Charkiw ist mit 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrösste Stadt der Ukraine. Die grosse Mehrheit spricht vorwiegend oder ausschliesslich Russisch. Der russische Name Charkow ist weltweit fast bekannter als die ukrainische Bezeichnung. Man kann sich gut vorstellen, dass die Invasions-Armee glaubte, mit offenen Armen empfangen zu werden.
In Wirklichkeit ist sie mit erbittertem Widerstand konfrontiert. Nirgends wird heftiger gekämpft. Die Russen schrecken offenbar vor Artillerie- und Raketenangriffen auf zivile Ziele nicht zurück. Charkiw ist zu einem Symbol geworden für einen russischen Einmarsch, der überhaupt nicht so verläuft, wie man das im Kreml wohl gedacht hatte.
Die Vorstellung, man könne die ukrainische «Nazi-Regierung» mit einem «Blitzkrieg» stürzen, hat sich als Illusion entpuppt. Nennenswerte Fortschritte machen die Invasoren einzig im Süden. Sonst verläuft kaum etwas nach Plan. Selbst den Luftraum scheinen die Russen nicht unter Kontrolle zu haben. Um die Moral der Truppe soll es schlecht bestellt sein.
Für einige westliche Experten sei die vermeintlich furchterregende russische Armee ein «Papiertiger», schreibt der «Economist». Sie kämpfe «schlechter als 2008 in Georgien», analysiert der polnische Militärexperte Konrad Muzyka auf Twitter. Damals gewannen die Russen den Krieg rasch, doch es wurde ein grosser Modernisierungsbedarf festgestellt.
Nun wundern sich viele, ob die Reformen nicht weit genug gingen (oder von der berüchtigten russischen Korruption «verwässert» wurden). Angesichts des hartnäckigen ukrainischen Widerstands und der russischen Probleme stellt sich die Frage, wie dieser durch Wladimir Putins Revanchismus und Realitätsverweigerung ausgelöste Krieg enden könnte.
Das absolute Schreckensszenario wäre eine Ausweitung auf einen Welt- oder sogar Atomkrieg. Die Gefahr ist angesichts von Putins zunehmend erratischem Verhalten nicht von der Hand zu weisen. Geht man jedoch davon aus, dass es nicht zum Äussersten kommen wird, lassen sich fünf Szenarien für eine «Exit-Strategie» skizzieren:
Das Vorbild könnte der zweite Tschetschenien-Krieg von 1999 sein. Mit einem massiven und brutalen Militäreinsatz gelang es, die abtrünnige Kaukasus-Republik unter Kontrolle zu bringen. Die Hauptstadt Grosny wurde zu einem grossen Teil zerstört. Jetzt könnte Putin ein ähnliches Szenario anstreben, um eine Marionettenregierung in Kiew zu installieren.
Prognose: Putin ist eine Eskalation zuzutrauen, aber die Verluste wären enorm und der Hass der Ukrainer auf die Russen grenzenlos. Ein Problem wäre auch die russische Bevölkerung. Die Tschetschenen waren ihr egal, doch viele haben Freunde und Verwandte in der Ukraine. Deshalb vermeidet die Propaganda den Begriff «Krieg».
Keine der beiden Seiten ist zum Nachgeben bereit. Es kommt zu einem langwierigen und zerstörerischen Kräftemessen, einer Art modernem Stellungskrieg. Die Ukrainer würden mit Waffen und Geld aus dem Westen versorgt und könnten die russische Armee in Schach halten. Gleichzeitig wäre mit massiven Flüchtlingsströmen zu rechnen.
Prognose: Dieses Szenario ist möglich, aber eigentlich hat niemand daran ein Interesse. Die russische Propaganda versucht den Eindruck zu vermitteln, beim Einmarsch in die Ukraine handle es sich um eine beschränkte «Spezialoperation». Bei einem langen Krieg im Nachbarland mit vielen toten Soldaten würde sie in Erklärungsnot geraten.
Am Montag, nach nur vier Kriegstagen, kam es in Belarus zu Gesprächen zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation. Es ist ein Indiz, dass auch die Russen an einem möglichst raschen Kriegsende interessiert sind. Einen Durchbruch gab es nicht, doch ein solcher wäre nach der ersten Runde ein gewaltiges Wunder gewesen.
Prognose: Es wäre eine für beide Seiten gesichtswahrende Lösung. Doch der Teufel liegt im Detail. Es könnte darauf hinauslaufen, dass die Russen die Souveränität der Ukraine und ihre Regierung anerkennen. Diese legt die Nato-Mitgliedschaft «auf Eis», dafür darf sie den EU-Beitritt anstreben. Der Westen könnte dabei Überzeugungsarbeit leisten.
Putin und seine Entourage kommen zur Einsicht, dass sie sich mit ihrem Ukraine-Abenteuer verrannt haben. Also beenden sie die Militäroperation und begnügen sich damit, die Krim weiterhin zu beherrschen sowie die Separatistengebiete im Osten auf die gesamten Bezirke Donezk und Luhansk auszudehnen. Die Russen könnten so ihren «Friedenswillen» zeigen.
Prognose: Das Szenario ist realistischer, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Das Staatsfernsehen versucht den Russinnen und Russen einzureden, beim Einsatz in der Ukraine gehe es um die «Befreiung» der Donbass-Region. Der Konflikt wäre weiterhin «eingefroren», aber Putin könnte sein Image als rationaler Staatsmann aufpolieren.
Nobody is saying this, but I will: This war will end in regime change - in Moscow. It won't be from an external military invasion into Russia. It will be mutiny and internal collapse that will bring Putin's regime down. It won't be overnight but it will happen.
— Aaron Astor (@AstorAaron) February 25, 2022
Der US-Historiker Aaron Astor ist überzeugt: «Dieser Krieg wird mit einem Regimewechsel enden – in Moskau.» Meuterei und innerer Zusammenbruch würden das Putin-Regime zu Fall bringen, «nicht über Nacht, doch es wird geschehen». Eine Möglichkeit wäre, dass führende Köpfe aus Politik und Militär den «übergeschnappten» Präsidenten stürzen.
Prognose: Aus der Ferne lassen sich die internen Abläufe und Strukturen in der russischen Führung kaum beurteilen. Wladimir Putin scheint nur auf einen kleinen Kreis von Vertrauten zu hören, darunter andere Ex-KGB-Leute. Bei einem andauernden und verlustreichen Krieg aber könnten Generäle und andere Offiziere zur Tat schreiten.
In diesem Krieg scheint einiges möglich, selbst ein Horrorszenario, vor allem wenn Putin das Gefühl hat, er stehe mit dem Rücken zur Wand. Der Westen wird deshalb neben den harten Sanktionen versuchen müssen, ihm eine Brücke zu bauen, vielleicht im Verbund mit China. Denn auch in Peking dürfte man über den Verlauf des Kriegs nicht glücklich sein.
Hoffen wir das entweder Putin zu Vernunft kommt, oder aber es in der russische Spitze Menschen mit gesundem Verstand gibt, die handeln und Putin absetzen....
Ich denke viele in der russischen Hirarchi sind nicht oder nur teilweise mit Putin einverstanden, handeln aber aus Agst vor konsequenzen (Gefängniss/arbeitslager) nicht.
🙏🕊