Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Island kann Fussball-Europameister werden. Es braucht nur Frankreich und anschliessend Deutschland oder Italien zu schlagen, dann steht die Überraschungsmannschaft bereits im Final. Portugal oder Belgien dürften dann auch kein Problem mehr sein.
Sollte es hingegen nicht reichen, dann sind die Nordländer auf jeden Fall Sieger der Herzen, wie man so schön sagt. Warum das nicht nur am Fussball liegt, haben wir bereits erörtert (93 Gründe ausser Fussball, warum man Island einfach lieben muss). Warum das ganze Islandgetue nervt, ebenfalls (0 Gründe, Island an der EM zu unterstützen).
Fakt ist: Island mag die Überraschungsmannschaft des Turniers sein, die Gründe hierfür sind überhaupt nicht überraschend, sondern folgen einem bekannten Schema. Sympathieträger kann eine Mannschaft aufgrund unterschiedlicher Faktoren werden:
Teams wie Island machen Turniere unterhaltsam, denn würden die Favoriten immer gewinnen, wäre das sehr langweilig. Der Underdog-Faktor ist umso höher, je mehr Grosse er schlägt oder in der Ko-Runde sogar aus dem Turnier haut. Islands 1:1 gegen Portugal in der Gruppenphase war fast wie ein Sieg. Das 2:1 gegen England im Achtelfinal ein Erdbeben.
Es hilft zudem, wenn nicht nur die Fussball-Mannschaft, sondern gleich das ganze Land ein bisschen Underdog ist. So wie das winzige Island eben. Oder Kamerun 1990 (dazu später mehr). Das hochentwickelte Südkorea hingegen schaffte es an der WM 2002 sogar bis ins Halbfinal. Trotzdem blieb die K-Hysterie aus.
Auch Favoriten können Gewinner der Herzen sein, aber dafür muss etwas Ausserordentliches passieren. Meine Generation wuchs mit dem blöden Spruch auf: «Wir Schweizer sind neutral, es ist uns egal, wer Deutschland schlägt». Spätestens seit der WM 2006 ist das nicht mehr cool. Deutschland spielte während des «Sommermärchens» nicht nur ziemlich ansehnlichen Fussball, sondern organisierte auch eine verdammt gute WM. Das Ausscheiden gegen Italien im Halbfinal wurde deshalb auch hierzulande mit einigem Bedauern zur Kenntnis genommen.
Stars gibt es viele. Einige von ihnen sind so gut, dass sie grosse Teile der Fussballwelt zu Fans ihrer Mannschaft machen. Frage: Wer kennt einen Spieler aus dem argentinischen Team, das 1986 die WM in Mexiko gewann – ausser Diego Armando Maradona? Eben. Mir fällt noch Pumpido ein, weil es lustig klingt.
Argentinien gewann auch die Heim-WM 1978 und erreichte 1930, 1990 und 2014 den Final. Doch in der Wahrnehmung zählt allein 1986, als Maradona das Turnier seines Lebens spielte. Seine beiden Tore im Viertelfinal gegen England, eins mit der Hand, das andere nach einem Monster-Dribbling, gehören zum kulturellen Erbe des Weltfussballs. Selbst seine späteren persönlichen und professionellen Misserfolge haben dem Ansehen der Albiceleste nicht geschadet.
Einige Mannschaften spielen derart aussgewöhnlich, dass ein ganzes Jahrzehnt oder eine ganze Generation mit ihnen assoziiert wird. In diese Kategorie gehören Ungarn und die 1950er («Golden Team») sowie Holland und die 1970er («Totaalvoetbal»). Die Tragik, dass ihnen dennoch grosse Titel verwehrt blieben, ist möglicherweise entscheidend für den Status des Sympathieträgers. Das über mehrere Jahre absolut dominante Spanien ist wohl international respektiert und bewundert, aber Herzen fliegen ihnen ausser aus der Heimat kaum zu.
Ein Spezialfall von Punkt 4 – und doch eine Kategorie für sich: Brasilien ist praktisch Dauer-Sympathieträger. Oder war es zumindest bis zur 1:7-Demontage gegen Deutschland an der Heim-WM 2014. Klingende Namen wie Pelé, Garrincha, Zico, Sócrates, Romario und Ronaldo belegen, dass das Land über mehrere Generationen hinweg Ausnahme-Fussballer hervorbringt. Der Grund für seine Popularität dürfte indes nicht primär an diesen Spielern, sondern am brasilianischen Spiel an sich liegen, das sie verkörpern. Franz Beckenbauer hat die Seleção von 1970, welche mit Pelé die WM in Mexiko gewann, als beste Mannschaft aller Zeiten bezeichnet.
Dass Schweizer Kinder und Jugendliche 1990 plötzlich alle ein Kamerun-Shirt haben wollten, lag nicht nur am Underdog-Bonus (siehe Punkt 1, die «Löwen» besiegten den amtierenden Weltmeister Argentinien in der Vorrunde sensationell mit 1:0). Es hatte auch und vor allem mir Roger Milla zu tun. Der musste im Alter von 38 Jahren vom Staatspreäsidenten Kameruns erst zur Turnierteilnahme in Italien überredet werden. Dort erzielte er vier Tore, die er jeweils mit einem Tänzchen an der Eckfahne feierte. Milla war ein guter, aber kein überragender Spieler. Doch sein Alter – er ist der älteste WM-Torschütze aller Zeiten – und seine Torjubel-Routine machten ihn und seine Mannschaft zum Sieger der Herzen.
Den letzten (und einzigen) Titel gewann England an der Heim-WM 1966. Seither scheidet der ewige Favorit stets mehr oder weniger tragisch/blamabel aus. Trotzdem halten viele Schweizer Fans den Three Lions die Treue. Oder gerade deshalb? Man weiss es nicht. Ein Kollege auf der Redaktion verweist auf die «romantische Sicht auf den englischen Fussball» sowie den Bonus als Gründerland des Sports.
Sollte wiederholtes tragisches Ausscheiden ins Gewicht fallen, könnte auch die Schweiz bald zu den Gewinnern der Herzen werden.
An der EM 2008 in der Schweiz und Österreich wurde Holland zum Sympathieträger. Bei der Gruppenpartie gegen Frankreich im Stade de Suisse versank Bern in orange. Darunter soll es auch Fans mit holländischer Staatsangehörigkeit gehabt haben. Was die Schweizer bewegte, plötzlich für die Oranje und unablässig «Hup Holland» zu schreien, gehört zu den grossen Rätseln der jüngeren Schweizer Sportgeschichte. Möglicherweise hat es mit dem frühen Ausscheiden der eigenen und der Suche nach einer «Ersatz-Nati» zu tun.