Angefangen hat es 1987 mit dem Buch «The Rise and Fall of the Great Powers» von Paul Kennedy. Darin stellte der amerikanische Wirtschaftshistoriker die These auf, wonach Supermächte die Tendenz haben, sich zu weit auszudehnen und damit ihren Untergang einzuleiten. Auch die USA seien im Begriff, dies zu tun, warnte Kennedy schon damals.
Der Sieg im Kalten Krieg über die Sowjetunion hat den Kassandra-Rufern vorübergehend den Wind aus den Segeln genommen. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 füllen Bücher über den Zerfall der Supermacht USA wieder ganze Bibliotheken. Mit seinem Buch «Der Westen im Niedergang» steht Emmanuel Todd daher in bester Gesellschaft. Er kann sich höchstens rühmen, eine besonders dämliche Variante dieser Mär verfasst zu haben.
Todd ist ein französischer Historiker und Anthropologe und ist am Institut national d’études démographiques in Paris tätig.
Er stellt seine These auf zwei Beine: auf die Familienstruktur und auf den Niedergang des Protestantismus. Bei der Familie unterscheidet er zwischen der paternalistischen Variante – der Vater regiert allein und autoritär – und der egalitären Variante. Die erste Variante nennt er kommunitär, sie ist vor allem in Staaten wie Russland und China heute noch vertreten. Die egalitäre Variante hingegen findet man im Westen, primär in den USA und im Vereinigten Königreich.
Der Zerfall des Protestantismus ist für Todd der hauptsächliche Grund für den Zerfall der westlichen Nationen. Er unterscheidet dabei drei Stufen: Intakter Protestantismus, Zombie-Protestantismus (die Menschen tun nur noch, als ob) und Null-Protestantismus, der zu einem allgemeinen Nihilismus ausartet. Diesen Zustand haben die meisten westlichen Länder, insbesondere die USA, bereits erreicht.
Egalitäre Familie und Null-Protestantismus ergänzen sich gegenseitig. Todd erklärte daher unumwunden: «Der Nationalstaat existiert im Westen nicht mehr.» Europa sei zu einer Marionette der USA geworden, und die USA werden von einer Elite regiert, die sich vollkommen von den Interessen der Menschen entfernt hat. «Heutzutage ist das Dorf Washington nicht mehr als eine Ansammlung von Individuen, die jeglicher gemeinsamer Moral entbehren», so Todd.
Für den vermeintlichen Niedergang der amerikanischen Wirtschaft führt Todd die üblichen Verdächtigen ins Feld: das Auslagern der Wirtschaft in die Niedriglohnländer und die Abhängigkeit vom Dollar. Beides führt gemäss Todd dazu, dass «die USA in der derzeitigen Situation viel riskieren. Ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom Rest der Welt ist immens geworden». Er geht gar so weit, dass er die Situation der USA mit derjenigen Deutschlands in den Dreissigerjahren vergleicht. «In beiden Fällen funktioniert das politische Leben ohne Werte, es ist nichts als eine Bewegung mit Tendenz zur Gewalt», stellt er fest.
Die westeuropäischen Staaten würden sich nicht nur in Abhängigkeit der USA befinden, sondern ebenfalls in verschiedenen Stadien der Dekadenz. Die Einzelheiten können wir uns ersparen. Erwähnenswert ist allenfalls, dass in den skandinavischen Ländern sogar der Feminismus als Sündenbock herhalten muss. Dass die EU ein zum Untergang verurteiltes, bürokratisches Monster ist, versteht sich von selbst.
Ganz anders steht gemäss Todd Russland da. Es hat angeblich unter Wladimir Putin zu neuer Stabilität, ja zu neuer Stärke gefunden, denn es hat nicht nur einen grösseren Anteil an Menschen mit Hochschulbildung, die sich für ein Ingenieurstudium entscheiden, es verfügt auch über eine Gesellschaft, die geschlossen hinter ihrem Präsidenten steht. «In Russland gibt es genügend kommunitäre Werte, die weiterbestehen (…), damit das Ideal einer kompakten Nation überlebt und eine besondere Form des Patriotismus wieder aufleben kann», so Todd.
Damit kommt der französische Historiker zu einer neuen Definition der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland. Sie lautet wie folgt: «Im vorherrschenden Denken deklariert als Kampf liberaler Demokratien des Westens gegen russische Autokratie, wird er nun zur Konfrontation zwischen den liberalen Oligarchen des Westens und der autoritären russischen Demokratie.» (Was für ein Begriff!)
Der Krieg gegen die Ukraine habe den Gegensatz zwischen dem dekadenten Westen und dem wieder erstarkten Russland ins grelle Scheinwerferlicht gezerrt – und was den Ausgang dieses Krieges betrifft, besteht für Todd kein Zweifel. «Die Vereinigten Staaten werden diesen Krieg verlieren, weil ihre industriellen und militärischen Mittel gegen ein wieder erstarktes Russland unzureichend sind», hält er unmissverständlich fest.
Falls jemand der westlichen Propaganda Glauben geschenkt haben sollte, wonach die russische Armee diesen Krieg mit einer sogar gegenüber den eigenen Soldaten zynischen «Fleischwolf»-Taktik mit bis zu 1000 Gefallenen täglich führt, wird er von Todd eines Besseren belehrt. «Im Gegensatz zu dem, was überall zu hören war, hat sich die russische Armee für einen langsamen Krieg entschieden, um mit Menschenleben zu haushalten», so Todd. (Kein Witz!)
Was sind die Schlussfolgerungen, die der französische Historiker aus seiner Analyse zieht? Es ist der feuchte Traum aller Neofaschisten und Alt-Stalinisten: Deutschland soll sich von der Abhängigkeit der USA lösen und sich mit Russland verbünden. «Sie (Deutschland und Russland) können nicht mehr gegeneinander Krieg führen», so Todd. «Ihre wirtschaftlichen Spezialisierungen ergänzen sich gegenseitig. Früher oder später werden sie kollaborieren.»
Angesichts der Tatsachen, dass die amerikanische Wirtschaft die Pandemie am besten verkraftet hat und heute so stark dasteht wie schon lange nicht mehr; angesichts der Tatsache, dass die russische Wirtschaft vor allem vom Phänomen eines «Kriegs-Keynesianismus» profitiert, der nicht nachhaltig sein dürfte; und angesichts der Tatsache, dass die aktuelle Bilanz von Putins grausamem Aggressionskrieg alles andere als positiv ist – die NATO wurde um zwei Länder erweitert, der Blutzoll auf dem Schlachtfeld ist horrend –, ist Todds These, milde ausgedrückt, sehr steil.
Typisch auch, was der französische Historiker ausblendet. Mit keinem Wort erwähnt er, dass sich Russland in eine fatale Abhängigkeit von China begeben hat, und dass die famose russische Armee auf die Lieferungen aus Nordkorea und dem Iran angewiesen ist.
Aber sei’s drum. In einem Punkt hat Todd recht. Der liberale Westen ist tatsächlich bedroht. Allerdings weniger von der eigenen Dekadenz, sondern von einem Phänomen, das die amerikanisch-polnische Historikerin Anne Applebaum in ihrem jüngsten Buch als «Autocracy Inc.» bezeichnet, als Aktiengesellschaft der Autokraten.
Applebaum geht davon aus, dass die Ideologie in der Geopolitik ausgedient hat. Hatte der Kommunismus einst zumindest so getan, als ob er eine bessere Welt in Aussicht stellen würde, ist heute blanker Zynismus allgegenwärtig. Ob links oder rechts, ob sozialistisch oder kapitalistisch – die neuen Autokraten lässt dies kalt.
«Die Mitglieder der Autokraten-AG kümmern sich nicht mehr darum, wer sie kritisiert», stellt Applebaum fest. «Einige, wie etwa diejenigen in Myanmar oder Simbabwe, stehen für nichts ausser Selbstbereicherung. Die Führer des Irans tun Kritik als Folge westlicher Ungläubiger ab. Die Führer von Kuba und Venezuela behandeln Kritik als imperialistische Verschwörung gegen sie. Die Führer von China und Russland haben ein Jahrzehnt damit verbracht, die Menschenrechte zu verunglimpfen und zu erklären, dass westliche Ideen für ihre Länder nicht geeignet seien.»
So unterschiedlich ihre Weltanschauungen sein mögen, vereint werden die Autokraten durch ihre Gier. «Kleptokratie und Autokratie gehen Hand in Hand, bestärken sich gegenseitig und unterwandern alle Institutionen, die sie berühren», so Applebaum.
Nicht nur die Gier vereinige die Autokraten, sondern auch ihr Hass auf den Westen, insbesondere die USA. Ihr Ziel sei es, die liberale Weltordnung ein für alle Mal zu stürzen. Sie täten dies im Namen einer «multilateralen» Weltordnung. Wie zynisch dieser an sich harmlose Begriff ist – wer kann schon etwas dagegen haben, dass die Welt nicht mehr von Supermächten dominiert wird –, zeigt sich etwa darin, dass Nordkorea sich bereit erklärt hat, zusammen mit Russland «eine neue, multilaterale Weltordnung» zu errichten.
Um dieses Ziel zu erreichen, seien die neuen Autokraten bereit, ihre Ideologien über Bord zu werfen und zusammen gegen den Westen zu kämpfen. Applebaum warnt daher vor «einer Welt, in der Autokratien zusammenarbeiten, um an der Macht zu bleiben, zusammenarbeiten, um ihr System anzupreisen und zusammenarbeiten, um die Demokratien zu beschädigen. Das ist keine weit in der Zukunft liegende Dystopie. Das ist die Welt, in der wir gegenwärtig leben.»
Jetzt ist aber erst mal wichtig, dass sowohl Putin von der Bildfläche verschwindet und auch Trump endlich mit seiner Wahlniederlage ins Gefängnis kommt.