Live winken ab: Man baue kein zweites Second Life, es gehe hier nicht um das Ausleben von virtuellen Identitäten. «Wir bringen die Menschen zusammen, um etwas zu tun, was sie auch in der realen Welt gerne tun: Fussball schauen.»
Um die Bewegungen der Spieler in Echtzeit in die virtuelle Umgebung zu überführen, werden Daten von Spezial-Kameras verwendet. In jedem grösseren Stadion sind mehrere dieser Tracking-Kameras montiert, die die Laufwege der Spieler und die Position des Balls aufzeichnen. Sie liefern den Trainern und Fernsehzuschauern statistische Daten. Dazu gehört etwa, wie lange jede Mannschaft in Ballbesitz war und wie viel jeder einzelne Spieler gerannt ist.
Um die Positionsdaten der Spieler verwenden zu können, arbeitet Virtually Live mit Trackab und Stats.com zusammen, zwei der führenden Tracking-Unternehmen im Sportbereich. Aus diesen Daten werden die Bewegungen der Spieler errechnet und in Echtzeit auf deren virtuelle Abbilder auf dem Rasen im Cyberstadion übertragen.
Keine Frage, Virtual Reality sei das nächste grosse Ding, meint El-Imad. «Wir bauen nicht einfach eine bessere Kamera, wir entwickeln ein neues Medium», sagt der Unternehmer. Bei fotorealistischen Panorama-Kameraaufnahmen kann man zwar den Blickwinkel selber festlegen.
Virtually Live bietet hingegen mehr. Da die Bilder nicht von einer fest installierten Kamera stammen, kann man auch umherlaufen, dem Match von jeder erdenklichen Position zuschauen – von der Seitenlinie, vom Anspielpunkt oder sogar aus der Perspektive des Schiedsrichters oder eines einzelnen Spielers. Letzteres dürfte auch für Trainingszwecke interessant sein.
Andy Miah, der an der Universität Salford in Manchester zum Einfluss von neuen Technologien auf den Sport forscht, sieht in Virtually Live grosses Potenzial. Es bestehe kein Zweifel, dass die Sportindustrie herausfinden müsse, wie man die neuen technologischen Entwicklungen nutze, um Sport für Zuschauer attraktiver und interaktiver zu machen. «Und so, wie es aussieht, hat Virtually Live eine interessante Lösung dafür gefunden», meint der Professor.
Die Demonstration ist faszinierend. Sie zeigt aber auch die derzeitigen Grenzen der Technik auf. Denn die Tracking-Kameras erfassen nur die Positionen der Spieler, nicht aber deren Körperbewegungen und deren Mimik. All das wird wie in einem Videospiel künstlich animiert. Und so wähnen wir uns dann auch wie in einem etwas in die Jahre gekommenen «Fifa»-Fussball-Game von EA Sports, wenn wir den Superstars von Manchester und Barcelona zuschauen.
Andere Start-ups in diesem Feld wie etwa NextVR oder Voke nutzen deshalb für ein VR-Stadion-Erlebnis nicht die Positionsdaten der Spieler, sondern Filmen die Matches mit einer 360-Grad-Panoramakamera in HD. Ende Oktober hat NextVR zum ersten Mal ein Basketball-Spiel zwischen den Golden State Warriors und den New Orleans Pelicans auf diese Weise als Stream für die Virtual-Reality-Brille Gear VR zur Verfügung gestellt.
Virtually Live scheint seiner Zeit noch etwas voraus zu sein. Akkuratere Tracking-Technologien, VR-Brillen mit höheren Auflösungen und lebensechtere Animationen – all das wird die Technologie uns in den nächsten Jahren bringen und all das wird Virtually Live verbessern. Um neue Entwicklungen zu beschleunigen und um Virtually Live nutzbar zu machen, arbeitet das Start-up mit der ETH Lausanne zusammen.
Die Plattform beschränkt sich nicht nur auf Fussball. Auch andere Sportarten oder Konzerte liessen sich so erlebbar machen. Durch ein ausgefeiltes Kamerasystem wäre es bereits jetzt möglich, die Mimik eines Sängers einzufangen und in die virtuelle Welt zu übersetzen.
Trotz der technischen Mängel, bereits in dieser Form hat Virtually Live seinen Reiz. Nämlich als sogenannter Second Screen. Statt sich eine VR-Brille aufzusetzen, kann man Virtually Live auch auf dem Tablet starten und betrachtet dort den Match zusätzlich zu den Aufnahmen auf dem Fernsehbildschirm aus der Perspektive seines Lieblingsspielers.
Ab nächstem Jahr sollen die ersten Sportevents so über Virtually Live zugänglich gemacht werden. Dann werden die ersten zu Hause gebliebenen Fans im Stadion der Zukunft mitfiebern.