Am letzten Samstagabend hat ein Jugendlicher einen 50-jährigen orthodoxen Juden mitten in der Stadt Zürich schwer verletzt. Anis T. (Name geändert), ein 15-jähriger eingebürgerter Schweizer mit Wurzeln in Tunesien, stach mehrmals auf sein Opfer ein. Passanten griffen beherzt ein und verhinderten Schlimmeres.
In einem Bekennervideo sagte Anis T., er wolle so viele Juden töten wie möglich. Todesdrohungen sprach er auch gegen Christen aus. Der Teenager, laut Mitschülern ein Einzelgänger, hatte Helfer – womöglich im Ausland – und gab sich als IS-Anhänger zu erkennen.
Beim Anschlag in Zürich handelt es sich um die dritte vom IS inspirierte Gewalttat auf helvetischem Boden. Im Jahr 2020 kam es zu einer tödlichen Messerattacke in Morges VD und einem Messerangriff auf zwei Frauen in einem Geschäft in Lugano.
Am Mittwoch hat CH Media berichtet, dass Anis T. seinen mörderischen Plan schon am letzten Freitag auf Instagram ankündigte – auf einem in der Schweiz lokalisierten, frei zugänglichen Konto. Vordergründig geht es auf dem Konto um Brot. Einem anderen Konto gab Anis T. den Namen Bäckerei.
«Brot backen» und «Bäckerei» sind seit Langem bekannte IS-Codewörter für Terroranschläge. Wann genau Anis T. das Bekennervideo in gutem Arabisch hochgeladen hat, ist noch immer unklar. Fest steht: Es fand rasch Verbreitung auf islamistischen Kanälen.
Anis T. hatte mehr als 1000 Follower auf Instagram, viele davon sind IS-Fans, die meisten scheinen nicht aus der Schweiz zu stammen. Der 15-Jährige fiel insbesondere nach dem 7. Oktober, nach dem Hamas-Massaker in Israel, auf der Plattform X (früher Twitter) mit Sympathiebekundungen für den IS auf, wie die Tamedia-Zeitungen berichteten.
Johannes Saal, Religionssoziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Luzern, befasst sich schwerpunktmässig mit dschihadistischen Netzwerken. Er habe die noch bestehenden Instagram- und YouTube-Kanäle konsultiert, auf denen der Minderjährige seine Tat anpries.
Der junge Mann habe viel Resonanz und Hunderte «Gefällt mir»-Klicks erhalten von Hunderten Followern mit dschihadistischem Bezug. Für Saal stellt sich deshalb die Frage, weshalb dies der NDB nicht entdeckt hat – zumal es in der Schweiz nicht Hunderte Social-Media-Konten mit IS-Bezug gebe und der NDB nach einer Gesetzesrevision weitreichende Kompetenzen und technische Möglichkeiten erhalten habe.
Mit der Rolle des NDB muss sich am kommenden Montag auch Verteidigungsministerin Viola Amherd befassen. In der Fragestunde will SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann wissen, ob der NDB den Attentäter auf dem Radar hatte und was er tue, um solchen Taten vorzubeugen.
Steinemann dürfte mit Allgemeinplätzen abgespeist werden. CH Media hat den NDB gefragt, ob er Anis T. beobachtete. Eine Sprecherin antwortet, der NDB äussere sich nicht zu konkreten Einzelfällen.
Aus diesem Grund bleibt auch offen, ob Anis T. im Dschihad-Monitoring des NDB auftauchte und/oder ob er auf der Liste der «Risikopersonen» figuriert.
Im Rahmen des Dschihad-Monitoring beobachtet der NDB, wer in oder aus der Schweiz auf öffentlich genutzten Internetseiten dschihadistisches Gedankengut verbreitet. Seit 2012 waren es 779 Personen. Aktuell zählt der NDB 41 «Risikopersonen». Es handelt sich um Menschen, von denen eine erhöhte Terrorgefahr ausgeht.
Der ehemalige Nachrichtendienstchef Peter Regli mag nicht in diese Kritik einstimmen. Er weist darauf hin, dass der NDB seit Langem warnt, die grösste Gefahr gehe von dschihadistisch motivierten Einzeltätern aus, die mit einfachen Methoden Gewalttaten verüben. «Es ist auch für ausländische Nachrichtendienste sehr schwierig, den einsamen Wolf mit dem langen Messer zu entdecken», sagt Regli.
Er weist darauf hin, dass sich im Internet und auf Social-Media-Plattformen Heerscharen von Personen mit IS-Sympathien tummelten. Auch mithilfe von Algorithmen sei es angesichts dieser ungeheuren Datenmenge unmöglich, jedes potenzielle Attentat zu erfassen. «Am hilfreichsten ist die internationale Zusammenarbeit», sagt Regli.
Dies passiert bereits. Bei der Terrorismusbekämpfung oder der Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus habe der NDB bereits in mehreren Fällen von den Ergebnissen von Partnerdiensten profitieren können, sagt eine NDB-Sprecherin. Die Partnerdienste setzten dabei auf sogenannte virtuelle Agenten. Sie dringen mit Tarnidentitäten tief in soziale Netzwerke und Chats ein.
Auch der NDB will seine Online-Präventionsaktivitäten mit virtuellen Agenten ausbauen. Ein entsprechendes Projekt läuft, um die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern. Wie weit es gediehen ist und wie viel Personal der NDB dafür einsetzt, verrät er nicht. Im Fall von Anis T. hätte der NDB ohnehin gar keine Tarnidentität benötigt. Öffentliche und allgemein zugängliche Orte darf er beobachten – dazu gehört auch Instagram.
Mit dem Attentat von Zürich wird sich an einer ihrer nächsten Sitzungen auch die Geschäftsprüfungsdelegation (GPdel) des Parlaments befassen. Die GPdel wolle unter anderem von der NDB-Führung wissen, ob es Löcher im Abwehrdispositiv gebe und wie sie gestopft werden könnten, sagt GPdel-Präsident und Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (Mitte/SO).
Der NDB sorgte in letzter Zeit wiederholt für Negativschlagzeilen. Im Zuge einer Umstrukturierung wächst die Unzufriedenheit, es kommt zu vielen Abgängen. Die «NZZ am Sonntag» berichtete über ein internes Dokument, in dem NDB-Chef Christian Dussey zu Ergebnissen einer Mitarbeitenden-Umfrage sagt: «Die Ergebnisse bereiten mir Sorge.» Auch diese Probleme wird die GPdel unter die Lupe nehmen.
Klappt ja nicht mal mit einem Monitoring für einschlägig bekannte Codewörter.
Aber vermutlich schreien manche wieder nach mehr Überwachung - und glauben sogar an deren Nutzen.
Nützt höchstens dem, der es irgendwann missbraucht.
Hätte man schon damals wissen können/müssen (siehe Kurzvideo).
Die komplette Netzüberwachung ist staatspolitisch extrem heikel und bringt sehr wenig bis gar nichts.
q.e.d.