Digital
Leben

«Es ist alles eine Frage der Organisation» – so geht Leben ohne Handy

Ist ein Leben ohne Smartphone überhaupt noch möglich?
Ist ein Leben ohne Smartphone überhaupt noch möglich?Bild: Midjourney
Interview

«In 40 Jahren ohne Handy war ich nur zweimal froh, dass zumindest meine Frau eines hat»

Die Zürcher Piratenpartei fordert ein Recht auf ein Leben ohne Handy. Ist das überhaupt noch möglich? Der handylose Jürg Stüssi-Lauterburg gibt Auskunft über sein Offline-Leben.
25.08.2024, 14:1525.08.2024, 15:05
Mehr «Digital»

Herr Stüssi-Lauterburg, Sie sind 70 Jahre alt. Seit wann leben Sie ohne Handy?
Jürg Stüssi-Lauterburg: Ich hatte noch nie ein Mobiltelefon.

Wirklich noch nie?
Nein.

Wieso nicht?
Das ist eine merkwürdige Frage. Als ob man sich rechtfertigen müsste, etwas nicht zu kaufen oder nicht zu haben. Was 90 Prozent der Bevölkerung hat, muss ich doch nicht auch haben, nur weil es modern ist. Ausser ich empfinde es wirklich für nötig, aber bis jetzt war es noch nie ein Lebensbedürfnis von mir, ein Handy zu haben.

Haben Sie nie darüber nachgedacht, sich eines zuzulegen?
Ich habe es mir einmal ernsthaft überlegt, als Adolf Ogi Bundespräsident war. Ich war ja einer seiner Mitarbeiter und ich war mir nicht sicher, ob es in diesem wichtigen Jahr ohne gehen wird. Aber es ging ohne. Adolf Ogi wusste, wie meine Einstellung dazu war, und er hat das respektiert.

«Ich habe es mir einmal ernsthaft überlegt, als Adolf Ogi Bundespräsident war.»
Jürg Stüssi-Lauterburg
Jürg Stüssi-Lauterburg lebt ohne Handy.
Jürg Stüssi-Lauterburg lebt ohne Handy.Bild: Hans-Peter Widmer

Aber in Ihrem Alltag kommt es sicher immer wieder zu Schwierigkeiten so ganz ohne Handy.
Nein, das ist ein Irrtum. In mehr als 40 Jahren gab es nur zwei Situationen, in denen ich wirklich froh war, dass zumindest meine Frau ein Handy hat.

Was waren das für Situationen?
Einmal handelte es sich um einen ernsthaften Unfall und das andere Mal ist die ägyptische Revolution ausgebrochen. Wir waren zufällig in Ägypten und ich musste vor Ort in Kairo einen Freund erreichen. Vor allem beim Unfall war das Handy extrem wertvoll. Ich bin durchaus dankbar für diese Möglichkeiten, die früher nicht existiert haben und die heute Leben retten können. Ich bin auch kein technikfeindlicher Mensch. Es sind einfach unterschiedliche Arten zu leben – mit und ohne Handy.

Aber brauchen Sie in gewissen Alltagssituationen nicht zwingend ein Handy? Beispielsweise beim E-Banking?
Nein. Ich habe kein E-Banking.

Zur Person
Jürg Stüssi-Lauterburg ist 70 Jahre alt. Er war 32 Jahre lang Leiter der Eidgenössischen Militärbibliothek und Stabsmitarbeiter des Vorstehers des Verteidigungsdepartements. Er hat mit den Alt-Bundesräten Adolf Ogi, Samuel Schmid und Ueli Maurer zusammengearbeitet. Auch selbst war er politisch aktiv. 10 Jahre sass er für die SVP im Grossen Rat des Kantons Aargau. Der Historiker ist pensioniert, recherchiert und schreibt aber weiterhin Texte und Bücher. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Oder wenn Sie einen Weg nachschauen müssen?
Ich habe Landkarten und einen PC. Gestern habe ich zum Beispiel eine Wanderung rekognosziert, die ich bald mit einer Gruppe durchführe. Dafür bereite ich mich vor. Ich schaue den Weg im Internet nach und drucke ihn aus. Den Ausdruck habe ich dann zusammen mit der Landkarte dabei.

Und wie lösen Sie ein Zug- oder Busbillett?
Ich habe ein GA. Aber ich sehe durchaus, dass das für Menschen ohne Handy, die jeweils einzelne Billetts lösen müssen, mit Schwierigkeiten verbunden ist.

Dauert alles nicht viel länger ohne ein Handy?
Nein, das glaube ich nicht. Es ist alles eine Frage der Organisation.

«Es sind einfach unterschiedliche Arten zu leben – mit und ohne Handy.»
Jürg Stüssi-Lauterburg
Zürcher Piratenpartei reicht in Zürich Unterschriften ein für ihre Initiative auf ein Grundrecht für digitale Unversehrtheit.
Kantonale Volksinitiative für «digitale Integrität»
Die Digitalisierung schreitet voran, ein Leben ohne Smartphone ist kaum mehr möglich. Eine kantonale Initiative der Zürcher Piratenpartei fordert jetzt ein Recht auf ein Leben ohne Handy. Der Kontakt mit Behörden, Post oder Bank soll weiterhin analog möglich sein. Im Kanton Genf wurde die gleiche Initiative mit 94 Prozent Ja-Stimmen angenommen.

Vorher haben Sie gesagt, dass Ihre Frau ein Handy hat. Lagern Sie Handy-Abklärungen an Ihre Frau aus?
Fragt seine Frau: «Barbara, gebe ich dir jeweils Aufträge zum Googeln oder Ähnliches?» Sie verneint. Ich bin auch viel ohne meine Frau unterwegs, daher ist das gar nicht immer möglich.

Mussten Sie in der Not schon einmal ein fremdes Handy benutzen?
Ja, einmal, da bin ich im Zug eingeschlafen.

Was sind positive Effekte, wenn man ohne Handy lebt?
Ich bin mir über die Bedeutung meines Wortes sehr bewusst. Wenn ich einen Termin abmache, dann halte ich ihn ein. Wenn ich sage, ich bin zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort, setze ich dementsprechend Energie ein, dass ich dann auch wirklich dort bin. Man verlässt sich auf mich, weil ich nicht einfach kurz telefonieren kann, wenn ich den Zug verpasst habe. Ich bin dann dort. Das hilft mir und auch den anderen.

Wie machen Sie ein Treffen ab?
Ich kann da sehr penibel werden. Ich mache ganz klare Treffpunkte ab, mit einer genauen Zeit an einem genauen Ort. Die Leute kennen mich und sind pünktlich. Es kommt eigentlich nie vor, dass ich versetzt werde.

Gibt es noch etwas Positives ausser der gegenseitigen Verlässlichkeit?
Wenn ich einen Tag im Archiv arbeite, dann arbeite ich einen Tag im Archiv und dann mache ich sonst nichts. Man hat immer den Eindruck, man verpasst etwas. Man verpasst aber eigentlich gar nichts.

Was stört Sie denn am Handy?
Ich habe nicht viele Geheimnisse, aber ich lege auch keinen Wert darauf, dass andere jederzeit wissen, wo ich bin und was ich mache. Man sollte sich keine Illusionen machen, wer ein Handy hat, ist jederzeit ortbar.

«Wenn mich jemand will, dann sucht er mich, bis er mich findet.»
Jürg Stüssi-Lauterburg

Hat das Handy Ihrer Meinung nach einen negativen Einfluss auf die Gesellschaft?
Nein, das denke ich nicht. Wenn es zur Sucht wird, muss man aber aufpassen. Eine Sucht bringt einen Menschen aus dem Gleichgewicht. Wenn eine junge Frau sich nicht vom Handy lösen kann, den Rand des Trottoirs darum nicht sieht und dann – wie ich es schon selbst gesehen habe – flach auf der Strasse liegt, ist das natürlich suboptimal und auch gefährlich. Die Risiken sollte man aber auch nicht überschätzen.

Die meisten Menschen sind heute in WhatsApp-Chats organisiert. Einladungen werden darin verschickt und Fotos geteilt. Fühlen Sie sich denn nicht manchmal ausgeschlossen?
Nein. Ich wurde bei Einladungen auch schon mal vergessen, aber das ist nicht so tragisch. Wenn mich jemand will, dann sucht er mich, bis er mich findet. Und er wird mich finden. So wie Sie mich gefunden haben. Und wenn mir meine Frau ein Foto der Partnerin unseres Sohnes im Liegestuhl mit der Katze auf dem Schoss zeigt, dann finde ich das schön und lustig. Aber das reicht mir dann auch.

Haben Sie denn noch nie soziale Nachteile erlebt ohne Handy?
Das habe ich bis jetzt wirklich noch nicht. Die Leute finden es teilweise etwas komisch, aber mit dem muss man leben, wenn man eigenwillige Sachen macht.

In welchen Bereichen sind Sie sonst noch eigenwillig?
Ich habe zum Beispiel auch keine Kreditkarte und bezahle alles bar. Das geht eigentlich auch immer ohne Probleme. Die Leute wollen ja grundsätzlich, dass man etwas kauft.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
130 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Schantal-Schaklin
25.08.2024 14:43registriert Juni 2020
Für mich wäre das nicht vorstellbar. Es wäre mir zu umständlich und ich könnte auch beruflich nicht aufs Handy verzichten. Ich finde es aber schön, dass er das Handy nicht grundsätzlich verteufelt oder alles schlechtredet. Es ist seine Entscheidung und das ist doch okay so.
1034
Melden
Zum Kommentar
avatar
John H.
25.08.2024 16:30registriert April 2019
Das ist ja 'mal eine entspannte Haltung, welche ich sehr gut finde, obwohl ich das so nicht kann.
612
Melden
Zum Kommentar
avatar
Spawn
25.08.2024 15:05registriert Januar 2024
Habe grossen Respekt vor Menschen, die in der heutigen Zeit, die ohne Handy leben können. Vor allem das gegen den Trend sein, imponiert mir persönlich sehr.
Mein Leben ist halt auf Erreichbarkeit ausgerichtet, sei es Familiär oder auch Beruflich( was mir nicht so gefällt)

Schön das es noch Leute gibt die anders ticken!
439
Melden
Zum Kommentar
130
    So kannst du die Schweizer E-ID ab sofort (ein bisschen) ausprobieren
    Der Bund hat am Mittwoch den Start einer öffentlichen Testphase («Public Beta») angekündigt. Bis zur offiziellen Einführung des digitalen Personalausweises wird es noch etwas dauern.

    Ab sofort können Interessierte testen, wie die Schweizer E-ID und andere elektronische Nachweise künftig im Alltag eingesetzt werden können. Dies teilte das Bundesamt für Justiz am Mittwoch mit.

    Zur Story