Ob auf den Protest-Transparenten beim Eurovision Song Contest (ESC) in Malmö oder der Boykotterklärung von Studierenden der Uni Bern: Israel wird bei seinem Feldzug gegen die Hamas im Gaza-Streifen explizit und absolut «Genozid», sprich Völkermord, vorgeworfen.
Inwiefern trifft dieser Vorwurf von propalästinensischen Kreisen, Demonstranten und Uni-Besetzern zu? Die nachfolgende Zusammenstellung verschafft einen Überblick:
In der UNO-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 gilt für die Anerkennung als Genozid eine entscheidende Vorbedingung: Es muss die Absicht vorliegen, «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören» (Artikel 2). Darauf aufbauend stehen a) die Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe, b) die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden, c) der Entzug von Lebensbedingungen, d) Massnahmen zur Geburtenverhinderung sowie e) Kindesraub unter Strafe.
Unter den zahlreichen Juristinnen und Völkerrechtlern, die sich bisher zur Genozid-Frage in Gaza geäussert haben, gibt es zumindest einen Konsens: dass es keine einfache Antwort darauf gibt. Das Hauptproblem liege darin, räumen selbst Befürworter der Völkermord-These ein, dass es sehr schwer sein wird, Israel den eindeutigen Vorsatz zur teilweisen oder vollständigen Zerstörung des palästinensischen Volkes im Gaza-Streifen nachzuweisen.
Von den fünf strafbaren Punkten fallen Massnahmen zur Geburtenverhinderung und der Kindesraub ohnehin schon weg. Entsprechend betont Südafrika bei seiner Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) die hohen zivilen Verluste und die übermässige Zerstörung von Wohngebieten.
Für den Beweis des Vorsatzes stützen sich die südafrikanischen Ankläger auf die Aussagen rechtsextremer israelischer Politiker, welche nach dem 7. Oktober in Bezug auf den Gaza-Streifen von «menschlichen Tieren» und «Auslöschung» sprachen.
Ob diese affektiven Äusserungen einzelner Minister aber ausreichen, dem israelischen Feldzug gegen die Hamas die staatlich verfügte Dimension eines Völkermords nachzuweisen, wird sich noch weisen müssen.
In seinem Zwischenurteil zur südafrikanischen Klage stellte der IGH am 26. Januar vorsichtig fest: «Zumindest einige Handlungen und Unterlassungen, die durch Israel in Gaza begangen wurden, scheinen unter die Vorschriften der Genozid-Konvention fallen zu können.»
Das abschliessende Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag steht jedoch noch aus und wird erst in mehreren Jahren erwartet.
Israel stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kampf gegen die Hamas dem Selbstverteidigungsrecht des Landes entspringe, mit dem schrecklichen Terrorüberfall vom 7. Oktober als Auslöser. Sollten auf israelischer Seite vereinzelt Kriegsverbrechen geschehen, würden diese aufgeklärt und die Schuldigen vor Gericht gestellt.
Die seit dem 7. Oktober bei den Kampfhandlungen getöteten Zivilpersonen und die zerstörte Infrastruktur fielen auf die Hamas zurück. Die Terrororganisation würde bewusst die palästinensische Bevölkerung als Schutzschild missbrauchen und zivile Einrichtungen, etwa durch Untertunnelung und Minenfallen, für eigene Kampfzwecke nutzen. Insofern sind laut Israel zivile Verluste in diesem urbanen Kriegsumfeld, die viel zitierten «Kollateralschäden», zwar bedauerlich, aber unausweichlich.
Wenngleich es bei der Wertung der Hamas-Kampfweise Streit über Detailfragen gibt – etwa ob es unter dem Al-Schifa-Krankenhaus tatsächlich eine Hamas-Kommandozentrale gegeben hat –, so besteht laut Einschätzung zahlreicher Militäranalysten kein Zweifel darüber, dass die Hamas in Gaza einen städtischen Guerillakrieg aus dem Hinterhalt mit wenig Rücksicht auf die eigene Bevölkerung führt.
Dazu gehört, dass die Terrororganisation bis auf den heutigen Tag die geschätzt 120 noch israelischen Geiseln in dieser zivilen Umgebung versteckt hält und weiterhin als illegales Druckmittel gegenüber Israel missbraucht. Selbst mit der Herausgabe nur eines Teils der Geiseln könnte die Hamas einen sofortigen Waffenstillstand erwirken, argumentiert Israel; mit der Kapitulation sogar das Ende des Krieges.
So ungenügend diese auch sein mögen, so scheinen sich die Bemühungen Israels, die Palästinenser im Gaza-Streifen vor eigenen Angriffen mit Räumungsbefehlen aus der Kampfzone zu entfernen – zuletzt vor dem Angriff auf Rafah vor Wochenfrist –, ebenso wenig mit der Völkermord-These zu vertragen.
Dasselbe gilt für die humanitären Hilfstransporte: Diese mögen quantitativ nicht ausreichen, wie das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA immer wieder kritisiert. Aber dass Israel sie überhaupt zulässt, ebenso wie die Nahrungsmittelabwürfe per Fallschirm und den Bau des künstlichen Versorgungsdocks vor der Gaza-Küste durch die US-Marine, ist unbestritten. Mit einer Völkermordabsicht als Leitlinie des eigenen Handelns würde Israel kaum das eine noch das andere tun.
Allerdings werden die Bemühungen Israels zum Verlust ziviler Opfer gemeinhin als ungenügend angesehen. Der IGH verlangte bei seinem Zwischenurteil vom 26. Januar (PDF), dass Israel unverzüglich wirksame Massnahmen zur Verbesserung der palästinensischen Lebensbedingungen ergreife (Artikel 80). Selbst US-Sicherheitsberater Jake Sullivan betonte zu Beginn dieser Woche: «Wir glauben, dass Israel mehr tun kann und muss, um den Schutz und das Wohlergehen unschuldiger Zivilisten zu gewährleisten.»
Zusammenfassend analysiert der Völkerrechtsexperte Matthias Hartwig:
Es sei bisher keine Absichtserklärung des Staates Israels bekannt, die Bevölkerung Gazas auslöschen zu wollen, wie das deutsche Magazin «Stern» neulich Hartwig zitierte.
Gegenüber CH Media betont Andreas Müller, Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Basel:
Und was den konkreten Vorwurf an die Adresse Israels angeht, sagt Müller: «Für Völkermord sehe ich letztlich keinen ausreichenden Ansatzpunkt, wenn man den juristischen Begriff ernst nimmt.»
Auf der Gegenseite plädiert Amos Goldberg, Professor für die Geschichte des Holocaust in Jerusalem, die «katastrophale Lage» in Gaza eben nicht nur durch die «juristische Brille» zu betrachten. In einem in propalästinensischen Kreisen weit geteilten Meinungsstück schreibt Goldberg von der «Logik des Genozids», wenn die israelische Armee ein gesamtes Wohnquartier bombardiere, um einen einzigen Hamas-Kommandeur zu schädigen.
Unter anderem das Ausmass von Tod und Zerstörung sowie die «grassierende Entmenschlichung der Palästinenser» in Israel würden «zu einem Gesamtbild des Genozids» beitragen.
Auf diese Formel dürfte sich letztlich auch der Streit zwischen den Lagern herunterbrechen lassen, ob Israel in Gaza Völkermord begeht oder nicht.
Die aufgestaute Wut und die scheinbar unüberbrückbaren Gräben zwischen Israel-Freunden und propalästinensischen Protestierenden enthalten schliesslich noch eine bittere historische Pointe: Der Begriff Genozid wurde ursprünglich 1944 vom jüdischen Juristen Raphael Lemkin geschaffen, um den Nazi-Holocaust an den Juden im Zweiten Weltkrieg zu kategorisieren.
Dank Lemkins massgeblicher Mitwirkung wurde Völkermord zum Anklagepunkt im Nürnberger Prozess gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher und anschliessend von der UNO in einer eigenen – viele sagen, in ihrer wichtigsten – Konvention gebannt.
Als jemand der auch in dem Land zuhause ist, verfolge ich das Geschehen und die Stimmung in manchen Kreisen mit Schrecken. Was (rechtsextreme) Politiker so aussprechen (durchaus auch Genozidabsichten), die weit verbreitete Hetze und die Lieder deren Texte teilweise als Aufrufe zum Genozid verstanden werden können, erinnern mich an das Geschehen in Ruanda vor dem dortigen Genozid.