Nico Lange, 49, ist einer der profiliertesten Sicherheits- und Militärexperten Deutschlands. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist er quasi Dauergast in Talkshows und Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen. Im Interview spricht er über die vermeintliche Eskalationsgefahr und andere Mythen im Umgang mit Russland.
Sie waren kürzlich in der Ukraine und haben Präsident Selenskyj getroffen. Was nehmen Sie mit vom Besuch?
Nico Lange: Erstens, dass die Ukrainer trotz der schwierigen Lage fest entschlossen sind, ihre Heimat zu verteidigen. Zweitens, dass es gar nicht so schwer wäre, das Notwendige zu tun, um Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dazu braucht die Ukraine militärische Stärke. Leider eröffnen wir im Westen durch unser Zögern den Russen immer wieder Möglichkeiten. Die bisherige Strategie, «der Ukraine so lange wie nötig zu helfen», reicht nicht. Wir müssen einen Schritt weiter gehen, angefangen bei der Aufhebung der Reichweitenbeschränkung für die westlichen Waffen.
Vor zwei Wochen lag die Freigabe der Distanzwaffen in Griffweite, als der britische Premier in Washington darum bat. Dann drohte Wladimir Putin mit Konsequenzen. Offenbar gibt es Gründe, die Drohungen ernst zu nehmen.
Putin hat es geschafft, mit seiner psychologischen Kriegsführung tief in die Köpfe der Entscheider zu kriechen. Die Realität zeigt aber, dass seine Drohungen leer sind. Die Ukrainer haben die Krim angegriffen, grosse Teile der Schwarzmeerflotte versenkt und sind in Russland einmarschiert – und nichts ist passiert. Nun haben sie mit ihren selbst gebauten Drohnen grosse Munitionslager 1000 Kilometer nach der Grenze zerstört, und die einzige Reaktion Russlands war es, die Angriffe totzuschweigen. Ich verstehe jeden, der vor zwei Jahren vorsichtig war. Aber es ist Zeit, die Realität anzuerkennen. Wenn wir Angst haben, dass Putins Raketen uns treffen könnten, dann können wir gleich nur noch das tun, was Putin will.
Gerade in Deutschland spielt die Eskalationsangst eine grosse Rolle in der öffentlichen Debatte. Bundeskanzler Scholz liefert den Taurus-Marschflugkörper nicht, weil er Russland nicht provozieren will. Wie sehen Sie seine Haltung
Was der Kanzler wirklich denkt, ist schwierig zu sagen. Sein Problem ist, dass er in seiner eigenen SPD-Fraktion keine Mehrheiten hat. Das zeigte sich immer wieder, zuerst bei der absurden Diskussion um den Schützenpanzer Marder, wo einige in der SPD argumentierten, dessen Lieferung würde den Dritten Weltkrieg auslösen.
Was sind die Gründe für diese Zögerlichkeit in der SPD?
Viele in der SPD-Bundestagsfraktion haben ihr ganzes Leben nach Moskau geschaut und träumen auch heute noch von einem friedlichen Miteinander mit Putins Russland, über die Köpfe anderer Staaten hinweg. Für sie wird Russland immer wichtiger sein als die Ukraine. Andere können ihre Ideologien nicht abschütteln und verharren in ihrem selbstgerechten Pazifismus. Zudem steht die SPD unter Druck der russlandfreundlichen AfD und der Wagenknecht-Partei. Am Schluss ist es Machtpolitik und als Kanzler kann ich nichts tun, wenn ich dafür in der eigenen Partei keine Mehrheiten habe.
Trotzdem hat Scholz die roten Linien immer wieder abgeräumt. Wird das auch beim Taurus so sein?
Deutschland hätte mit unseren Partnern zusammengehen und den Taurus gleichzeitig mit den britischen Storm-Shadow- und den französischen Scalp-Marschflugkörpern liefern sollen. Das haben wir verpasst, und es ist eine Abkehr von der bisherigen Linie, wonach wir alles im Gleichschritt mit unseren Verbündeten machen. Ich glaube nicht, dass es jetzt noch einen Richtungswechsel gibt. Scholz hat sich in eine Ecke manövriert.
Neben der Eskalationsangst heisst es auch immer wieder, Russland sei unbesiegbar. Verweise auf Napoleons Russlandfeldzug oder den Zweiten Weltkrieg werden angestellt. Ist da was dran?
Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Vaterländischen Krieg gleichzusetzen, ist kompletter Unfug. Schon nur, weil im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Ukrainer für die Sowjetunion gestorben sind. Putin hat grosse Probleme, den Krieg am Laufen zu halten. Er hat die Gefängnisse geleert und muss Unsummen bezahlen, um Soldaten an die Front zu bringen. Dass die Russen sagen, wir kämpfen bis ans Ende der Welt, ist Quatsch. Wir sprechen von einem totalitären Regime, wo man eingesperrt wird, wenn man sich mit einem weissen Blatt Papier auf die Strasse stellt. Wenn Putin wirklich so stark wäre, warum hat er dann seit über zwei Jahren in der Ukraine nichts erreicht? Er kann den Krieg nur noch führen, damit Krieg ist. Gewinnen kann er ihn nicht.
Was würde eigentlich passieren, wenn Putin eine Atomwaffe einsetzen würde?
Die Wahrscheinlichkeit ist gleich null. Das wäre Putins Untergang und das weiss er. Selbst wenn Putin erwägen würde, eine kleinere Atombombe einzusetzen, gäbe es doch einen Tag danach. Dann wäre Russland komplett isoliert. Alle verbliebenen Partner wie China würden abspringen. Die Kosten stünden in keinem Verhältnis zum Nutzen, zumal der Einsatz einer taktischen Atomwaffe noch lange nicht heissen würde, dass der Krieg gewonnen wäre. Die Atomwaffen haben für Putin nur einen Wert, wenn er eine Drohkulisse aufbauen und seine Psycho-Spiele spielen kann, womit er leider Erfolg hat. Putin hat weder einen «Ende der Welt»- noch einen «Ende des Krieges»-Knopf.
Nehmen wir an, die Ukraine schafft es, Russland militärisch unter Druck zu setzen und zu Verhandlungen zu zwingen. Wie könnte eine Verhandlungslösung aussehen? Gibt es ein Beispiel aus der Geschichte?
Historische Vergleiche sind immer schwierig. Aber vielleicht lohnt es sich, die Geschichte Deutschlands anzuschauen. Wie bei Westdeutschland müsste eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als glaubhafte Sicherheitsgarantie Teil des Friedens sein. Gleichzeitig müsste eine Perspektive entwickelt werden für die Gebiete, die die Ukraine temporär wohl noch nicht kontrollieren könnte. Dazu gehört, dass die Menschen, die dort leben, weiterhin Ukrainer bleiben können.
Sie sprechen vom Modell DDR?
Oder denken Sie an das Saarland, das nach dem Zweiten Weltkrieg und beim Nato-Betritt Westdeutschlands 1955 nicht zu Deutschland gehörte und erst Jahre später wieder eingegliedert wurde. Bei der DDR war der entscheidende Punkt, dass West-Deutschland die Menschen, die auf diesem Gebiet leben mussten, die ganze Zeit weiter als Deutsche betrachtete. Nur so war später, als die Umstände es erlaubten, eine Wiedervereinigung möglich.
Die Schweizer Regierung unterstützt auch den Friedensvorschlag von China und Brasilien. Was halten Sie davon?
Die Unterstützung der Schweiz für diesen Friedensplan, wenn man das überhaupt so nennen kann, halte ich für voreilig. Brasilien und China beziehen die Ukraine nicht ein, achten in dem Vorschlag die Charta der Vereinten Nationen nicht und sind von niemandem legitimiert. Besser wäre es, Russland in den auf dem Bürgenstock begonnenen Prozess einzubeziehen. (aargauerzeitung.ch)
Lassen wir die Ukrainer endlich das volle Potential der westlichen Waffen ausnutzen und schon bald wird sich das Blatt zu ihren Gunsten drehen.
Das seit 2014 erbeutete Gebiet ist grösser als die Schweiz.