Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb ein berühmter deutscher Soziologe eine Herrschaftsform. Sein Name dürfte insbesondere Studierenden der Wirtschafts- und Sozialwissenschafter bekannter sein als die Art zu regieren, die Max Weber damals formulierte.
Weber glaubte allerdings sogar selber, dass diese Herrschaftsform wohl bald auf dem Scheiterhaufen der Geschichte landen würde – zu laienhaft, zu erratisch und zu unpassend sei sie für die komplexe moderne Welt.
Über 100 Jahre später. Max Weber ist längst tot, und die grösste und älteste Demokratie ist gefährlich kurz davor, sich selbst abzuschaffen. Oder wie sonst soll man es nennen, wenn der US-Präsident sich über Gesetze, Statuten und sogar die Verfassung hinwegsetzt? Wenn seine Administration Tausende von Staatsangestellte entlässt, mutmasslichen Insiderhandel betreibt, die Meinungs- und Pressefreiheit graduell einschränkt und Diktatoren hofiert, während demokratischen Freunden gedroht, sie brüskiert und zu Feinden gemacht werden?
Ja – wie genau soll man das nennen?
«Es gibt eine Antwort», schrieb die renommierte amerikanische Zeitschrift The Atlantic kürzlich. Donald Trump ist dabei, eine Herrschaftsform zu installieren, dessen ursprüngliche Form Max Weber vor hundert Jahren beschrieb – und von der er dachte, dass sie der modernen Welt niemals standhalten würde: der Patrimonialismus.
Patrimonialismus zu verstehen, schreibt Jonathan Rauch, Autor und Atlantic-Journalist, sei entscheidend, um ihn besiegen zu können. Und: Er hat eine fundamentale Schwäche, die sich Trumps Gegnerinnen und Gegner zunutze machen sollten. Darum geht es:
Es ist wohl einfacher, zunächst zu definieren, was Patrimonialismus nicht ist: Es handelt sich weder um klassischen Autoritarismus, noch um eine Autokratie, eine Oligarchie oder eine Monarchie. Zudem muss ein patrimoniales System nicht zwingend anti-demokratisch sein – oder zumindest nicht zu Beginn.
Die Antithese zu Patrimonialismus ist nämlich nicht die Demokratie, so Jonathan Rauch, sondern die Bürokratie.
Aber nochmal zurück zum deutschen Soziologen: Vor dem Ersten Weltkrieg versuchte Max Weber, zu definieren, woher ein Staatenlenker seine Legimitation holt, warum ihm die Leute überhaupt «gehorchen». Die eine Möglichkeit: eine sogenannt rational-legale Herrschaft – ein System, bei dem eine Herrschaft legitimiert wird durch Gesetze, Normen und Regeln, an die das Volk glaubt. Diese wiederum sind in einem bürokratischen Apparat verankert. Personen, welche die Befehlsgewalt ausüben, werden aufgrund gesetzlich geregelter Verfahren ernannt oder gewählt.
Diese Art von Regierung beschreibt den modernen Staat und wird heute für viele Demokratien – einschliesslich der USA – als selbstverständlich genommen.
Demgegenüber steht eine andere, eigentlich deutlich ältere Art von Legitimität: diejenige eines alleinigen Herrschers, der von Weber als eine Art «guter Vater» beschrieben wurde. Man gehorcht ihm, weil er zum Beispiel einer uralten Familie angehört, oder weil er schon immer da war.
Für einen solchen Herrscher, der sich nicht selten als Personifikation und Behüter seines Staates sieht, existiert der Staat nicht als eigenständige Entität – sondern lediglich als Erweiterung seines eigenen «Haushaltes», oder als eine Art eigenes Unternehmen. «Im Patrimonialismus sind Staat und Staatenlenker eins», bringt es ein US-Politologe gegenüber dem Spiegel auf den Punkt.
Ab den 1980er-Jahren wurde übrigens besonders im deutschen Sprachgebrauch das Wort Neopatrimonialismus benutzt, um mit dieser Form des Regierens statt Könige und Zaren auch moderne Staatsoberhäupter zu beschreiben. Doch die Mechanismen blieben dieselben: «Alle Regierungsformen können damit infiziert werden, indem der Patrimonialismus unpersönliche, formelle Autoritätslinien durch personalisierte, informelle ersetzt», so Rauch vom Atlantic.
Mit anderen Worten: Was in einem solchen Staat zählt, sind nicht Erfahrung, Ausbildung, Karriere oder Können, sondern: Beziehungen. Eine patrimoniale Herrschaft basiert auf individueller Loyalität und Verbindungen – nicht selten zu Familienmitgliedern –, auf der Belohnung von Freunden und der Bestrafung von Feinden. Patrimonialismus sei damit nicht nur in Staaten, sondern auch bei Stämmen, Strassenbanden und kriminellen Organisationen zu finden, erklärt Rauch. Man denke da zum Beispiel an den «Paten» und die Mafia.
Als die berühmteste patrimoniale Regierung gilt diejenige von Wladimir Putin in Russland:
Doch Putin machten es mit der Zeit auch andere Regierungen gleich: Ungarn unter Viktor Orbán, Polen (vor dem heutigen Regierungschef Donald Tusk), die Türkei unter Erdogan oder Indien unter Narendra Modi.
Interessant dabei ist die gute Vernetzung unter den patrimonialen Herrschern: Mit der Zeit hat sich eine Art Syndikat krimineller Familien entwickelt, die sich gegenseitig Hilfe leisten und einander Macht und Ressourcen zusichern. Die klare Rolle Putins: der oberste Mafiaboss, der «capo di tutti capi».
In einem patrimonialen System werden private und öffentliche Sphäre vermischt. Was Trump in seiner ersten Amtszeit angedeutet hatte, zeigt sich seit dem 20. Januar 2025 völlig zweifellos: «Er kennt keinen Unterschied zwischen öffentlich und privat, legal und illegal, formell und informell, national und persönlich», so Journalist Rauch. Und: Die Präsidentschaft selbst ist eine einzige grosse Geschäftsgelegenheit.
Einige Beispiele:
Die Bürokratie als möglicher Stolperstein zur Erreichung der eigenen Ziele wird im Patrimonialismus dezimiert und weitestgehend mit Loyalisten ersetzt. Dieser Punkt ist übrigens eines der Hauptmerkmale, das eine patrimoniale von einer autoritären Herrschaft, oder einer Diktatur, unterscheidet. So herrschte beispielsweise unter dem Nazi-Regime oder während der Sowjetunion enorme Bürokratie.
Jonathan Rauch: «Wenn Autoritäre die Macht übernehmen, festigen sie ihre Herrschaft, indem sie Strukturen wie Geheimpolizei, Propagandaagenturen, militärische Sondereinheiten und Politbüros schaffen. Sie legitimieren ihre Macht mit Gesetzbüchern und Verfassungen.»
Unter Trump und Co. hingegen wird der Staat dezimiert und bürokratische Prozesse werden geschwächt. So setzt der US-Präsident durch das schlichte Regieren per Dekret einfach mal die Wirksamkeit des Parlamentes aus. Als Begründung für solche Aktionen wird der Staat oft schlechtgemacht – Stichwort: ein «deep state», ein angeblich korrupter Staatsapparat, der beseitigt werden muss. Das Verhältnis zwischen «Herrscher» und «Untertanen» basiert dabei nicht auf Hierarchie oder Gesetzen, sondern lediglich auf persönlichen Beziehungen.
Sowieso gilt: Bist du ein Feind und stellst dich mir in den Weg? Dann mach' ich dich fertig. Bist du ein Freund – oder verhältst dich zumindest als solcher? Dann darfst du auf meine Gunst zählen (und dir damit viele, auch wirtschaftliche, Vorteile erhoffen).
Beispiele:
John Bolton, Trumps ehemaliger Sicherheitsberater, brachte es einmal folgendermassen auf den Punkt:
Entgegen Max Webers Prognosen ist der Patrimonialismus also alles andere als ausgestorben. Und trotzdem lag Weber nicht komplett daneben, als er dachte, dass eine patrimoniale Herrschaft der modernen, komplexen und kapitalistischen Welt kaum standhalten könnte. Der Grund: Sie hat zwei entscheidende Schwächen.
Zum einen ist da die schiere Inkompetenz. Sie resultiert unter anderem dadurch, dass fähige Bürokraten durch sehr viel unfähigere ersetzt wurden. Zwei jüngste Beispiele aus Trumps USA sind die angebliche Entlassung von Mitarbeitenden, die für den Schutz von Atomwaffen und die Eindämmung der Vogelgrippe zuständig sind. Langfristig kann ein solcher Staat sowohl militärisch als auch ökonomisch kaum mit einer funktionierenden Demokratie mithalten: zu erratisch und unvorhersehbar sind der Staatslenker und seine Entscheidungen, zu schwach die Leistungen, die der Staat bereitstellen sollte. Der Wirtschaft werden kaum mehr förderliche Institutionen bereitgestellt – stattdessen wird sie geschwächt und «gemolken».
Die zweite, wohl noch grössere Schwäche, ist die grassierende Korruption. Denn, so Jonathan Rauch: «Patrimonialismus ist definitionsgemäss korrupt, denn seine Daseinsberechtigung besteht in der Ausbeutung des Staates zur Erzielung politischer, persönlicher und finanzieller Vorteile.»
Schon jetzt sind Experten, Gerichte und Medien damit beschäftigt, herauszuarbeiten, welche Aktionen von Trump, Musk und Co. überhaupt legal sind. Und Larry Diamond, berühmter US-amerikanischer Stanford-Soziologe, sagt wenig Erfreuliches voraus:
Wie bereits erwähnt, schliessen sich Demokratie und Patrimonialismus zumindest zu Beginn nicht aus. Die meisten der heutigen derartigen Staatsoberhäupter wurden demokratisch gewählt. Und zum Teil sind sie auch weit nach ihrer Wahl noch unter dem Volk beliebt.
Entscheidend ist dabei aber, dass die Rhetorik stimmt: «Sobald sie an der Macht sind», erklärt der Autor Rauch, «kleiden sich Patrimonialisten gerne in der Rhetorik der Demokratie.» Dazu gehört die Geschichte, das Volk vom «deep state» zu befreien, oder eine angeblich gefährdete Meinungsfreiheit wiederherzustellen – Hauptsache, der Eindruck bleibt bestehen, die Regierung stelle sich in den Dienst der Demokratie und der einfachen Leute.
Der Wählerschaft erklären zu wollen, dass das so nicht stimmt, bringt dabei wenig. MAGA-Anhänger reagieren bislang bekanntlich wenig auf «Achtung, die Demokratie ist gefährdet!»
Was also sollten Gegnerinnen und Gegner von patriarchalen Herrschern tun? Jonathan Rauch sagt: alle Aufmerksamkeit auf ihre grösste Schwäche – die grassierende Korruption:
Rauch begründet dies damit, dass Korruption kein abstraktes Konzept wie «Demokratie» oder «Rechtsstaatlichkeit» ist – sondern schlicht die Eingebung, dass der Machthaber nicht für das Volk arbeitet, sondern dagegen. Wer wissen will, ob es funktioniert, müsse sich nur die Kampagne gegen Hillary Clinton anlässlich der US-Wahl 2016 anschauen: «Republikaner und Trump haben einen kleinen Verfahrensfehler (die Nutzung eines privaten Servers für geheime E-Mails) zu einem Skandal von Weltrang hochstilisiert.» Trump und seine Loyalisten beschimpften Clinton unablässig als «die korrupteste Kandidatin aller Zeiten». Und es funktionierte: Die blosse Wiederholung überzeugte zahlreiche Wählerinnen und Wähler, dass an den Vorwürfen was dran sein müsse.
Eine koordinierte, strategische Kampagne, die auf Anti-Korruption aufbaut – genau dessen, so Rauchs Fazit, hätten sich die Demokraten bislang zu wenig bemüht. Nun ist es nach wie vor wichtig, dass Trumps Gegnerinnen und Gegner ihm eine bessere, gerechtere Politik mit guten Vorschlägen entgegenstellen sollten. Doch sie befinden sich in einer Zeit, in der sie politisch gerade kaum über Macht verfügen – viele wirken geradezu verstummt oder schlicht gelähmt. Rauch erinnert: «Aber gerade jetzt, wo Trump der ‹capo di tutti capi› ist, legt die Geschichte der Patrimonialherrschaft nahe, dass ihr effektivster Ansatz darin besteht, die Botschaft zu verkünden, dass er korrupt ist.»
Material, um dieses Narrativ bedienen zu können, dürfte es in den nächsten vier Jahren mehr als genug geben.
Ich finde jedoch die Einordnung von Trumps Regentschaft in einen Begriff komplett zweitrangig!
Man muss sich ja nur anschauen, was dort passiert, um zu begreifen, was der komplett durchgeknallte Narzisst vorhat: er folgt dem 900-Seiten langen Plan 2025.
Konsequent und Schritt für Schritt. Dieser Plan war schon vor seiner Wahl publik - nur hat ihn leider niemand ernst genommen.
Sein Ziel ist es, dass es in 4 Jahren keine Wahlen mehr gibt.
Und wenn die Dems und Oppositionellen sich grösstenteils verstecken, wird ihm das auch gelingen!
Das Ergebnis ist pure Anarchie.Es gibt keine Regeln mehr ausser dem "Recht des Stärkeren+Mächtigeren).Die Menschen murren+protestieren wie beim Erdbeben in der Türkei,aber letztlich bleibt alles beim Alten.Ist die Demokratie erst einmal geschleift,ist ein Weg zurück sehr schwer.Werden wir in USA in 4Jahren erleben.