Seit über einem Jahr bekämpfen sich im Sudan der De-facto-Machthaber Abdel Fattah al-Burhan und sein ehemaliger Stellvertreter Mohamed Hamdan «Hemeti» Dagalo. Seither sind gemäss dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) fast 16'000 Menschen getötet und Millionen von ihnen vertrieben worden.
Die Dunkelziffer der getöteten Menschen dürfte noch viel höher liegen, das Leiden im nordostafrikanischen Staat ist enorm, wie Hilfswerke immer wieder betonen. Der zuständige Regionalleiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Mamadou Dian Bald, war nach seiner Reise in den Sudan im Februar schockiert. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur betonte er:
Es fehle an allem – Unterkünften für Geflüchtete, medizinischer Versorgung, Lebensmittel und Wasser, Hilfe für die zahlreichen Opfer sexueller Gewalt.
Hören tut man davon aber nicht viel, was Hilfsorganisationen schon seit Längerem beklagen. So auch Elsadig Elnour, Regionaler Direktor von Islamic Relief. In einem Appell an die internationale Gemeinschaft schrieb er diese Woche:
Zeit, die verschiedenen Krisenherde im Land zu beleuchten.
Schon vor Ausbruch der Gewalt hat laut dem World Food Program (WFP) jeder Fünfte in dem nordostafrikanischen Land mit 46 Millionen Einwohnern Hunger gelitten. Seither hat sich die humanitäre Lage dramatisch zugespitzt.
Die Initiative für Integrated Food Security Phase Classification (IPC) hat die Ernährungssicherheit im Sudan analysiert und die Bevölkerung anhand von fünf Kategorien aufgeteilt:
Laut diesen Zahlen leiden 37 Prozent der Bevölkerung unter akuter Ernährungsunsicherheit (IPC Phase 3 oder höher). Noch wurde die höchste Stufe Hungersnot nicht erreicht, doch diverse Organisationen warnen, dass die Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Grund dafür ist der praktische Stillstand des Landwirtschaftssektors und die damit eingehenden Ernteausfälle in Konfliktgebieten.
Wie IPC in ihrer Analyse vom März schreibt, hätten in Hauptanbaugebieten des Landes während des Höhepunkts der Erntesaison heftige Kämpfe stattgefunden. Dies habe dazu geführt, dass die Getreideproduktion schätzungsweise unter 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr liegt.
Lebensmittel müssen teilweise von weit weg transportiert werden, das Angebot ist knapp, die Preise schnellen in die Höhe: Die Nahrungsmittelpreise liegen derzeit um 73 Prozent höher als im Vorjahreszeitrum und 350 Prozent höher als im Fünfjahresdurchschnitt. Auch wenn Lebensmittel mancherorts vorhanden wären, viele Menschen können sie sich schlicht nicht mehr leisten.
Gemäss Zahlen der Kinderrechtsorganisation Save the Children könnten in den kommenden Monaten knapp 230'000 Kinder, junge Mütter und Schwangere an den Folgen von Hunger sterben.
Unterernährte, verletzte und kranke Menschen sind in Konfliktgebieten weitgehend auf sich allein gestellt: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind dort 70 Prozent der Gesundheitseinrichtungen entweder geschlossen, abgebrannt oder zerstört.
Angesichts diverser ausgebrochener Krankheiten, so wie Masern, Malaria und Cholera, steigt für die Menschen das Risiko, an diesen eigentlich heilbaren Krankheiten zu sterben. Verschärft wird die Lage noch zusätzlich durch den mangelnden Zugang zu sauberem Wasser und Sanitäranlagen.
Auch Opfer von sexueller Gewalt können kaum mit medizinischer Hilfe rechnen. Einerseits weil diese nicht verfügbar ist, andererseits weil im Sudan nicht offen über sexuelle Gewalt gesprochen wird – es ist ein Tabu. Vergewaltigungsopfern droht lebenslange Stigmatisierung und Ausgrenzung aus Gesellschaft und Familie.
So überrascht es nicht, dass kaum jemand im Konfliktgebiet rund um die Hauptstadt Khartum mit der britischen BBC über das Thema reden wollte. Es sei aber bekannt, räumte ein älterer Mann ein, dass Frauen während Sicherheitschecks in ihren Häusern vergewaltigt und belästigt würden.
In Flüchtlingslager im Nachbarland Tschad, über 1000 Kilometer entfernt, reden die Frauen etwas offener darüber, was ihnen in ihrer Heimat widerfahren ist. So etwa auch die 19-jährige Amina (Name von der BBC geändert), die auf der Flucht aus ihrem Heimatdorf Ardamata von zwei Milizen gefangen und mehrfach vergewaltigt wurde und jetzt schwanger ist. In einer temporären Klinik von Ärzte ohne Grenzen möchte sie eine Abtreibung vornehmen lassen.
Gemäss dem UN-Bericht sollen Männer in RSF-Uniform für 83 Prozent aller dokumentierten sexuellen Übergriffe verantwortlich sein. Die sich hauptsächlich aus Soldaten arabischer Herkunft zusammengesetzten RSF sollen es insbesondere auf die schwarzafrikanische Population in der Region Darfur abgesehen haben.
Bereits vor über 20 Jahren gingen die Dschandschawid, Vorgänger der jetzigen RSF, brutal gegen die nicht-arabische Bevölkerung in Darfur vor. Die Führung hatte schon damals Hereti inne, der als rechte Hand des damaligen Diktators Al-Baschir Aufstände der marginalisierten, nicht-arabischen Bevölkerung mit aller Härte niederschlug. Zwischen 2003 und 2008 sind schätzungsweise 300'000 Menschen umgekommen. Sowohl den Dschandschawid als auch sudanesischen Regierungstruppen werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.
Im vergangenen November warnte die EU in einer Stellungnahme vor einer Wiederholung der Ereignisse:
Während die Frauen sexuelle Gewalt erleiden, werden die Männer in Konfliktgebieten zum Kämpfen gezwungen. Gemäss einer CNN-Recherche seien RSF Mitte Dezember in den zentralen Bundesstaat Al Jazira eingefallen, wo sie die Männer vor ein Ultimatum gestellt haben sollen:
Als Druckmittel verwenden sie laut CNN nebst Gewalt auch schlicht das Zurückhalten von Nahrungsmitteln. Dafür hätten sie zuerst systematisch die gesamte landwirtschaftliche Infrastruktur zerstört. Um selbst aber keinen Hunger leiden zu müssen, hätten sie gemäss Augenzeugen ein Warenhaus mit 2500 Tonnen Lebensmitteln des World Food Program (WFP) geplündert. Damit hätten laut dem WFP fast 1,5 Millionen hungernde Menschen in Al Jazira einen Monat lang ernährt werden können.
Doch die RSF hat andere Pläne: Nur wer sich ihrer Armee anschliesst, kriegt Essen, wer sich weigert, muss hungern oder wird gleich exekutiert. Gemäss CNN seien in Al Jazira mindestens 750 Personen zum Beitritt in die RSF gezwungen worden.
Wer kann, der flüchtet, bevor der Konflikt die Heimatstadt oder das Heimatdorf erreicht. Der Machtkampf zwischen al-Burhan und Hemeti hat in den vergangenen zwölf Monaten die mittlerweile grösste Flüchtlingskrise weltweit ausgelöst. Nach jüngsten Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mehr als 8,6 Millionen Menschen innerhalb des Sudans und in den Nachbarländern auf der Flucht. Insgesamt 6,5 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge, wobei die Mehrzahl von ihnen sich in Süd-Darfur befindet.
Selbst konservativ geschätzt, stammt jeder achte Flüchtling weltweit aus dem Sudan. Einem Bericht der UN-Organisation für Migration (IOM) zufolge werden täglich rund 20'000 Menschen im Sudan neu vertrieben.
Der Krieg im Sudan brach am 15. April 2023 aus, als der Machtkonflikt zwischen Armeechef Abdel Fattah al-Burhan und dem RSF-Kommandanten Mohamed Hamdan «Hemeti» Dagalo eskalierte. Dem vorausgegangen war ein Volksaufstand, bei dem 2019 der bereits seit fast 30 Jahren herrschende Präsident Omar al-Baschir gestürzt wurde. In gemeinsamer Sache machten al-Burhan und Hemeti den Übergang in die Demokratie 2021 mit einem Putsch zunichte und teilten sich zunächst die Macht.
Als aber die RSF auf internationalen Druck hin in die nationale Armee eingegliedert werden sollte und sich al-Burhan weigerte, eskalierte der Zwist zwischen den beiden einst Verbündeten.
Al-Burhan, selbst ehemaliger Soldat, führt die Sudanese Armed Forces (SAF), also die sudanesische Nationalarmee, mit geschätzt 300'000 Soldaten an.
Ihm gegenüber steht Hemeti mit den Rapid Support Forces (RSF). Diese paramilitärische Einheit umfasst geschätzt 100'000 Soldaten und ging 2013 aus den Popular Defence Forces hervor. Sie setzt sich hauptsächlich aus Soldaten mit arabischen Wurzeln zusammen und entwickelte sich unter Hemeti zu einer unabhängigen Kraft.
Wer genau den Startschuss für die Eskalation gegeben hat, ist unklar. Der Konflikt brach in der Hauptstadt Khartum aus und weitete sich in der folgenden Zeit fast in den gesamten Süden des Landes sowie entlang des Nils aus.
Obwohl der Krieg im Sudan nun bereits ein Jahr dauert, scheinen westliche Regierungen andere Prioritäten zu haben. Die finanziellen Hilfeleistungen der internationalen Gemeinschaft fielen bisher äusserst mager aus.
Von den 3,9 Milliarden Euro, welche die Vereinten Nationen im Februar veranschlagten, kamen bis Anfang Woche bloss 5 Prozent zusammen. Erst eine Geberkonferenz am Montag in Paris brachte den Stein ins Rollen: Unter anderem versprach Deutschland weitere 244 Millionen Euro, Frankreich 110 Millionen Euro und die EU-Kommission rund 355 Millionen Euro. Der französische Aussenminister Stéphane Séjourné zeigte sich nach der Konferenz zufrieden. Auf X schrieb er:
La conférence de Paris pour le Soudan et les pays voisins a atteint ses objectifs.
— Stéphane Séjourné (@steph_sejourne) April 15, 2024
Les 50 pays présents se sont engagés à financer plus de 2Mds€ d'aide humanitaire pour les Soudanais.
Ce matin, le plan de l'ONU n'était financé qu'à 5%, il est désormais financé à plus de 50%. pic.twitter.com/2H5k7awn2x
Das Geld soll in die Nothilfe im Sudan sowie in Auffanglager in der Region fliessen.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) versetzte dem Optimismus des französischen Aussenministers allerdings einen Dämpfer. In einer Stellungnahme auf Facebook schrieb die MSF-Notfallmanagerin für den Sudan, Claire Nicolet, im Anschluss an die Konferenz:
Sie weist zudem darauf hin, dass Hilfe nur in von den SAF kontrollierten Gebieten möglich sei. Die RAF blockierten jeglichen Transport von Hilfsgütern in ihre Gebiete – darunter auch in die Hauptstadt Khartum. Die letzte Hilfslieferung habe im Oktober stattgefunden. Geld hilft in diesen Fällen nur bedingt, wie Nicolet betont:
Wie an der Konferenz am Montag bekannt gegeben wurde, wird Saudi-Arabien in den nächsten drei Wochen zu neuen Friedensgesprächen in die Hafenstadt Dschidda einladen. Es sind nicht die ersten: Im Dezember scheiterten die Verhandlungen, weil sich die beiden Konfliktparteien nicht an vertrauensfördernde Abmachungen, wie beispielsweise den Abzug von Truppen aus bestimmten Gebieten, gehalten hatten.
Die International Crisis Group, eine führende Nichtregierungsorganisation in Analysen und Lösungsvorschlägen zu internationalen Konflikten, hat die bisherigen diplomatischen Bemühungen als «schleppend» und «lustlos» bezeichnet. Oberste Priorität sollte ein Waffenstillstand sein, wie sie betonen:
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert derweil ein Waffenembargo. Der UN-Sicherheitsrat müsse das bereits für die Region Darfur geltende Embargo auf das ganze Land ausweiten, hiess es in der Petition, die am Montag in der kenianischen Hauptstadt Nairobi vorgestellt wurde. «Es ist nirgends sicher. Mit jeder Minute, die verstreicht, werden zahllose Leben ruiniert», hiess es.
Für die neuen Friedensverhandlungen steht noch kein Datum fest. Die Uhr tickt, während der Albtraum für die Bevölkerung im Sudan weitergeht.