International
Analyse

Kann Europa sich ohne die USA verteidigen?

epa11734443 A still image taken from an undated handout video released by the Russian Defence Ministry Press-Service on 22 November 2024 shows a Russian T90M tank firing towards Ukrainian positions, a ...
Bild: keystone
Analyse

Kann Europa sich ohne die USA verteidigen?

Wegen Donald Trump muss der alte Kontinent jetzt rasch Lösungen für seine militärischen Probleme finden.
26.11.2024, 12:4126.11.2024, 13:40
Mehr «International»

Alle wissen es, und zwar seit Langem: Wenn Donald Trump wieder US-Präsident wird, dann muss sich Europa, was seine Verteidigung betrifft, warm anziehen. Die Diskussion darüber findet denn auch in den zuständigen politischen und militärischen Gremien seit einiger Zeit statt. «Bis anhin sind den Worten jedoch noch keine Taten gefolgt», stellt die «Financial Times» in einer Hintergrund-Analyse fest und zitiert einen hohen EU-Sicherheitsbeamten wie folgt: «Wie immer man es auch drehen mag, die Europäer werden eine grössere Verteidigungslast zu tragen haben. Die Frage bleibt einzig, ob dies ein geordneter oder ein chaotischer Prozess werden wird.»

epa08884251 Candidatesfor the chairmanship of the Christian Democrats Union (CDU) party, Norbert Röttgen, in an online video talk format in which questions from CDU members are answered live from the  ...
Warnt vor Russland: CDU-Politiker Norbert Röttgen.Bild: keystone

Einer, der sich mit dieser Frage wohl bald befassen wird, ist Norbert Röttgen. Der prominente CDU-Politiker und Verteidigungsexperte wird höchstwahrscheinlich nach den Wahlen im kommenden Februar ein prominentes Mitglied der nächsten deutschen Regierung sein. In einem Beitrag im Magazin «Foreign Affairs» warnt er nicht nur davor, dass Trump die Unterstützung an die Ukraine und Europa massiv zurückfahren wird. Er stellt auch fest:

«Das noch grössere Risiko besteht darin, dass Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Waffenstillstands-Deal anstrebt. Putin weiss, dass Trump dabei unter grossem innenpolitischen Druck stehen wird, den Deal auch abzuschliessen – ein Zwang, den Putin nicht teilt. Diese Ungleichheit verschafft Putin einen Vorteil, und es ist daher unwahrscheinlich, dass ein solcher Deal der Ukraine – und damit auch Europa – ausreichend Sicherheit gewähren wird, um künftige russische Aggressionen zu verhindern. Sollte Washington somit die Kriegsziele Moskaus gutheissen, würde dies auch die Glaubwürdigkeit der NATO infrage stellen und damit die Grundpfeiler der europäischen Sicherheit erschüttern.»

Die europäische Sicherheit beruht auf der NATO, und die NATO wiederum ist ohne die Amerikaner ein Papiertiger. Auch das ist hinlänglich bekannt. Selbst wenn jetzt die letzten Mitglieder der Allianz bereit sind, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen – mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für das Militär auszugeben –, und selbst wenn, wie erwähnt, die Einsicht vorhanden ist, bleiben eine Menge Probleme.

Die Abhängigkeit von den USA ist nach wie vor gross. So stammt der Löwenanteil der Waffen aus Übersee, beispielsweise der Kampfjet F-35. Auf einen anderen amerikanischen Jet ist die NATO auf Gedeih und Verderb angewiesen, auf den C17. Dieser Frachtflieger kostet 340 Millionen Dollar und kann 75 Tonnen Fracht 4500 Kilometer weit transportieren.

epa11615063 An Australian Air Force F-35 fighter jet performs during the Bali International Air Show in Bali, Indonesia, 20 September 2024. The Bali International Air Show runs at Ngurah Rai Internati ...
Auch die Schweiz hat sie bestellt: die F-35.Bild: keystone

Bei den in Europa hergestellten Waffen herrscht ein riesiges System-Chaos. Die Amerikaner kennen 32 verschiedene Systemtypen, die Europäer gemäss einer McKinsey-Studie 172. Selbst bei den 155-Millimeter-Geschossen der Artillerie – sie erweisen sich im Ukraine-Krieg von grösster Bedeutung – gibt es mehr als ein Dutzend verschiedene Systeme.

«Wir müssen die europäische Verteidigungsindustrie defragmentieren. Es gibt zu viele Plattformen», erklärt daher Pierroberto Folgiero, Chef des italienischen Rüstungskonzerns Fincantieri, in der «Financial Times». «Doch die Rüstungsindustrie boomt, und der Fokus auf nationale Champions ist weit verbreitet. Weshalb sollte es daher zu Zusammenschlüssen kommen? Dazu wird es sehr viel politischen Willen brauchen.»

Auch politisch stellen sich bisher ungelöste Fragen, beispielsweise, wer das Sagen in der NATO haben soll. Bisher waren dies letztlich diskussionslos die Amerikaner. Bei einem Rückzug der USA – und sei er auch nur teilweise – würde sich diese Frage neu stellen. Edward Stringer, ein ehemaliger Marschall der britischen Luftwaffe, befürchtet daher in der «Financial Times», dass es zu einem hässlichen Infight kommen könnte: «Können Sie sich vorstellen, dass sich Macron dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk unterordnen wird, oder umgekehrt? Die militärische Hegemonie der USA hat bisher alle mitgeschleppt.»

Schliesslich stellt sich auch die Frage der Finanzierung. Zu Recht hält Röttgen zwar fest, dass das wirtschaftliche Potenzial, um Putin Paroli zu bieten, vorhanden sei. Schliesslich ist das Bruttoinlandprodukt der EU zehnmal grösser als dasjenige Russlands. «Was Europa zurückbindet, ist das Fehlen eines politischen Willens», so Röttgen.

General Christopher Cavoli, Supreme Allied Commander Europe, speaks during an event at the Council on Foreign Relations in New York, Thursday, Aug. 15, 2024. (AP Photo/Seth Wenig)
Christopher Cavoli
NATO-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli.Bild: keystone

Wie beim Covid-Hilfspaket würden sich gemeinsame Staatsanleihen für die Finanzierung der Verteidigungsausgaben aufdrängen. Doch vor allem die Deutschen und die Niederländer wehren sich heftig gegen Eurobonds, die für sie nach wie vor des Teufels sind.

Wie auch immer: Das Finanzierungsproblem muss gelöst werden, denn selbst wenn es zu einem Frieden in der Ukraine kommen sollte – und das ist ein grosses Wenn –, verschwindet das Problem nicht. Europa muss lernen, sich selbst verteidigen zu können. Die Hoffnung, dass Russland auf Jahrzehnte hinaus geschwächt bleiben wird, ist eine Illusion. Der NATO-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli warnt denn auch bereits, die russische Armee werde aus diesem Krieg «stärker als heute» herauskommen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die Geschichte der Nato
1 / 27
Die Geschichte der Nato
1949: In Washington wird am 4. April der Nordatlantikvertrag unterzeichnet. Das Bündnis hat anfangs zwölf Mitglieder: Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA.
quelle: epa/u.s. national archives / u.s. national archives and records administration / handout
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Putins Luxus-Palast an der NATO-Grenze – «Das detaillierteste Video aller Zeiten»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
249 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Bynaus
26.11.2024 13:02registriert März 2016
Wir Europäer sollten nun gleich Nägel mit Köpfen machen und eine Europäische Armee aufstellen, die den Auftrag hat, alle europäischen Länder zu verteidigen, den Frieden in Europa zu sichern, und wo nötig, der Durchsetzung des Völkerrechts auf dem Kontinent Nachdruck zu verleihen - ohne deswegen als Weltpolizist (oder Welthilfspolizist?) auftreten zu müssen. An einer solchen, grundsätzlich defensiv aufgestellten Armee könnte sich auch die Schweiz beteiligen.
1489
Melden
Zum Kommentar
avatar
John Henry Eden
26.11.2024 13:05registriert Januar 2014
Würde Polen begeistert für Ungarn in den Krieg ziehen? Oder gar die Türkei für Schweden?

Die USA sind im wahrsten Sinne des Wortes der Leader. Der Khan, dem alle Stämme folgen. Ohne diesen Leader - gute Nacht!
11514
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bikemate
26.11.2024 13:49registriert Mai 2021
Eine fast unlösbare Aufgabe, Europa täte gut daran die Situation ernst zu nehmen und Lösungen zu erarbeiten.
Leider glauben viele wenn wir nicht mehr Mohrenkopf sagen, und immer fein gendern seien alle Probleme dieses Planeten gelöst.
12932
Melden
Zum Kommentar
249
«Wiederauferstehung» in Paris: Was die Eröffnung von Notre-Dame für Frankreich bedeutet
Bei der Wiedereröffnung von Notre-Dame in Paris inszeniert sich Emmanuel Macron am Samstagabend neben seinem «special guest» Donald Trump. Dabei hätte er ein besseres Argument.

Paris gebührt ein doppeltes «Chapeau». Die Stadt der Lichter hat in diesem Jahr nicht nur die Olympischen Spiele reibungslos über die Bühne gebracht. Am 7. Dezember wird auf der Seine-Insel auch die nach ihrem Brand vor fünf Jahren umfassend restaurierte Kathedrale Notre-Dame wiedereröffnet.

Zur Story