Der ukrainische Präsident scheint guter Dinge zu sein. «Dies ist eine sehr wichtige Phase des Krieges, eine, die unserem Land sehr geholfen hat und weiterhin helfen wird», sagte Wolodymyr Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache am Sonntag mit Blick auf die ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk. Mithilfe «ausreichender Unterstützung unserer Partner» solle der Druck in Kursk aufrechterhalten und sogar erhöht werden. «Denn nur mit Gewalt können wir den Frieden näher bringen,» so Selenskyj.
Tatsächlich hatte die Ukraine zu Beginn ihrer Kursk-Offensive vor rund zwei Monaten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Zwischen 1'000 und 1'300 Quadratkilometer Gelände sollen Kiews Truppen seitdem erobert haben und kontrollieren. Russische Gegenstösse blieben bisher weitgehend erfolglos. Ein wichtiges Ziel aber hat die Ukraine verfehlt: Denn entgegen der Hoffnung der Militärführung hat Moskau kaum Truppen aus dem Donbass nach Kursk verlegt.
Die ukrainischen Verteidiger entlang der Front stehen deshalb vor grossen Problemen, die besonders im Donbass deutlich werden. Russland hat dort sowohl beim Personal als auch beim Material deutliche Vorteile. Angesichts dessen mussten sich Kiews Truppen in den vergangenen Wochen immer wieder aus strategisch wichtigen Ortschaften zurückziehen, zuletzt Anfang Oktober aus Wuhledar in der Region Donezk. Was zunächst wie ein herber Rückschlag für Kiew anmutet, könnte aber Teil eines grösseren Plans sein, dessen Ausgang jedoch noch ungewiss ist.
Die Idee dahinter scheint einfach: Die Ukraine will die Logik des Abnutzungskriegs, der vor allem im Osten tobt, so weit wie möglich für sich nutzen. Der österreichische Militäranalyst Franz-Stefan Gady erklärte das Vorgehen im Gespräch mit der «New York Times» wie folgt: «Dieser Krieg wird nicht dadurch entschieden, wer Wuhledar oder andere taktische Städte an der Frontlinie kontrolliert.» Stattdessen gehe es darum, «wie viele Truppen die Russen eingesetzt haben, um Wuhledar zu erobern, und wie viele Verluste die Ukrainer erlitten haben, um es zu halten».
Wie viele russische Soldaten bei den Angriffen auf die Stadt in Donezk insgesamt gefallen sind, lässt sich kaum beziffern. Einen Anhaltspunkt aber liefert ein Bericht des britischen Senders BBC. Bereits im Herbst 2022 und Winter 2023 tobten schwere Gefechte um Wuhledar. Russland schickte dann die Spezialeinheiten der 155. und 40. Marinebrigade zur Eroberung der Stadt.
Vor dem Krieg sollen dem Bericht zufolge insgesamt mehr als 5'000 Soldaten in den beiden Brigaden gedient haben. Unter Berufung auf öffentliche Daten schätzt die BBC, dass beide Einheiten mehr als 2'100 Mann in der Schlacht um Wuhledar verloren haben, also gut 40 Prozent der einstigen Truppenstärke. Der Sender zählt zu den Opfern sowohl Tote als auch Verletzte und Vermisste. Hinzu kommen nicht bezifferte Verluste anderer Einheiten, die rund um die Stadt eingesetzt wurden.
Wie viele Soldaten in der Schlacht um Wuhledar auf ukrainischer Seite gefallen sind, verletzt wurden oder als vermisst gelten, ist derzeit nicht bekannt. Jedoch liegen im Normalfall im Krieg die Verluste aufseiten der Angreifer stets um ein Vielfaches höher als bei den Verteidigern, die sich hinter befestigte Stellungen zurückziehen können. Im speziellen Fall Wuhledars begünstigte auch die erhöhte Position der Stadt die Bemühungen der Verteidiger.
Westlichen Angaben zufolge liegen die gesamten Verluste Russlands in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine nochmals deutlich höher. Allein im August sollen Moskaus Truppen laut Aussagen des britischen Militärberaters Nicholas Aucott durchschnittlich rund 1'200 Mann täglich verloren haben.
Die erheblichen Verluste beim Personal der russischen Truppen im Verlauf der Offensive im Donbass setzen sich offenbar auch beim Militärgerät fort. In der Region Donezk führt Russland seit rund einem Jahr mit äusserster Härte Offensiven in Richtung der Städte Pokrowsk, Kramatorsk und Slowjansk durch, rückt dabei jedoch nur langsam vor: Zunächst fiel die Stadt Marjinka im Januar, einen Monat später dann Awdijiwka und nun Wuhledar. Am Dienstag erklärte das ukrainische Militär zudem, dass russische Truppen bereits in die Stadt Torezk eingedrungen seien.
Laut dem X-Nutzer Naalsio, der unter anderem für das niederländische Projekt Oryx Verluste beim russischen Kriegsgerät auswertet, hat Russland allein bei der Offensive im Raum Pokrowsk in den vergangenen zwölf Monaten 1'830 Stück schweren Kriegsgeräts verloren. Darunter fallen etwa Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge. Der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) zufolge handelt es sich dabei um die Ausrüstung von «mindestens fünf Divisionen» der russischen Armee.
Naalsio wertet öffentlich zugängliche Bilder für die Feststellung der Verluste aus. Die Dunkelziffer liegt daher wohl noch höher, längst nicht alle Zerstörungen sind auf Fotos oder Videos festgehalten.
Doch trotz der hohen russischen Verluste hat die ukrainische Strategie der Abnutzung ihre Tücken. Schon vor der Offensive auf russischem Boden war die Kriegsfront mehr als 1'200 Kilometer lang. Der Vorstoss der Ukrainer in Kursk hat sie nochmals gestreckt – und so den Mangel von Kiews Truppen beim Personal und Material erneut in den Fokus gerückt. Allein in Kursk sollen rund 30'000 Ukrainer im Einsatz sein. Die Soldaten fehlen zur Verteidigung der Positionen im Donbass.
Das machte sich laut einem Bericht der Washington Post bei den russischen Gebietsgewinnen bemerkbar. In der gesamten Ukraine hat Russland dem finnischen Militäranalysten Pasi Paroinen zufolge im August und September rund 820 Quadratkilometer erobern können, allein rund 700 Quadratkilometer im Gebiet Donezk. In denselben Zeitraum fällt die ukrainische Kursk-Offensive.
Erschwerend kommt für die Ukrainer hinzu, dass auch die russische Armee dazulernt. Noch vor wenigen Monaten war die russische «Fleischwolf»-Taktik geprägt von Wellen über Wellen an Soldaten, die auf ukrainische Stellungen anliefen und zu grossen Teilen ums Leben kamen. Laut dem Bericht der Washington Post aber passt sich Russland nun an.
Demnach schicken die russischen Kommandeure nun kleinere Einheiten im Schutz von Drohnengeschwadern und Artilleriefeuer vor. Diese Kampfgruppen sind für die Ukrainer schwerer zu entdecken und zu bekämpfen. Zudem soll Russland die Kommunikation der Einheiten und Koordination ihrer Angriffe verbessert haben.
Nicht zuletzt aber gelingt es Russland weiterhin, in grossen Zahlen frische Soldaten zu rekrutieren, die die Verluste auf dem Schlachtfeld ausgleichen. Auch Russlands Kriegswirtschaft liefert noch ausreichend Material an die Front nach. Westliche Militäranalysten gehen jedoch davon aus, dass dieser Zustand wohl lediglich bis 2026 aufrechterhalten werden kann, bis auch Russland beim Materialnachschub erhebliche Probleme bekommen könnte.
Hoffnung macht laut dem US-Militärexperten Rob Lee aus Sicht der Ukraine die im Mai angelaufene neue Mobilisierung. Diese könnte die Personalsituation mittelfristig verbessern, sagte Lee der «Washington Post». Zudem könnte Kiews Militärführung weitere Überraschungen auf dem Schlachtfeld parat haben.
Letztlich aber verweist auch Lee auf die Logik des Abnutzungskriegs: Am Ende gewinnt derjenige, der seine Verluste eher aushalten kann. «Ab welchem Punkt wird dies unhaltbar oder führt zu politischen Problemen für eine Seite?,» verdeutlichte der Experte in der «Washington Post» das Grundproblem sowohl für Russland als auch die Ukraine. «Ich denke, das ist die strategische Frage.»
Deswegen wäre z.B. auch die Freigabe weitreichender Waffen so wichtig!