Bei Twitter setzt sich der Aderlass fort. Der Finanzdienst Bloomberg und der Technologie-Insiderdienst Platformer berichten, dass Elon Musk am Montag weitere Entlassungen im Verkaufsteam bekannt gab. Die Betroffenen erhielten ihre Entlassung per E-Mail: «Nach einer weiteren Überprüfung unserer Belegschaft haben wir Rollen innerhalb unserer Organisationsstruktur identifiziert, die nicht mehr notwendig sind», heisst es darin. «Heute ist Ihr letzter Arbeitstag im Unternehmen».
Wie viele Angestellte von den neusten Kündigungen betroffen sind, ist unklar. Bloomberg schreibt, dass Twitter in den vergangenen Wochen gegen 5000 seiner knapp 7500 Angestellten verloren habe, also noch rund 2700 Beschäftigte auf der Lohnliste habe.
Davor, am Sonntag, hielt Musk zwei Meetings mit dem Sales-Team ab. Auf Fragen, ob es weitere Kündigungen gebe, sei er nicht eingegangen. Die jüngsten Entlassungen wurden tags darauf kommuniziert.
Bereits am Freitag wurde Robin Wheeler, die bisherige Leiterin des Anzeigenverkaufs, entlassen. Wheeler wollte wie mehrere andere Top-Manager schon vor einer Woche den Hut nehmen, soll aber von Musk gebeten worden sein, zu bleiben. Wheeler bestätigte ihre Vertragsauflösung mit einem Abschieds-Tweet an ihr Team. Einige Mitarbeiter spekulierten, dass Wheeler nun doch gefeuert wurde, weil sie sich geweigert haben soll, weitere Namen ihres Verkaufsteams für die neue Entlassungsrunde vorzuschlagen. Mit Maggie McLean Suniewick und Sarah Rosen verliessen am Freitag zwei weitere hochrangige Managerinnen das Unternehmen.
Took me a few days to come to terms with saying goodbye to 8.5 years at twitter. My time here was the absolute privilege of my career & I’m forever grateful to my world class colleagues and partners that made it all possible. Hot damn we had it good at Twitter 1.0 🫡💙
— Sarah Rosen (@sarahrosen) November 20, 2022
Ebenfalls am Montag informierte Musk die Belegschaft während einer Mitarbeiterversammlung, dass er mit den Entlassungen durch sei und ab sofort in den Bereichen Softwareentwicklung und Anzeigengeschäft neue Angestellte rekrutiert würden. «In Bezug auf kritische Einstellungen würde ich sagen, dass Leute, die gut im Programmieren sind, die höchste Priorität haben», sagte er laut US-Techblog The Verge während des Meetings. The Verge berichtete bereits letzte Woche, dass Personalvermittler Softwareingenieure ansprächen und sie bäten, bei «Twitter 2.0 – an Elon Company» einzusteigen.
Während Musk am Montag in der Twitter-Zentrale in San Francisco etwa eine halbe Stunde lang Fragen von Angestellten beantwortete, sagte er, dass es «keine Pläne» gebe, den Twitter-Hauptsitz nach Texas zu verlegen, wie er es bei Tesla getan habe. Es könne aber Sinn ergeben, einen «Doppel-Hauptsitz» in Kalifornien und Texas zu haben. Den Hauptsitz nach Texas zu verlegen, würde den Eindruck erwecken, «dass Twitter vom linken zum rechten Flügel gewandert ist, was nicht der Fall ist», sagte Musk. «Es handelt sich nicht um eine Übernahme von Twitter durch die Rechte. Es ist eine Übernahme von Twitter durch den gemässigten Flügel».
Musk bezeichnet sich selbst als libertär, der Staat oder Gewerkschaften sind ihm ein Gräuel. Selbst verordnet er sich in der politischen Mitte. Dass ihn die äusserste Rechte als Held der freien Meinungsäusserung feiert, kontrastiert dabei mit seinem Selbstbild respektive dem Bild von sich, das er zu vermitteln versucht.
Weiter sagte Musk: «Wenn wir der digitale Marktplatz der Meinungsäusserung sein wollen, müssen wir Menschen mit einem breiten Spektrum von Ansichten vertreten, auch wenn wir mit diesen Ansichten nicht einverstanden sind.» (Auf die gefeuerten Mitarbeiter, die ihn in firmeninternen Chats oder öffentlich auf Twitter kritisiert hatten, ging er nicht ein.)
Musk vertritt eine ähnliche Auffassung von Meinungsfreiheit, wie sie Facebook-Chef Mark Zuckerberg lange vertrat. Was nicht explizit gesetzlich verboten ist, soll geduldet werden. Tech-Konzerne geben so die Verantwortung ab und sparen Kosten, da sie weniger Inhalte-Moderation benötigen.
Kritiker werfen Musk deshalb vor, das soziale Netzwerk ohne ausreichende Moderation in einen Nährboden für Hass und Radikalisierung zu verwandeln. Dieser Vorwurf erhielt Nahrung, da Musk als eine seiner ersten Handlungen bei Twitter rund 5000 Leiharbeiter, die primär als Inhalte-Moderatoren tätig waren, fristlos entlassen hat.
In den letzten Tagen entsperrte Twitter diverse Twitter-Profile von rechten Influencern und Musk interagierte mit ihnen.
if only there were numerous studies clearly showing that most of the worst behavior and misinformation on social media comes from the right wing, directly accounting for their constant run ins with content moderators pic.twitter.com/CVW6V5Q86c
— Karl Bode (@KarlBode) November 22, 2022
An einem weiteren Punkt des Mitarbeitermeetings sprach Musk davon, dass Twitter dezentraler werden solle. Konkret sprach er von möglichen Entwicklungsteams in Japan, Indien, Indonesien und Brasilien, da Twitter in diesen Ländern stark genutzt werde. Das Ziel sei aber, dass Twitter künftig überall stark genutzt werde.
Auf die Frage nach der Vergütung der Mitarbeiter bekräftigte Musk, dass die Angestellten Aktienoptionen erhalten sollen. Der neue Twitter-Chef will die verbliebenen Angestellten mit der Aussicht auf Aktien zu Höchstleistungen antreiben. Vor einer Woche schrieb er, dass «aussergewöhnliche Mengen an Aktien für aussergewöhnliche Leistungen zugeteilt werden».
Nach einer ersten Entlassungswelle Anfang November stellte Musk die verbliebenen Angestellten vergangene Woche vor die Wahl, sich zu Überstunden zu verpflichten oder das Unternehmen zu verlassen. In einer E-Mail warnte er, dass es «extrem hardcore» werde, seine Vision eines «Twitter 2.0» umzusetzen. Mehrere Hundert Angestellte haben darauf gekündigt.
Diese Massenkündigungen waren eingeplant und von Anfang an Teil seines Plans, die Unternehmenskultur möglichst rasch umzukrempeln, glauben ehemalige Twitter-Angestellte. Die «Hardcore»-E-Mail und Musks öffentliche Häme für die Entlassenen dürften den Exodus zusätzlich beschleunigt haben.
Allerdings scheinen mehr und insbesondere mehr Top-Leute ihren Job niedergelegt zu haben, als von Musk und seinem Team antizipiert wurde. Laut mehreren US-Medien, die von Twitter-Angestellten mit Informationen versorgt werden, sind viele Teams ausgedünnt oder bestehen teils nur noch aus einer Person.
Musk schaltete danach in den Krisenmodus. Das kurz zuvor erlassene Homeofficeverbot wurde laut dem Technologie-Insiderdienst Platformer aufgeweicht. Einige besonders wichtige Angestellte sollen mit einer massiven Gehaltserhöhung zum Bleiben motiviert worden sein. Zudem brachte Musk rund 100 Angestellte seiner anderen Unternehmen zu Twitter, um die Lücken zu füllen.
Gekündigte Angestellte von Twitter wehren sich derweil gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber. «In den USA wurde eine Sammelklage eingereicht, in Deutschland organisieren sich einige Angestellte über die Gewerkschaft Verdi», schreibt das Techportal golem.de.
(oli)