«Ihr seid gefolgstreue Lappen, mehr seid ihr nicht!» Lisa Licentia schreit eine Gruppe Antifaschisten an. Vor ihr steht eine Reihe Polizisten. Hinter ihr lacht jemand zustimmend. Neben ihr stehen schwarz bekleidete Menschen mit hochgezogenen Kapuzen. Sie ist an einem Protest der Neuen Rechte Deutschlands und filmt. Das Video erscheint wenig später auf ihrem YouTube-Kanal.
Die 26-jährige Lisa will uns, die Leute vor den Bildschirmen, mitnehmen. An Demonstrationen, Kundgebungen, an Tagungen der AfD. «Ich will euch die Bürger zeigen, die eigentlich nur ihre Heimat beschützen wollen», erklärt sie mit zarter Stimme und rollendem R.
Das ovale, weiche, weisse Gesicht mit vollen Lippen ist nun völlig entspannt. Ganz im Gegensatz zum Moment am Protest. Ihr rostrot gefärbtes Haar fällt auf das knallgelbe Shirt mit weissrosa Blümchen. Das Ziel ihres Kanals: Ein Gegenbild zu den in ihren Augen einseitigen Medien schaffen. Das Resultat: Höchst islamophobe und fremdenfeindliche Beiträge.
Es ist Ende April 2019. Lisa eröffnet ihr YouTube-Konto. Schon das erste Video generiert viel Aufmerksamkeit und Zuspruch von rechts. Nach zwei Wochen zählt sie 12'000 Abonnenten. Ranghohe AfDler teilen ihre Videos, sie bekommt Klicks, Likes, Kommentare, Spendengelder fliessen auf ihr Paypal-Konto. In einem Monat verdient sie gar 4000 Euro. Sie erhält alles, was ein YouTuberinnen-Herz begehrt.
Lisa Licentia heisst nicht wirklich so. Ihr Künstlernachname ist lateinisch und bedeutet Freiheit, Macht oder Zügellosigkeit. Die heute 27-Jährige lebt in der Umgebung Köln. Am Anfang ihrer YouTube-Karriere gehört sie der rechtsextremen «Identitären Bewegung», kurz IB an. Nach zwei Monaten tritt sie aus. Das Problem: sexistische Sprüche der IB-Kollegen.
Frauenrechte sind Lisas Fokus. Dafür will sie kämpfen. In ihren Videos, in Live-Streams und auf Twitter schimpft und diskutiert sie über die Islamisierung Deutschlands. Sie will, dass die Grenzen geschlossen werden. «Mein Feindbild waren Flüchtlinge», sagt sie im Telefongespräch mit watson. «Wenn Deutsche Frauen sterben, wenn sie vergewaltigt werden, dann war das immer ein Flüchtling oder ein Migrant.»
«Ich lag nachts im Bett und weinte, weil ich Angst hatte, dass die Islamisierung kommt, dass meine Kinder eine Burka tragen müssen, weil sie auf der Strasse vergewaltigt werden.» Für Lisa war das die Realität. Ihre Haupt-Informationsquelle: die Facebookseite der AfD. Gleich danach die «Bild»-Zeitung. Alles andere war linksversifft.
Lisa ist in einer kompletten News-Bubble. «Ich habe mir ununterbrochen schlechte Nachrichten angesehen. Sechs bis sieben Stunden pro Tag, manchmal sogar zehn.»
Freunde hat sie keine mehr ausserhalb der Szene. Sogar ihr Vater bricht den Kontakt zu seiner Tochter ab. Er ist Türke und versteht den Aktivismus von Lisa nicht. Ganz im Gegensatz zu seiner Ex-Frau, Lisas Mutter. Sie, ihr neuer Ehemann und Lisas Stiefgeschwister sind überzeugte AfD-Anhängerinnen und Anhänger.
Der kleinste Zweifel, den Lisa über die rechtspopulistische Partei äussert, wird sofort ertränkt. Und sie hat Zweifel. Denn eigentlich wollte sie nur für Frauen einstehen. Sie wollte nicht gegen eine Religion hetzen. Das sagt sie zumindest heute. Doch dafür sitzt sie inzwischen zu tief im Fuchsbau.
Dann taucht Pro7 auf. Es ist Ende 2019. Der private Sender will eine Reportage drehen, der Titel: «Rechts. Deutsch. Radikal.» Moderator Thilo Mischke trifft Lisa, begleitet sie mit einem Kamerateam an eine AfD-Tagung im Bundestag. Es kommt zu Hasstiraden gegen den Islam. Vorhersehbar für Thilo Mischke und Team. Womit sie nicht rechnen, ist, was nach der Veranstaltung passiert: Lisa bricht vor laufender Kamera in Tränen aus. «Ich wollte die ganze Scheisse nicht. Ich bin da reingeschlittert und komme nicht wieder raus.»
Ein Geständnis voller Widersprüche. Wie konnte es passieren, dass sie erst so spät begreift, was da läuft? «Ich dachte, es sind nur ein paar einzelne Politiker schlimm und die meisten anderen, die sind ganz nett», erklärt Lisa am Telefon.
Die Kehrtwende beginnt für Lisa schon vor Pro7, wie sie erzählt. Nämlich, als ein fremder Mann aus Köln sie auf Twitter anschreibt. Er tat, wofür liberale und linke Politikerinnen und Politiker oft keine Zeit zu haben scheinen: Er trifft die aktivistische Patriotin und diskutiert mit ihr. Er hinterfragt ihre Ansichten, empfiehlt ihr Bücher und Zeitungen, klärt sie auf. «Es ist etwas anderes, wenn jemand vor dir sitzt und ins Gesicht sagt, dass das, was du beabsichtigst, eigentlich gut, aber die Umsetzung einfach scheisse ist.»
Die rechte Szene war Lisas Sprungbrett für ihre YouTube-Karriere. Was dafür von ihr eingefordert wurde, die Videos, die Posts, ihre Präsenz als rechtes Poster-Girl, realisierte Lisa erst spät. «Ich wollte nie das hübsche Gesicht der AfD sein. Sie haben es geschafft, mich zu benutzen.»
Das Telefoninterview mit Lisa ist anstrengend. Es ist schwer, ihre Person zu begreifen. In ihren vergangenen Posts huldigt sie der AfD, macht fremdenfeindliche und islamophobe Aussagen, dann gibt sie sich als Humanistin, teilt Beiträge zu «Black Lives Matter». Die Lisa am Telefon ist eine andere als die in den Videos.
Pro7 strahlt die Reportage Ende September aus. Lisas Seitenwechsel ist aber schon vorher publik. Im Juni 2020 wird ihr Twitter-Account gehackt und der Nachrichtenaustausch zwischen ihr und Pro7-Moderator Mischke erzürnt ihr Publikum. Sie erhält Morddrohungen, Pakete mit Waffen, Bücher über Antisemitismus.
Davon einschüchtern lässt sie sich nicht. Ihr Leben spielt sich nach wie vor online ab. Ihre alten Videos und Posts hat sie gelöscht. In neuen Clips kritisiert sie Rechtsextreme, die AfD, die junge Alternative – ihre früheren Sponsoren.
Dafür erntet sie momentan hauptsächlich Hass. Für die Rechten ist sie eine Verräterin. Für die Linken ist sie unglaubwürdig. Ihre Familie will keinen Kontakt mehr zu ihr, auch der Vater reagiert auf ihre Nachrichten nicht. «Er wird mir niemals verzeihen, was ich da gemacht habe.» Freunde hat sie ausserhalb des Netzes keine.
Ohne ihre drei Kinder, ihren Freund und einem Ausstiegsprogramm für Szenengängerinnen würde sie das alles nicht packen, sagt Lisa. Den Hauptteil des Ausstiegs hat sie bereits geschafft. Nun trifft sie sich im Rahmen des Programms alle drei Wochen für zwei- bis dreistündige Gespräche. Dort wurde ihr geraten, sich aus den sozialen Meiden zurückzuziehen. Doch das will sie nicht. Es sei das Ziel der Rechten, sie mit ihren Drohungen einzuschüchtern. «Den Gefallen tue ich ihnen nicht. Aber ich reduziere. Diese permanente Online-Präsenz tut mir nicht gut.»
Lisa Licentia will weiterhin kämpfen. Zurzeit schliesst sie ihr Abitur ab, um dann Soziologie studieren und sich auf Rechtsextremismus spezialisieren zu können. «Die Rechten rekrutieren ihre Wähler im Internet». Man dürfe ihnen das Netz nicht komplett überlassen, es brauche einen Gegenpol.
Der Online-Kampf von Lisa ist ein zäher. Die Blase der AfD hat eine dicke Wand. Es erinnert an die Geschichte von David gegen Goliath, was sich Lisa da aus Schuldgefühlen selbst aufgebürdet hat.
Dabei kann man "Rechtsextreme" durch jedes andere beliebige Wort aus Politik und Religion ersetzen.
Ach... wenn es doch nur etwas gäbe, zwischen diesen beiden dogmatischen Extremen...
Das wär mal was neues, nicht nur isso und nur so...
Vielleicht sollte man das mal erfinden, könnte praktisch sein!
Den Stab über Lisa sollte man nicht allzu leichtfertig brechen. Späte Einsicht ist immer noch sehr, sehr viel besser als gar keine Einsicht. Sie war auf einem falschen Weg. Hat dabei wohl auch Unheil angerichtet, oder zumindest mitgeholfen, Unheil anzurichten. Aber das ist jetzt Vergangenheit.
Sie muss dafür sorgen, dass es nicht wieder die Zukunft wird. Kein Hin und Her !!!