Schweiz
Interview

Attentat in Zürich: Experte im Interview zu Dschihad-Radikalisierung

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Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen nach lebensgefährlichem Angriff auf Juden: Polizisten bewachen am 4. März eine Synagoge in Zürich.Bild: keystone
Interview

«Es gibt in der Schweiz weitere Personen, die zu einer solchen Tat fähig sind»

Ein 15-Jähriger versucht in Zürich, einen Juden mit einem Messer zu töten. Im Interview erklärt Johannes Saal, der an der Uni Luzern über die Radikalisierung von Dschihadisten forscht, wie es zum Angriff kam und welche Faktoren eine solche Tat begünstigen.
07.03.2024, 10:0507.03.2024, 10:45
Christoph Bernet / ch media

Ein 15-Jähriger hat am Samstag in Zürich versucht, einen orthodoxen Juden mit Messerstichen zu töten. Wie kann so etwas geschehen?
Johannes Saal:
Ich hoffe, die Untersuchungen werden die Umstände dieses Falls genauer beleuchten. Generell kann man sagen: Diese Tat hat vor dem Hintergrund zweier Entwicklungen stattgefunden. Es ist einerseits eine weitere – die unterdessen dritte – vom «Islamischen Staat» (IS) inspirierte Gewalttat auf Schweizer Boden, nach dem tödlichen Messerangriff in Morges VD vom September 2020 und dem Messerangriff auf zwei Frauen im Warenhaus Manor in Lugano vom November 2020.​

Und welches ist die zweite Entwicklung im Hintergrund?
Das ist der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 und die dadurch ausgelösten kriegerischen Handlungen rund um den Gazastreifen. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird in der Erzählart von dschihadistischen Gruppen zum Konflikt zwischen Juden und Muslimen. Dies hat, wie schon bei früheren Konflikten im Nahen Osten, das Potenzial, auch in Europa terroristische Gewalttaten zu inspirieren.​

Welche Rolle spielt der Antisemitismus?
Wie überall in Europa haben auch in der Schweiz die antisemitischen Vorfälle seit dem Hamas-Angriff stark zugenommen. Diese haben sich jedoch zum grössten Teil in Form von verbaler Gewalt, Online-Kommentaren oder am Rande von Demonstrationen manifestiert. Physische Gewalt gegen Juden war in der Schweiz bislang äusserst selten. Dass versucht wird, einen jüdischen Mann zu töten, nur weil er Jude ist, bedeutet eine neue Eskalationsstufe.​

Zur Person

Johannes Saal
Dr. Johannes Saal ist Religionssoziologe und Politikwissenschafter an der Universität Luzern. Sein Forschungsschwerpunkt sind Radikalisierungsprozesse und Netzwerke von Dschihadisten im deutschsprachigen Raum.Bild: Universität Luzern

Handelt es sich um einen Einzelfall?
Ich finde das Wort Einzelfall in einem solchen Zusammenhang schwierig. Wie erwähnt gibt es einerseits eine Kontinuität zu den ebenfalls vom IS inspirierten Angriffen von Morges und Lugano. Und anderseits: Zwar hat der Angreifer von Zürich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht koordiniert und als Teil einer gemeinsam agierenden Gruppe von Terroristen gehandelt, wie etwa die Attentäter beim Bataclan-Anschlag in Paris vom November 2015. Doch ist er dem Modus Operandi gefolgt, welchen der IS seit vielen Jahren propagiert: Attentate, die mit wenig Vorbereitung und einfach verfügbaren Mitteln wie Messern auskommen.​

Muss also in der Schweiz mit weiteren Anschlägen dieser Art gerechnet werden?
Es ist die dritte Tat dieser Art hierzulande. Ich habe schon vorher nicht ausgeschlossen, dass es in der Schweiz zu weiteren Angriffen dieser Art kommt, und schliesse es auch jetzt nicht aus. Es kann Nachahmungstäter geben, es kann von diesem Fall unabhängige neue Fälle geben. Klar ist: Es gibt in der Schweiz ein Potenzial von Personen, die radikalisiert werden und zu einer solchen Tat fähig sein könnten.​

Was sind das für Personen?
Aus der Forschung und dem Studium von Untersuchungsunterlagen lässt sich nicht ein einziges Profil herausschälen. Aber es gibt eine Reihe von Faktoren, die eine Radikalisierung begünstigen könnten.

Welche Faktoren sind das?
Einerseits das Alter: Häufig radikalisieren sich junge oder adoleszente Personen zwischen 13 und 20 Jahren. Oft sind es Menschen, denen es schwerfällt, sich sozial zu integrieren, in Schule oder Vereinen Anschluss zu finden. Hinzu kommt häufig eine schwierige Identitätssuche. Gemäss den ersten Aussagen aus dem schulischen und familiären Umfeld waren diese Faktoren auch beim Angreifer von Zürich vorhanden: Es handelt sich um einen jungen Muslim mit Migrationshintergrund, der als Einzelgänger aufgefallen war.​

der Attentäter von Zürich
Der mutmassliche Täter im Bekennervideo.Bild: pd

Wie funktioniert ein Radikalisierungsprozess konkret?
Aus der Forschung weiss man, dass Betroffene oft zunächst nach Gleichgesinnten suchen, die ihr Weltbild und ihre Interessen teilen. Sie sind also durchaus autonom handelnde Subjekte und nicht einfach nur Opfer von Gehirnwäsche. Ob der Angreifer von Zürich physisch mit der hiesigen Islamisten-Szene Kontakt hatte oder über das Internet Anschluss fand, wissen wir momentan nicht. Generell verläuft der Entscheid, selber zum Attentäter zu werden, sehr individuell. Oft gelingt es auch den Ermittlern nicht, dies restlos aufzuklären.

Der Attentäter bezog sich in seinem Bekennervideo auf den Anführer des «Islamischen Staats». Wie ist dieser Kontakt zustande gekommen?
Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Tatsache ist, dass sein Bekennervideo sehr rasch und sehr breit über Kanäle verbreitet worden ist, die dem IS nahestehen. Das ist in meinen Augen ein starkes Indiz dafür, dass er in direktem Austausch mit Exponenten des Islamischen Staats gestanden ist.​

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31 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Schlaf
07.03.2024 10:44registriert Oktober 2019
Sind doch alles Einzelfälle, gibt ja immer noch Solche Kommentatoren hier, die keinen Handlungsbedarf sehen und die Täter zum Opfer machen.

Ich frage mich, was da schief gelaufen sein muss.
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Rockhound
07.03.2024 10:27registriert September 2023
Ich bin überzeugt, es gibt sogar ziemlich viele Personen, die zu so einer Tat fähig sind - es aber dann trotzdem nicht tun.
Und es gibt einige, die es tun.
Muss man jetzt deswegen wirklich alle überprüfen und überwachen?
Seit 911 ist der 'Kampf gegen Terrorismus' zu einem Schlagwort geworden. Der Terrorismus hat aber nicht abgenommen, eher das Gegenteil.
Anstatt zu kämpfen, sollte man vielleicht nachdenken und reden.
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