Asylgesuche aus der Türkei nehmen stark zu – das sind die Gründe
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die grösste Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. In der Schweiz leben aktuell über 65'000 Personen, die einen Antrag auf den Schutzstatus S gestellt haben. Im Schatten dieser grossen Fluchtbewegung sind zuletzt auch die regulären Asylgesuche wieder angestiegen.
Auffällig dabei: Von 2006 bis 2021 stammten die meisten Gesuche aus Eritrea, nach der Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren belegte schliesslich Afghanistan die Spitzenposition. Seit Februar steht nun die Türkei ganz oben in der monatlichen Schweizer Asylstatistik. Im Juni ersuchten insgesamt 580 türkische Staatsangehörige um Asyl in der Schweiz. Das entspricht über 24 Prozent aller Gesuche.
Ein ähnliches Phänomen ist in Deutschland zu beobachten: Seit rund einem Jahr steigt die Zahl der türkischen Asylbewerber auch in unserem nördlichen Nachbarland rasant an, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zuletzt berichtete. In diesem Jahr waren es bis Ende Mai mehr als 15'000 Erstanträge. 2022 hatte sich die Zahl im Vergleich zum Vorjahr auf 24'000 verdreifacht.
Für die türkische Asylwelle in der Schweiz und Deutschland gibt es gemäss Experten drei Gründe:
- Die verschärfte Verfolgung der Opposition durch Präsident Recep Tayyip Erdogan vor den Wahlen im Mai 2023.
- Das verheerende Erdbeben vom Februar 2023, das auf türkischer Seite über 50'000 Opfer forderte.
- Die wirtschaftliche Misere mit einer jährlichen Teuerung von 44 Prozent, die vor allem junge Menschen in die Perspektivlosigkeit führt.
Nur wegen der Inflation allein dürften allerdings die wenigsten flüchten. Denn Asyl erhält in der Regel nur, wer nachweisen kann, dass er oder sie persönlich bedroht ist, etwa aufgrund politischer Überzeugungen. Für Reto Kormann, den Sprecher des Staatssekretariats für Migration SEM, ist deshalb die politische Verfolgung des Regimes Erdogan der Hauptgrund für die zunehmenden Asylgesuche, wie er am Mittwoch gegenüber der Tagesschau erklärte.
Noch immer sind ein Grossteil der türkischen Asylsuchenden in der Schweiz Kurden und Kurdinnen. In den vergangenen Jahren kamen gemäss dem SEM aber immer mehr Personen dazu, die der religiös-sozialen Gülen-Bewegung nahestehen – oder nahestehen sollen. Diese gilt in der Türkei als terroristische Vereinigung und soll laut der Regierung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich sein.
Die Schweiz verzeichnet in der ersten Hälfte des Jahres 2023 über ein Drittel mehr Asylgesuche als im letzten Halbjahr. In den letzten zehn Jahren sind nur im ersten Halbjahr 2016 mehr Asylgesuche eingereicht worden. SEM-Sprecher Kormann überrascht die Zunahme der Asylgesuche nicht. Natürlich sei der Anstieg von 40 Prozent relativ hoch, er habe aber mit diesen Zahlen gerechnet, erklärte er gegenüber dem SRF. Bis Ende Jahr rechnet das SEM insgesamt mit rund 27'000 Gesuchen. (pre)
