Was war ich blauäugig, um nicht zu sagen verblendet.
Twitter sei «die menschenfreundlichste Social-Media-Plattform», schrieb ich Ende 2020 und empfahl den watson-Usern, zu twittern statt Facebook und Co. zu nutzen.
#AgedLikedMilk 🙈
Und damit zurück in die Gegenwart.
Die gute Nachricht: Während Elon Musk dabei ist, Twitter in die ultimative Hass- und Polarisierungsmaschine zu verwandeln, gibt es neue Hoffnung. Besser noch: Wir haben eine europäische Alternative zu all den grossen US-Plattformen, die narzisstischen Milliardären gehören.
Im Internet findet gerade ein faszinierendes soziales Experiment statt. Du kannst dabei sein und nebenbei den schlimmsten Datenkraken ein Schnippchen schlagen.
Hier sind 17 Gründe, die für Mastodon sprechen ...
... ob sie Musk, Zuckerberg oder sonst wie heissen.
Bei Mastodon stehen normale Menschen mit ihren Bedürfnissen im Zentrum. Freie Menschen, wohlgemerkt!
Es ist ein soziales Netzwerk, funktioniert aber völlig anders als Facebook, Twitter und Co. Dahinter steckt kein einzelnes privates Unternehmen, das alle Daten in eigenen Rechenzentren zusammenzieht. Mastodon basiert auf einer Vielzahl von unabhängigen Servern (Instanzen), die sich über ein gemeinsames Protokoll («ActivityPub») austauschen.
Die Software dazu stammt von einem idealistischen und bescheiden wirkenden Nerd aus Deutschland (mit russischen Wurzeln). Mit Gleichgesinnten hat sich Eugen Rochko in einer gemeinnützigen Gesellschaft (gGmbH) zusammengetan. Gemeinsam entwickeln sie das Open-Source-Projekt weiter und verbessern es mit der tatkräftigen Unterstützung einer stetig wachsenden (und weltweiten) Community.
Niemand muss Angst vor einem Ueli-Maurer-Moment haben. Denn die Mastodon-Community ist trotz des seit Wochen anhaltenden Ansturms (auch Twexit genannt) hilfsbereit.
Gut zu wissen: Namensgeber ist das Urzeit-Rüsseltier und nicht – wie auch zu hören – die amerikanische Metal-Band. Falls du dich für die Grössenunterschiede zwischen Mammut und Mastodon interessierst, wirst du bei BCC fündig.
Wer sich mit #neuhier vorstellt und nett um Rat fragt, kann wohlwollendes Feedback und Hilfe erwarten.
Es gibt grosse Parallelen, und doch ist Mastodon grundlegend anders. Statt einer zentralisierten Plattform, kontrolliert von einem gewinnorientierten Konzern, gibt es ein dezentrales Netzwerk von Community-Servern. Diese werden von Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen betrieben.
Und vor allem: Es gibt keinen Empfehlungs-Algorithmus!
Der Ehrlichkeit halber ist an dieser Stelle anzufügen, dass im Umkehrschluss selbst den besten Postings droht, dass sie nach der Veröffentlichung (dem Tröten/Tooting) unbemerkt in der Versenkung (der Timeline) verschwinden.
Es sei denn, man verwendet die richtigen Hashtags – denn diese werden über die stark eingeschränkte Suchfunktion angezeigt – und/oder man erwähnt in einem eigenen Posting (Toot) andere Mastodon-User, die es dann mit einem «Reboost» weiterverbreiten können.
Hier sind verschiedene Social-Media-Bedürfnisse zu unterscheiden: Es gibt Leute, die suchen eine möglichst grosse Reichweite (so wie man es von Twitter kennt), aber es gibt auch viele Nutzerinnen und Nutzer, denen es in einer Nische wohl ist, wo sie sich ungestört mit Anderen austauschen können.
Werbeanzeigen existieren hier nicht. Zudem dürfen auch die persönlichen Daten nicht verkauft werden.
Natürlich sollte sich deswegen niemand in falscher Sicherheit wiegen. Innerhalb der Föderation (das sind alle miteinander verbundenen Server, bzw. Dienste, wäre es durchaus möglich, dass ein «Bad Actor» heimlich Daten erfasst.
Man sollte sich jederzeit bewusst sein, dass man sich in einem quasi-öffentlichen virtuellen Raum bewegt.
Web-Tracker sind in Webseiten integrierte Miniprogramme, die diverse Informationen über das Verhalten der User sammeln, damit es anonym ausgewertet werden kann.
Mastodon ist frei von Trackern.
Und der finanzielle Haken?
Der betrifft in erster Linie die Server-Betreiber. Sie werden ein Opfer des Erfolges, den Mastodon hat. Wenn ein Server (eine «Instanz») sehr viel User-Zulauf erhält, wachsen auch die Infrastrukturkosten. Mehr User bedeutet mehr Netzwerkbelastung und dies erfordert auch mehr Server-Speicherplatz. Und damit sind wir bei der Finanzierungsfrage.
Bis anhin werden die Kosten in der Regel durch Crowdfunding und Spenden getragen, es gibt aber auch bereits kommerzielle Anbieter: Man bezahlt ein paar Franken pro Monat an eine Instanz und die entsprechenden Server-Betreiber gewährleisten dafür einen reibungslosen Betrieb und stellen die wichtige Moderation (illegale Inhalte löschen, Sperren bei Regelverstössen etc.), sicher. Denn auch da steigt der personelle und zeitliche Aufwand mit immer mehr Usern massiv an.
Dies erklärt, warum einige Server-Betreiber ihre Mastodon-Instanzen lieber überschaubar halten. Ab einer gewissen User-Zahl schliessen sie die Regierungsmöglichkeit. Dann gehen die neuen Interessenten zu einer anderen Instanz.
Die Standard-Länge eines Postings (Toot/Tröt) beträgt 500 Zeichen (also deutlich mehr als bei Twitter, wo eine Nachricht bis zu 280 Zeichen umfassen darf). Auch dadurch wird bei Mastodon eine angenehme Gesprächskultur gefördert, da besser auf die anderen Nutzerinnen und Nutzer eingegangen und Missverständnissen vorgebeugt werden kann.
Mastodon hat keine Zitier-Funktion. Im Gegensatz zu Twitter, wo man mit einem «Quote Tweet» (QT) auf die Schnelle jemanden angreifen und blossstellen kann. Solche «Dunks» sind in der Mastodon-Community verpönt und man überlässt das aggressive Gebaren gerne der «Vogel-Seite».
Mit «deföderiert» ist gemeint, dass die Verbindung zu einem anderen Mastodon-Server gekappt wird. Das kommt relativ selten vor, etwa dann, wenn von dieser «Instanz» eine nicht tolerierbare Menge an Hass-Postings ausgeht.
Wer sich nicht an die relativ strengen Community-Regeln hält, kann gemeldet werden, wird daraufhin verwarnt und bei wiederholten oder schweren Verstössen verbannt.
Zwar existieren auch sogenannte «Free-Speech»-Server, auf denen sich Neonazis und Faschismus-Befürworter herumtreiben. Diese werden aber von allen föderierten Instanzen (bzw. den Server-Betreibern) konsequent blockiert.
Im Gegensatz zu Instagram, Twitter und Co. wird dir bei Mastodon nichts vorgekaut (wie wir oben gesehen haben).
Wenn du jemandem folgst, werden dessen Tröts (Toots) in chronologischer Reihenfolge in deinen Newsstream gespült, das Neuste zuoberst. Wenn du sehr vielen Leuten folgst, empfiehlt es sich (persönliche) Listen anzulegen.
Damit es möglichst viel Spannendes und Anregendes zu lesen, sehen oder zu hören gibt, ist Eigeninitiative gefragt. Das fängt bei der Wahl der zu den eigenen Interessen und Vorlieben passenden Instanz (Server) an und geht beim Suchen nach den passenden Online-Kontakten weiter.
Mag kompliziert klingen, ist aber relativ einfach. Ich verlinke dazu in den Quellen auf eine verständliche Anleitung.
PS: Für die meisten Mastodon-Einsteigerinnen und -Einsteiger sollte es nicht das Ziel sein, möglichst schnell möglichst vielen anderen Usern zu folgen. Qualität vor Quantität!
Lars Weisbrod, Autor und Journalist, formuliert eine Hoffnung, die angesichts der von Musk verschuldeten Twitter-Apokalypse viele Menschen bei Mastodon umtreibt:
Mastodon basiert auf einem Protokoll namens ActivityPub, das allen Interessierten ermöglicht, die Open-Source-Software zu verwenden oder selber einen Server zu betreiben.
Das ist ein vom World Wide Web Consortium (W3C) verwaltetes Protokoll. Es bildet das technische Rückgrat für alle Online-Dienste, die zum Fediverse gehören.
Keine Angst! Als Nutzerin/Nutzer bekommst du davon nichts mit, sondern kannst dich einfach darauf verlassen, dass die kompatiblen Dienste funktionieren. Und genau hier «passiert die Magie», wie eine Bloggerin treffend schrieb.
Ganz wichtig! Maston ist «Work in Progress», die Server-Software, wie auch die dazu passenden Apps (es gibt bereits eine schöne Auswahl), funktionieren gut, sind aber alles andere als perfekt. Positiver Effekt des Twitter-Niedergangs: Es wandern immer mehr Cybersecurity-Expertinnen und -Experten zu Mastodon aus und widmen sich in der Folge vermehrt den dortigen Schwachstellen und Sicherheitslücken.
Rückmeldungen lassen darauf schliessen, dass es noch viel zu tun gibt. Und auch das Thema Datenschutz und die damit verbundenen gesetzlichen Vorschriften rücken immer mehr ins Zentrum. Ab einer gewissen User-Zahl gelten für Server-Betreiber in Europa strengere Regeln. Insbesondere die Frage der Moderation wird noch viel zu reden geben.
Eine der vielen Stärken von Mastodon ist die Vielsprachigkeit. Niemand muss sich aber mit unerwünschten, respektive unverständlichen Postings herumschlagen, In den Einstellungen kann man alles individuell anpassen – eine weitere Stärke.
Der Erfinder und Hauptentwickler, der deutsche Programmierer Eugen Rochko (Jahrgang 1993), brachte es gegenüber «Wired» auf den Punkt:
Sollte ein Tech-Milliardär oder jemand anders die Mastodon gGmbH und die von Rochko und Kollegen betriebenen Server (mastodon.social und mastodon.online) kaufen, würde das Fediverse nicht beeinträchtigt. Das gilt auch für alle anderen Server.
Wichtiger Tipp: Während es bei der Wahl eines E-Mail-Dienstes aus Sicherheitsgründen sinnvoll sein kann, sich für einen grossen Provider zu entscheiden, darf es bei Mastodon durchaus auch ein kleinerer Server-Betreiber sein. Und es gibt die Möglichkeit, problemlos zu einer anderen Instanz zu wechseln.
Boostern ist die Bezeichnung für die wichtigste Mastodon-Funktion, die es den Usern ermöglicht, einen Toot weiterzuverbreiten. Bei Twitter heisst das Retweeten.
Zur Erinnerung: Da Mastodon nicht auf einem Empfehlungs-Algorithmus basiert, bräuchte es schon ziemlich viele Boosts, damit sich ein Beitrag «viral» verbreitet. Der Tech-Journalist Clive Thompson attestierte dem dezentralen sozialen Netzwerk sogar ein «antivirales Design». Es sei speziell entwickelt worden, um eine gewisse «Reibung» zu erzeugen – «um die Dinge ein wenig zu verlangsamen».
So gibt es auch keine mit Facebook und Co. vergleichbare Like-Funktion. Zwar kann man Toots mit einem Stern-Symbol «favorisieren». Doch bekommt dies nur die Person zu Gesicht, die den Beitrag ursprünglich verfasst hat.
Es finden sich immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei Mastodon ein. Sie teilen bereitwillig ihre professionellen Einschätzungen und spannende Forschungsergebnisse, wie man es auch schon von Twitter kennt.
Bei Github findest du Links zu mehr als 40 kuratierten Listen mit Akademikerinnen und Akademikern, die auf Mastodon sind, geordnet nach Themenbereichen.
Was ist mit Prominenten? Ja, auch die gibt es in wachsender Zahl. Allerdings greifen einige Leute mit grosser Twitter-Followerzahl zum (bei treuen Mastodon-Usern verpönten) Mittel des «Crossposting». Das heisst, sie übertragen ihre Tweets automatisiert in die freie Social-Media-Welt.
So, ich muss langsam zu einem Ende kommen, dabei gäbe es noch so viele positive Punkte, wie etwa die eingebaute Notbremse, die verhindern kann, dass einzelne Server völlig überlasten und aus dem Ruder laufen. Nun denn, das spannendste Argument habe ich für den Schluss gespart ...
Mastodon gibt es seit 2016. Doch nun erlebt das freie soziale Netzwerk einen unglaublichen Zustrom an neuen Nutzerinnen und Nutzern. Mittlerweile sind es über 7,5 Millionen. Fachleute fragen sich bereits, ob damit die kritische Masse überschritten und der Siegeszug nicht mehr zu stoppen ist.
Eine Userin* bringt es auf den Punkt:
Und weil man bei Mastodon täglich mit vielen klugen Köpfen und nachdenkenden Menschen zu tun hat, kann ich gleich noch ein mutmachendes Zitat anfügen:
Falls du dich wegen der vielen Hashtags (oben) wunderst: Die werden von gewieften Usern verwendet, um Resonanz zu erzielen. Und sie rufen Erinnerung ans gute alte WWW wach.
«Muss» man da mitmachen? Keineswegs.
Die meisten von uns hängen sowieso schon viel zu viel vor kleinen oder grösseren Bildschirmen fest.
Politikerinnen und Politiker sind neben Journalistinnen und Journalisten wahrscheinlich diejenigen gesellschaftlichen Akteure, die am stärksten an Twitter hängen – wie auch die watson-User täglich mitbekommen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Medienöffentlichkeit verschiebt. Weg von Musks Polarisierungsmaschine – hin zu Europas Alternative.
Für die private und sichere digitale Kommunikation ist Mastodon aber nicht zu empfehlen. Direktnachrichten werden unverschlüsselt übertragen, also lieber einen Messenger mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verwenden!
Und man muss wirklich kein Nerd sein, um hier heimisch zu werden und im Fediverse Spass zu haben.
Fedi was?! Mastodon ist auch deine (kostenlose) Eintrittskarte ins Fediverse. Das ist die Abkürzung für Federated Universe und meint alle freien, dezentral organisierten Dienste, die über das ActivityPub-Protokoll kommunizieren.
Ein Beispiel: PeerTube, eine ähnliche Website wie YouTube, implementiert ebenfalls ActivityPub und dadurch können Mastodon-User auch PeerTube-Usern folgen und sehen in der Folge auch deren Postings im eigenen Newsfeed.
PS: Die bekannte Blogging-Plattform Tumblr hat im November 2022 angekündigt, ActivityPub zu implementieren. Tumblr hat rund 470 Millionen User. Nimm das, Elon!
PS2: Der oberste Datenschutz-Beauftragte der Schweiz (EDÖB) erklärt gegenüber watson, es gebe für ihn «gegenwärtig keinen Anlass, von seiner ohnehin zurückhaltenden Präsenz auf Twitter abzusehen».
Wird der EDÖB einen Mastodon-Account einrichten, oder gar eine Instanz betreiben? Kurze Antwort: Nein. «Selbstverständlich» verfolge er aber «alle relevanten Entwicklungen».
Die offizielle Schweiz hat leider auch bezüglich Mastodon und Fediverse einen grossen Rückstand – da geht noch was!
PS3: Falls du nicht weisst, wie die musikalischen Namensvetter des dezentralen sozialen Netzwerks (eine US-Metalband aus Atlanta) klingen, füge ich eine Kostprobe an:
Nachdem du die Vorzüge eines dezentralen freien Online-Netzwerks im Vergleich zu proprietären Plattformen kennst, gibt es darauf nur eine richtige Antwort.
Ein Mastodon-User bringt es auf den Punkt:
Bei welcher Mastodon-Instanz hast du dich registriert, was ist deine bevorzugte Mastodon-App und welche Erfahrungen hast du sonst noch gemacht? Oder was hält dich davon ab, die freie Social-Media-Alternative auszuprobieren?
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